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Uwe Kopf: "Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe"
Von der Bockigkeit des Herzens

Tom hat es nicht leicht. Aufgewachsen im Nachkriegsdeutschland, mit Mutter und Großmutter, die vom Krieg traumatisiert sind, gelingt es ihm nicht, seine moderat gesteckten Lebensziele zu erreichen. Trotz aller Tragik schafft es der Autor Uwe Kopf, Komik zu erzeugen und wie nebenbei die Geschichte der Bundesrepublik mit zu erzählen.

Von Martin Becker |
    DEU; Deutschland, Hamburg 23.11.2016: Hamburg St. Pauli, Reeperbahn. Der Beatles-Platz ist ein oeffentlicher Platz in Hamburg-St. Pauli im Verlauf der Reeperbahn und der Einmuendung Grosse Freihei. Am Rand des Platzes sind Silhouetten-Skulpturen der Beatles-Musiker aufgestellt. Â DEU Germany Hamburg 23 11 2016 Hamburg St Pauli Reeperbahn the Beatles square is a Public square in Hamburg St Pauli in History the Reeperbahn and the Einmuendung Size at Edge the Place are Silhouettes Sculptures the Beatles Musician up â
    Uwe Kopfs Roman sei ein Buch, das Superlative verdiene, und möglichst viele Literatur-Preise, meint DLF-Rezensent Martin Becker. (imago / Arnulf Hettrich)
    "Das Leben fällt mir auf die Nerven. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mir mein Leben auf die Nerven fällt." (S. 278)
    Das Ende der Geschichte ist von der ersten Seite an klar: Der Protagonist Tom, wegen seiner langen Haare und seiner sanften Art "Jesus" genannt, bringt sich um. Er erhängt sich im Mai 1998 in der "Art der Greise", nachdem er zuvor nochmals Wäsche gewaschen hat. Auf seiner Beerdigung soll, so sein Wunsch, das "Lied der Schlümpfe" laufen. Ansonsten hat Tom der Welt vor seinem Suizid nicht mehr viel mitzuteilen:
    "Nachmittags an seinem Sterbetag hat Tom, dieser 40-jährige Junge mit den Lucky-Luke-Beinen, noch mal seine Kinderschrift gebraucht und auf einen Zettel geschrieben, was sein Leben taugt, die Polizei wird den Zettel später finden und von einem Bilanzselbstmord reden: Links auf dem Zettel stehen die Wünsche, nämlich Eva, Respekt, Sinn, Ruhe, rechts steht der Zustand, das Erreichte – 'Nichts, da kommt nix mehr.'" (S. 6)
    Aufwachsen ohne feste Bindung zum Vater
    Nachdem also klar ist, was am Schluss von "Die elf der Gehirne der Seidenspinnerraupe" passiert, erzählt Uwe Kopf in seinem Roman das Leben dieses seltsam weichen und seltsam seltsamen Helden namens Tom: Vom Aufwachsen in Hamburg mit unterschiedlichen Männern, alle gänzlich ungeeignet als Väter und allesamt ebenso wie die Mutter und Großmutter traumatisiert vom Krieg, von ersten Besäufnissen und frühem Alkoholismus, an dem sich im Laufe der Jahrzehnte nichts Grundlegendes ändern wird, von Freunden, die irgendwann obdachlos werden und auf der Straße landen. Dieser Tom hat es nicht leicht und macht es sich zusätzlich schwer. Was er will, das weiß er nicht. Was er kann, das glaubt er nicht. Ja, das alles ist eigentlich zutiefst trist und zutiefst traurig. Aber es liest sich nicht so. Denn Uwe Kopf gelingt es, auch der schwärzesten Tragik immer ein Stück befreiender Komik abzupressen. So wird Tom täglich heimgesucht von Gedanken an das Ende. Er habe mal gelesen, dass der durchschnittliche Mann zweihundert Mal am Tag an Sex denken würde. Bei ihm hingegen sei es zweihundert Mal am Tag der Gedanke an den Tod.
    "An den Tod an sich, an meinen Tod, an den Tod anderer Menschen; den Tod meiner Mutter oder meiner Freunde, beispielsweise, habe ich so oft fantasiert wie den Tod des Bundeskanzlers Kohl, den Tod von Paul McCartney oder Nena oder sogar Franz Beckenbauer, aber Beckenbauer ist eigentlich der einzige Mensch, an dem meine Fantasie versagt." (S. 66f.)
