Wenn man Keanes eingehende Erläuterungen zu Havels politischen Schriften, besonders zu denen der Gefängnisjahre 1979-83 liest/drängt sich der Eindruck auf, daß hier, gegen alle Wahrscheinlichkeit, ein isolierter Häftling seine bevorstehende Präsidentschaft einstudiert. Dazu gehört, dass sich der Inhaftierte ohne Selbstzweifel für einen originellen Denker hält, auf Augenhöhe mit seinen Lehrmeistern, mit Masaryk, mit Husserl und Patocka. Man muß diese unbedingte . Annahme der eigenen Erwähltheit nicht sympathisch finden - wie überhaupt die Person Havel in Keanes Beschreibung an Liebenswürdigkeit nicht gewinnt aber Sympathiewerte haben nicht einmal bei Havels Wahl den Ausschlag gegeben.
War es also seine moralische Integrität, die den Schriftsteller und Bohemien Václav Havel ins Präsidentenamt befördert hat? Ja, gewiß, aber was wäre diese Tugend wert ohne den Mut und die Ausdauer, mit der Havel die Repräsentantenrolle beanspruchte, ehe sie ihm schließlich auch vom Volk verliehen wurde. Havels Lebensroman ist, mag auch sein Ende nicht das _, Glücklichste sein, eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. "Der junge Prinz" heißt das erste Kapitel von Keanes Biographie. In ihm ist zu lesen von einer behüteten Kindheit in einem Prager Milieu, das republikanischer und exquisiter nicht hätte sein können: die Familie Havel, mit ihren Unternehmern und Intellektuellen, zahlte zum geistigen Hochadel der Ersten Republik. Das mag erstens erklären, warum der junge Prinz so früh und erfolgreich eine Gefolgschaft um sich versammelte, und zweitens, warum die Kommunisten in ihm so früh und richtig den Staatsfeind Nummer Eins identifizierten. Havel ist in fast allen Lebensrollen der Primus gewesen: als Sohn, als jugendlicher Stimmführer seiner Generation, der "Sechsunddreißiger", später dann als Dramatiker und später noch als Dissident. Seine Sendung wirkte deshalb so überzeugend, weil sie auf wenig mehr beruhte als auf dem gelebten Exempel moralischer Integrität. Und selbst die Schwächen des Mannes Havel, die Keane gestreng auflistet, steuerten zum Nimbus des guten Menschen noch die humane Note bei. Havels politischer Stil zehrt von den Gesten und Beispielen des widerständigen Individuums. Deshalb ist er wohl nie faszinierender und für seine Feinde gefährlicher gewesen als in den Jahren, da seine Politik, um György Konráds Wort zu verwenden, noch "Antipolitik" war. Dann aber folgte die richtige Politik und mit ihr, was Keane mit einigem Groll als Havels "Niedergang" beschreibt.
Auf den Fotos dieser Biographie sieht der Präsident jedesmal abgekämpfter aus, kein bißchen frischer jedenfalls als Keith Richards, der ihm, wie andere ältere Rockstars, auf der Burg die Aufwartung macht. Ein Bürgerpräsident wollte Havel sein, und tatsächlich begriff er, wenigstens in den frühen Jahren, sein Amt als eine, so Keane "parapolitische, von den Bürgern direkt unterhaltene Struktur". Weil Havel der Held der samtenen Revolution gewesen war, sah man es ihm im Ausland gern nach, dass er die Burg wie einen Klub rührte, mit Gastspielen von Frank Zappa, einem Heer von Türstehem und unangekündigten Visiten beim Mann auf der Straße. Der "republikanische Monarch", wie Keane ihn nennt, verachtete das politische Geschäft, vor allem das Parlamentär war an Opposition nicht gewöhnt. Er selbst war ja ein Leben lang die Opposition gewesen. So häuften sich in Havels Amtszeit die politischen Fehler. Am Fall des umstrittenen Lustrationsgesetzes, in dem der Umgang mit den Akten der Staatssicherheit geregelt werden sollte, zeigt Keane, wie handwerkliche Fehler allmählich die besondere moralische Legitimität von Havels Präsidentschaft in Zweifel zogen. Die Havelsche Leitdifferenz von Wahrheit und Lüge hätte sich in den Wirren des Postkommunismus nur um den Preis politischer Wirkungslosigkeit bewahren lassen. Havel freilich mochte weder von seinem Amt noch von seinen Überzeugungen lassen, und dies auch dann nicht, als ihm mit dem Ökonomen Václav Klaus erstmals eine ebenbürtige Konkurrenz erwuchs. Den Kräften des Marktes, wie Klaus sie propagierte, und der Verheißung plötzlichen Reichtums hatte der Anti-Materialist Havel nichts entgegenzusetzen. Der moralische Impetus seiner Präsidentschaft hat sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre endgültig verbraucht, und daran ändert auch der Umstand nichts, daß sein Erzrivale Klaus ebenso auf die Verliererstraße geriet.
Keanes Buch endet, wie es enden muß, wenn es Havels Leben getreulich erzählen will, mit schweren Krankheiten und einer späten Ehe, die den Präsidenten beim Volk nicht beliebter machte. Hätte sich Havel damit begnügen sollen, ein Präsident des Übergangs zu sein, hätte er besser darauf verzichtet, eine Institution zu werden? Eines freilich zeigt John Keanes engagierte, kritisch mitleidende Biographie ganz deutlich: Dieser Mann brauchte eine Institution nicht erst zu werden, er ist es zeit seines Lebens gewesen.