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Uwe Timm zum 75. Geburtstag
Die Zartheit des Konjunktivs

Von Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit hat Uwe Timm auch Überlegungen über fremdes und eigenes Schreiben angestellt. Anlässlich seines 75. Geburtstags versammelt der Band "Montaignes Turm" nun Essays aus den Jahren 1997–2014. Die Texte offenbaren, wie sehr Timms Poetologie mit "68" verwoben bleibt.

Von Anahita Babakhani und Christof Hamann |
    Der Schriftsteller Uwe Timm am 18.3.2015 beim Literaturfestival Lit.Cologne in Köln
    Der Schriftsteller Uwe Timm (dpa / picture alliance / Rolf Vennenbernd)
    Von Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit hat Uwe Timm poetologische Überlegungen angestellt zu eigenen Texten und zu denen anderer Autorinnen und Autoren verfasst. Der Band "Montaignes Turm" versammelt anlässlich seines 75. Geburtstags Essays aus den Jahren 1997–2014. Die Texte offenbaren, wie sehr wie sehr Timms Poetologie mit der 68er-Bewegung verwoben bleibt.
    Turm und Höhle - diese Räume sind entschieden von der Welt abgewandt. Während allerdings der erstere die Möglichkeit birgt, in die Welt hinauszuschauen und von ihr gesehen zu werden, ist im zweiten jede Verbindung gekappt. Höhlen können deshalb unsichtbar machen, als Versteck dienen, wofür Türme denkbar ungeeignet sind. Eine Ausnahme davon, schreibt Uwe Timm im Auftaktessay, bilde Michel de Montaignes Turm, in dem eine Bibliothek untergebracht war und der Montaigne zugleich auch Höhle gewesen sei: In diesem Turm habe er sich versteckt, um mit der Welt umzugehen, mit der griechisch-römischen Literatur ebenso wie mit seiner von Kriegen geprägten Gegenwart – umzugehen, indem er Essays schrieb. Dieses Schreiben charakterisiert Timm folgendermaßen:"Die Essais sind nicht systematisch auf eine Erkenntnisfindung ausgerichtet, sondern assoziativ, kreisend, fallen sich oft widersprechend ins Wort, ein gedankliches Schweifen durch die Buntheit der Welt, auch durch die der Lektüre, eine suchende registrierende Bewegung [...]. Der fragende, sich selbst befragende Türmer Montaigne."
    Eine solche Charakterisierung trifft nicht allein auf den französischen Intellektuellen des 15. Jahrhunderts zu. Auch Uwe Timm ist ein Türmer. In "Montaignes Turm" ebenso wie in den nachfolgenden neun Essays aus den Jahren 1997 bis 2014 befragt er einerseits fremdes und eigenes Schreiben. Andererseits schweift sein Nachdenken über die Literatur hinaus: etwa auf Besonderheiten der deutschen Sprache – ihren Klang, ihre Syntax, ihre Möglichkeit, Komposita wie das Hölderlin'sche "lustatmend" zu bilden – oder auch auf nationale Identitäten und wie vielschichtig, wie uneinheitlich sie sind.
    Ein lustvolles 'Zur-Sprache-Bringen'
    Im letzten und jüngsten Essay, er stammt aus dem vergangenen Dezember, verlässt Timm seinen in München gelegenen Lese- und Schreibturm. Gemeinsam mit einem Fernsehteam von ARTE reist der 74-Jährige in den Tschad, um dort, im Grenzgebiet zum Sudan, das Flüchtlingslager Breidjing zu besuchen. Er kritisiert die Flüchtlingspolitik europäischer Staaten, ihre Verantwortung dafür, dass das Mittelmeer ein "Friedhof" geworden sei, er kommentiert selbstkritisch den eigenen, zum Teil romantisch verklärten Blick auf die Fremde. Und er notiert kleine Beobachtungen und Erfahrungen: "Der Fahrer heißt Mohamed, ist um die dreißig Jahre alt. [...] Sein Französisch ist schwer verständlich, so wie es meines wahrscheinlich für ihn ist, aber immerhin erfahre ich, dass er drei Kinder hat und aus dem Norden des Landes kommt. Er hat die Angewohnheit, stumm die Lippen zu bewegen. Manchmal höre ich leise Laute. Zwölf Stunden, unterbrochen von zwei Pausen, aber dieses Schweigen, sein leises Gebrabbel, das sich später erklären wird, beschert mir eine wunderbare meditative Fahrt durch das weite Land."
    Das Attribut ‚wunderbar' taucht in den Essays Uwe Timms des Öfteren auf. In seinen Überlegungen zu den Gebrüdern Grimm zum Beispiel schreibt er: "In einem der Märchen gibt es einen Esel, der Goldstücke erbricht, wenn man das rechte Wort Bricklebrit ausspricht. So wird man in jene wunderbare Zeit der Kindheit geführt, wo die Dinge noch nicht durch Erfahrung und Zuordnung logisch erstarrt sind." An anderer Stelle verbindet sich das Wunderbare mit der Kraft der "Neugierde" sowie mit einem lustvollen 'Zur-Sprache-Bringen'. Diese spielerische Wandlung gegenwärtiger und vergangener Realitäten in Worte hat Timm in einer 1993 gehaltenen Poetikvorlesung den 'wunderbaren Konjunktiv' genannt und damit sein bis heute gültiges Konzept von Literatur auf den Punkt gebracht:
    "Man kann das schon bei Kindern beobachten, wenn sie aus Lust heraus hemmungslos schwindeln. Sie durchbrechen damit ja spielerisch den Druck der Notwendigkeit, dass alles so ist, wie es ist und vor allem: so sein soll. Es ist die phantasievolle Gegenwehr durch Erzählen, und so beginnt der wunderbare Konjunktiv. Es könnte auch anders sein. Darin liegt das utopische Moment von Literatur, und das ist ganz unabhängig von dem jeweiligen Inhalt."