    Geschichte einer prekären Existenz
    Dieser Tom ist einfach zu dünnhäutig für die Welt. So macht er als Heranwachsender nicht mit, als der Freund einen Frosch mit einem Strohhalm zum Platzen bringt und ihn auffordert, es auch zu tun – weil er Mitleid empfindet beim Blick in die Augen des gequälten Tiers. An anderer Stelle muss er erleben, wie ein Bekannter von ihm besoffen aus der fahrenden Bahn stürzt und stirbt. Als später seine Freundin Jenny das gemeinsame Kind abtreibt, zerbricht er fast daran. Und doch gibt es in dieser Geschichte einer prekären Existenz mit Gelegenheitsjobs und emotionaler Instabilität immer wieder rührende Momente. Auf einer Hamburger Minigolf-Anlage trifft der Protagonist beispielsweise auf seinen alten Freund Uwe, der mit Mitte 30 schon zwei Herzinfarkte hatte, eine Gitanes nach der anderen raucht und Bacardi-Cola wie Wasser kippt. Ein Meister im Minigolf, gelernter Werkzeugmacher, längst arbeitslos, dennoch zufrieden mit dem, was das Leben ihm lässt:
    "Du wirst es kaum glauben, Tom, aber mir geht's ganz gut, jedenfalls in der Saison. Ohne Minigolf ist's langweilig, aber ich habe immer eine Frau, manchmal sogar zwei Frauen. Wir reden viel miteinander, ich vergammel nicht vorm Fernseher."
    Respekt und Warmherzigkeit bei der Beschreibung der Figuren
    Der Respekt und die Warmherzigkeit bei der Beschreibung solcher Figuren sind es, die den Roman funkeln lassen. Von der Bockigkeit des Herzens, das einfach nicht aufhören will, trotz aller Widrigkeiten am Leben zu hängen, ist im Buch die Rede – man spürt sie ständig zwischen den Zeilen: Es wird zu viel getrunken, zu viel gelebt, zu viel gelitten.
    "Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe" will aber weit mehr sein als ein Roman über ein scheiterndes und doch exzessives Leben im kleinbürgerlichen Milieu: Das Buch ist gespickt mit popkulturellen Bezügen, Songtextfetzen und philosophischen, religiösen oder literarischen Exkursen. Niemals besserwisserisch oder aufgesetzt, sondern immer klug in den Erzählfluss eingebaut. Auch ein dezentes Wolf Biermann-Bashing gehört zum popkulturellen Pflichtprogramm. Unaufdringlich und geradezu wie nebenbei erzählt der Roman außerdem die Geschichte der BRD mit: Als Tom einmal erleben muss, wie sein bewunderter und für ihn so wichtiger, älterer Bruder Sören ihm mehr versehentlich auf einer Party die Freundin ausspannt und mit ihr ins Bett geht, ist das zufällig gerade die Nacht, als in Berlin die Mauer fällt. Oder an anderer Stelle erinnert sich Tom an eine Rückreise aus Polen in den Siebzigern, was dann wiederum zugleich zum Ausflug in den Deutschen Herbst wird:
    "Wir wussten nicht, dass die RAF gerade Hanns-Martin Schleyer entführt hatte – da standen Polizisten, supernervös, sie richteten ihre Maschinengewehre auf uns, ich hatte noch nie eine Waffe in echt gesehen, und nun so eine Situation. (...) Die Polizisten durchsuchten unsere Autos, kontrollierten unsere Pässe und führten Sören in eine Baracke, weil er auf seinem Reisepassfoto ein bisschen so aussah wie Andreas Baader. (...) Sören sagte, er habe den Polizisten zu erklären versucht, dass er nicht Andreas Baader sein könne, da Andreas Baader doch noch im Stammheimer Knast sitzt; die Polizisten brauchten wohl die zwei Stunden, um dieser Logik zu folgen." (S. 300f.)
    Debütroman eines gestandenen Autors
    Man merkt es schon nach wenigen Seiten: Der 1956 geborene Uwe Kopf, der im Januar diesen Jahres wenige Tage nach seiner Krebsdiagnose verstarb, war ein fantastischer und fanatischer Autor. Kein Wort zu viel, kein Satz zu wenig, keine Pointe an der falschen Stelle. Und wenn man beim Lesen mal den Eindruck von Schludrigkeit hat – dann kann man sich sicher sein, dass der Autor genau das bezwecken wollte.
