In seiner Fernsehansprache verteidigte der US-Präsident den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan. Die Szenen seien herzzerreißend, aber für seine Regierung habe es, wie Biden es fasste, nur die kalte Realität gegeben: die Wahl, die Vereinbarung, die sein Vorgänger mit den Taliban abgeschlossen hatte, umzusetzen - oder den Konflikt zu eskalieren und erneut Tausende US-Soldaten in ein drittes Jahrzehnt des Konflikts in Afghanistan zu schicken. Er stehe bedingungslos hinter seiner Entscheidung, den Abzug bis Ende August abzuschließen, betonte der US-Präsident. Es gebe keinen guten Moment, um die US-Soldaten aus Afghanistan abzuziehen.
Biden macht afghanische Führung verantwortlich
Die US-Botschaft war am Wochenende hektisch an den Kabuler Flughafen verlegt worden. Dorthin hatten sich auch Tausende von Afghanen gerettet. Die Bilder von Dutzenden, die sich verzweifelt an US-Transportflugzeugen versuchten festzuhalten, während vor dem Flughafen schon die Taliban patrouillieren, genau diese Bilder hatte die US-Regierung um jeden Preis vermeiden wollen. Joe Biden, der immer wieder erklärt habe, es werde nicht zu Szenen kommen wie bei der Evakuierung der US-Botschaft in Saigon 1975, räumte gestern ein, der Zusammenbruch des Landes sei schneller gekommen, als die Regierung gedacht habe. Biden schob gestern die Schuld dafür der afghanischen Führung zu. Sie habe nicht ernsthaft verhandeln wollen und sei dann geflüchtet. Soldaten der Vereinigten Staaten sollten nicht kämpfen und sterben in einem Krieg, den die afghanischen Streitkräfte selber nicht führen wollten, sagte der US-Präsident.
Nicht unbegrenzt weiterkämpfen
Er erinnerte an Hunderte von Milliarden Dollar und andere Unterstützung in den vergangenen 20 Jahren. Wer ihm jetzt vorwerfe, dass er die US-Soldaten nicht hätte abziehen dürfen, den frage er, so Biden, wie viel mehr Generationen von US-Töchtern und -Söhnen er noch in den afghanischen Bürgerkrieg schicken solle, wie viel mehr Leben und Grabsteine der Einsatz wert sei. Er, so der US Präsident, werde die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, unbegrenzt weiter zu kämpfen.
Nachdem US-Truppen über den Tag gestern das Flugfeld in Kabul geräumt und den Flughafen weitgehend übernommen hatten, konnten in der Nacht zwei Militärmaschinen mit US-Kampftruppen landen. Bis zu 6.000 US-Soldaten sollen in den kommenden zwei Wochen die Evakuierung von US-Bürgern, Botschaftspersonal und gefährdeten afghanischen Ortskräften, insbesondere Dolmetschern und ihren Familien, bis zum 31. August gewährleisten, sagte gestern John Kirby, der Sprecher des Pentagon. Kirby sprach von 5.000 Menschen pro Tag, vielleicht sogar mehr, die ausgeflogen werden könnten – falls das Wetter und die Sicherheitslage entsprechend viele Flüge erlaubten.
Ortskräfte im Stich zu lassen verhindert zukünftige Hilfe Einheimischer
US-Präsident Biden warnte gestern die Taliban, die Evakuierungen vom Kabuler Flughafen nicht zu behindern. Andernfalls würden die Vereinigten Staaten mit allen Mitteln reagieren. Doch diese Drohung klingt für viele in den USA hohl angesichts der Bilder der letzten Tage. Afghanistan-Veteranen, aber auch US-Soldaten früherer Kriege reagieren besonders entsetzt darauf, dass nun viele afghanische Ortskräfte einem unsicheren Schicksal überlassen werden könnten. Das werde weitreichende Folgen haben, warnte Steven Miska, ein früherer Brigadegeneral und Experte für die Bedeutung weicher Netzwerke für Armeen. Kein Einheimischer werde US-Soldaten nun noch irgendwo auf der Welt helfen.
Wenig geplanter Abzug schadet den Demokraten
Kritisch haben auch viele Politiker der regierenden Demokraten auf die überstürzten Aktionen der letzten Tage reagiert. Das Weiße Haus hat inzwischen einen Waschzettel verteilt mit Antwortvorschläge auf harte Fragen. Umfragen zufolge unterstützen die allermeisten US-Bürger den Abzug der US-Truppen und das hatte die US-Regierung in ihren Plänen immer einkalkuliert. Aber dass die militärische Großmacht nun auf so demütigende und offenbar wenig geplante Weise Afghanistan verlässt, das dürfte Biden und den Demokraten schaden. Alte Traumata werden wieder wach. Ein Veteran fasste es so: Wir haben gewusst, dass wir den Krieg verloren haben, aber es jetzt so deutlich gezeigt zu bekommen?!