    Seit seinem literarischen Debüt "Heißer Sommer" aus dem Jahr 1974 ist Uwe Timm verschiedentlich als kritischer Chronist der deutschen Geschichte bezeichnet worden. Immer wieder liegt der Fokus seiner literarischen Erinnerungsarbeit auf den Jahren der Studentenbewegung. Und wenn auch Timms eigenes Engagement in den Jahren 1967 und danach radikaler gewesen sein mochte als heute, so gilt er nach wie vor zurecht als politischer Autor, der gesellschaftliche Missstände – wie zum Beispiel die gegenwärtige europäische Flüchtlingspolitik – offen anspricht. Den Autor Uwe Timm jedoch auf diese gesellschaftskritische Seite zu reduzieren, würde ihm unrecht tun.
    "Schreiben ist Begehren"
    Bereits der Roman Morenga von 1978 dreht sich um den Wunsch nach einer erweiterten "Sinnenhaftigkeit". In der Legende "Der Mann auf dem Hochrad" von 1984 ist es die Ehefrau des Rad fahrenden Franz Schröters, die ebenfalls ein solches, um die vorletzte Jahrhundertwende revolutionäres Vehikel besteigen will, und zwar einzig und allein, weil sie Lust dazu hat. Seit den 1990er Jahren wird dieses nicht nur politische, sondern vor allem sinnliche Sprechen auch in Timms Essays und Poetikvorlesungen reflektiert, so besonders offensiv in "Montaignes Turm": Immer wieder kehrt das Nachdenken darin zu den Qualitäten des 'sich Wunderns' und des 'Staunens' zurück. Immer wieder trifft es auch auf ein vielfältiges, weder auf eine bestimmte Person noch auf eine bestimmte Sache fixiertes Begehren, "das über jeden bloßen Zweck und Nutzen hinausführt".
    "Schreiben ist Begehren. Es ist der Versuch sich sprachlich den Dingen anzunähern, auch wenn man weiß, dass die Kluft zwischen ihnen und der Sprache unüberwindbar ist. Sie sind ganz fern, aber sie kommen mir nahe, und damit erfahre auch ich etwas über mich. Gerade dann, wenn sich die Sprache entzieht, weigert, verweigert. Das bedeutet Arbeit, das Schreiben und Umschreiben. Aber wie lustvoll ist es, wenn man sagen kann, es ist gelungen, es ist gut. Ob es andere dann auch gut finden, ist eine andere Frage."
    Der Türmer Timm
    Das sprachlich ausgedrückte Begehren benötigt ein Gegengewicht: das handwerkliche Können. Das Staunen über die Welt, das Begehren neuer Eindrücke oder neuer Sätze kann weder ohne gründliche Kenntnis der Grammatik noch des Wissens über Werke von verstorbenen und lebenden Schriftstellern in Literatur verwandelt werden. Einer seiner Essays ist denn auch überschrieben mit "Kunst und Handwerk". Übung, Wiederholung, Genauigkeit würden die Basis für ein literarisches Schreiben bilden, das sich darüber hinaus durch Abwandlung, Neufindung, Kombinatorik auszeichne. Staunenswert ist, wie behutsam, fragend Timm sich dem zarten Konjunktiv Heinrich von Kleists, der musikalischen Sprache Wolfgang Koeppens oder Thomas Manns geschmeidig gegliederter Syntax annähert, um ihnen etwas von ihrem Handwerk abzuschauen. Hier will einer ganz genau wissen, wie jemand schreibt. Staunenswert ist aber mindestens ebenso, wie sehr Uwe Timm sich auf einzelne, ihn berührende Sätze einlässt, wie er ihnen nachlauscht, und wie ihm dabei seine präzisen Kenntnisse der deutschen Grammatik helfen. Der fragende, sich selbst befragende Türmer Montaigne, der fragende, sich selbst befragende Türmer Timm. Ob Montaigne, zurückzugezogen lesend und schreibend, glücklich war, wer weiß.
    "Das Schreiben und auch das Lesen ist etwas Meditatives. Ich entsinne mich an diese Erfahrung als Kind, ich setzte mich in eine Ecke und las, und ich war unerreichbar in meiner Welt. Wobei gesagt werden muss, zum Glück ließ man mich lesen. So auch das Schreiben. Es sind für mich die glücklichen Erinnerungen an den Sommerabenden in denen ich im Zimmer saß und schrieb, in New York oder München. Draußen drängten sich die Menschen, ich hörte sie lachen und reden. Ich aber saß abgesondert und schrieb und mühte mich ab. Das Leben verging, der Tod rückte näher. Ich hätte aufstehen und hinausgehen können, aber ich saß und schrieb, und dass ich es darf und kann, ist ein Glück."
    Möge Uwe Timm noch viele Jahre dieses Glück leben können, möge er noch lange in seinem Turm- und Schreibzimmer über die Welt staunen und den Leserinnen und Lesern seine wunderbaren Sätze schenken.
    Uwe Timm: Montaignes Turm. Essays
    Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 16,99 Euro