    Uwe Kopf schrieb nicht nur messerscharfe Kolumnen und Porträts für viele Zeitungen und Zeitschriften – er redigierte auch die Artikel anderer Autorinnen und Autoren. Von 1990 bis 1996 arbeitete er für die Zeitschrift Tempo und war deren Textchef. Kurz nach seinem Tod kursierte in den sozialen Netzwerken eine alte Schreibmaschinenseite, auf welcher Uwe Kopf seine Schreibregeln dargelegt hatte, an die man sich bestenfalls halten sollte. Dazu gehörten für ihn neben dem Plädoyer zur Adjektivvermeidung und der Aufforderung, seinen Text stets auf ein Skelett zu reduzieren, auch so bemerkenswerte Schreibgebote wie:
    "Der Mensch wird nicht dadurch zum Filmkritiker, dass er einen Film nacherzählt – das kann meine Mutter auch." Nicht an alle Regeln hat sich Uwe Kopf selbst in seinem Debütroman gehalten – aber wenn, dann wird er sie mit einem schelmischen Lächeln gebrochen haben. Zum Beispiel auch die Anweisung, auf Genreausdrücke zu verzichten:
    "Bitte, bitte keine Rockschreibe oder sonstige Fachjargons! Wenn ein Musikkritiker von "Acts", "Frontmännern" oder "sägenden Gitarren" plappert, dann gehört er genauso gehauen wie der Filmkritiker, der von "atmosphärischer Dichte" oder "cineastischer Umsetzung" labert."
    Indizien für den autobiografischen Gehalt dieses Romans
    Diesen lakonischen Tonfall und Humor findet man oft in Uwe Kopfs Roman. Sogar Protagonist Tom bekommt irgendwann durch seinen Bruder die Chance, eine Musikkritik zu schreiben. Über die neue Platte von Bruce Springsteen. Es ist die vielleicht größte Gelegenheit, sein leeres Leben doch noch mit ein bisschen Sinn zu füllen. Aber über den ersten guten Satz seines Artikels kommt der ewig zaudernde Tom auch diesmal nicht hinaus. Dass Uwe Kopfs Bruder ebenfalls Tom hieß, dass auch er sich das Leben nahm, sind Indizien für den autobiografischen Gehalt dieses Romans. Entscheidend ist das aber nicht. Vielmehr ist erstaunlich, wie tief sich Uwe Kopf in die Verzweiflung eines Menschen hineingedacht hat, ohne in die Larmoyanz oder den Kitsch abzugleiten. Wie authentisch und schmerzlich es sich liest, als Tom die Liebe seines Lebens trifft und man von Anfang an ahnt, dass seine Eifersucht alles zerstören wird, ihn selbst eingeschlossen. So schaut er mit seiner so geliebten Freundin Titanic im Kino – und findet natürlich sich selbst, seine Freundin und ihren Ex-Freund darin wieder:
    "Jack, der nichts darstellt und nichts hat, und Rose, die was Besseres ist und Alles hat, aber einen Widerling heiraten soll und zuerst auch heiraten will, aber auf dem Schiff entscheidet sie sich für Jack und das Echte und gegen das Geld und das Falsche: Das passte doch total auf Eva und mich und John, dachte Tom und sagte es Eva, sie runzelte die Stirn, lachte dann und knuffte Tom in die Seite." (S. 286)
    Ein Buch, das Superlative verdient
    Nach gut 300 kolossalen Seiten nimmt die Geschichte noch eine Wende, die einem das Herz bricht. Das ist die Stelle, an der aus einem bis dahin klugen und fantastischen und großartigen Buch ein im wahrsten Sinne des Wortes ungeheuerlicher Roman wird. Uwe Kopf hätte diese Sätze wahrscheinlich stirnrunzelnd gestrichen, aber es geht einfach nicht anders: "Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe" ist mit seiner sprachlichen Präzision, seiner inhaltlichen Wucht und seinem tragikomischen Witz ein Buch, das Superlative verdient. Und möglichst viele Literatur–Preise, die an einen deutschen Debütautor posthum verliehen werden können.
    Uwe Kopf: Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe. "Tempo" im Hoffmann und Campe Verlag, 320 Seiten, 22€.