Selbsthilfe für die Psyche
Was bringt es, den Vagusnerv zu stimulieren?

Ein sanfter Impuls am Ohr, schon lassen Stress oder Depression angeblich nach. Kann die Stimulation des Vagusnervs hier wirklich helfen, wie Social-Media-Videos versprechen? Hinter dem Internethype verbirgt sich tatsächlich eine Forschungstradition.

    Eine 3D-Illustration zeigt, wie der Vagunsnerv Gehirn und Organe verbindet
    Eine Verbindung zwischen Gehirn und Organen: Der Vagusnerv entspringt im Hirnstamm, seine Stränge führen unter anderem zur Lunge, zum Herzen und zum Magen. (IMAGO / Depositphotos / Copyright: xAxel_Kockx via imago)
    Stress, Angst und Depressionen – auf Social Media sind das Dauerthemen. Abhilfe schaffen soll laut vielen Videos eine Selbsthilfe-Methode, ganz ohne Medikamente oder Psychotherapie: die Stimulation des Vagusnervs, etwa durch Massagen am Hals oder kleine elektrische Impulse über Elektroden am Ohr. Was ist dran an den Versprechen, dass diese Technik Stress und Ängste reduzieren und sogar depressive Symptome lindern soll? Die gezielte Stimulation des Vagusnervs wird tatsächlich schon seit Langem erforscht. So beurteilen Wissenschaftler ihr therapeutisches Potenzial - und die Vagusnerv-Tipps auf TikTok.

    Inhalt

    Was ist der Vagusnerv?

    Der Name Vagusnerv leitet sich vom lateinischen Begriff „vagari“ für „umherschweifen“ ab. Denn der Vagusnerv ist tatsächlich weit im Körper unterwegs. Er entspringt im Hirnstamm, verläuft rechts und links neben der Halsschlagader und schlängelt sich durch den ganzen Rumpf. Unterhalb des Brustbeins fächern sich die vielen einzelnen Stränge des Vagusnervs wie Äste auf.
    Diese Stränge führen zu verschiedenen Organen: zur Lunge, zum Herz, zum Magen, zu Leber, Milz, Nieren, Gallenblase, Bauchspeicheldrüse, Dünndarm und Dickdarm. Die Organe sind allerdings vor allem Startpunkt des Vagusnervs: Etwa 80 Prozent der Nervenfasern laufen von den Organen zum Gehirn.

    Welche Aufgabe erfüllt der Vagusnerv im Körper?

    Eine Hauptaufgabe des Vagusnervs ist der Austausch von Informationen zwischen Körper und Gehirn. Dabei übermittelt der Nerv vielfältige Signale – zum Beispiel beim Essen vom Verdauungstrakt an das Gehirn: Wenn sich etwa der Magen während einer Mahlzeit ausdehnt, wird dieser Dehnungsreiz in elektrische Signale umgewandelt, die der Vagusnerv ans Gehirn sendet. Dort werden diese und viele andere Informationen verarbeitet. So entstehen unser Verhalten und unsere Stimmung. Zum Beispiel Hunger oder Sättigungsgefühl, aber auch Motivation und Antrieb.

    Wie wird der Vagusnerv stimuliert?

    Die medizinisch etablierte Stimulation des Vagusnervs (VNS) ist ein invasives Verfahren: Die Patientinnen und Patienten bekommen bei einer Operation eine Art Nervenschrittmacher eingesetzt. Dieses VNS-Gerät, eine kleine Scheibe, ist ein Pulsgenerator mit Batterie und Mini-Computer. Es wird unterhalb des Schlüsselbeins unter die Haut implantiert. Von der Scheibe läuft ein Kabel zum Vagusnerv. An dessen Ende sitzen Elektroden. Diese umschließen den Vagusnerv und stimulieren ihn mit schwachen Stromimpulsen.
    Viel mehr an die Social-Media-Videos erinnert die nicht-invasive Weiterentwicklung der Vagusnervstimulation: die transkutane Stimulation, also von außen durch die Haut. Bei dieser Methode werden kleine Elektroden ans Ohr gesetzt, denn Ausläufer des Vagusnervs ziehen sich auch ins Ohr und befinden sich hier nah unter der Haut.
    Ein Unterschied zwischen den Methoden besteht darin, dass die implantierten VNS-Geräte in Intervallen im Prinzip die ganze Zeit laufen. Die Stimulation über die Haut hingegen ist nur ein paar Stunden pro Tag möglich. Denn die Haut reagiert im Gegensatz zu Nerven ziemlich empfindlich auf Elektrizität.

    Kann die Stimulation des Vagusnervs gegen Depressionen helfen?

    Wissenschaftlich erforscht ist vor allem die invasive Stimulation des Vagusnervs. Sie kann tatsächlich bei Depressionen helfen – mit Betonung auf „kann“. Denn sie hilft nur einer Minderheit der Patientinnen und Patienten: Etwa 30 Prozent derjenigen, die ein VNS-Gerät implantiert bekommen, sprechen auf die Behandlung an. Die Implantate sind daher vor allem eine Alternative, die getestet werden kann, wenn andere Methoden nicht anschlagen. In Deutschland sind VNS-Implantate entsprechend für die Behandlung therapieresistenter Depressionen zugelassen.
    Die Beweislage zur antidepressiven Wirksamkeit ist allerdings noch ausbaufähig. Ein Problem ist, dass viele der bisherigen Studien von der Industrie mitfinanziert wurden. Das ist zwar nicht per se unseriös, aber auch nicht ideal, da die Geldgeber ein Interesse daran haben, dass die Implantate in den Studien gut abschneiden.
    „Meiner Meinung nach ist die Beweislage gut genug, um zu sagen, dass VNS bei Depressionen, besonders in Kombination mit Antidepressiva, eine wirksame Behandlungsmethode ist“, sagt Bashar Badran, Associate Professor an der Medical University of South Carolina. Dort leitet Badran ein Labor, das innovative Neurotechnologie entwickelt und testet, unter anderem auch Geräte für die Vagusnervstimulation.
    Ob die nicht-invasive Vagusnervstimulation eine vergleichbare antidepressive Wirkung haben könnte, ist bislang noch nicht ausreichend untersucht. Sie könnte aber eine einfache und günstigere Alternative zum invasiven Verfahren darstellen. „Man müsste eine sehr große Studie machen, um die Gleichwertigkeit zu beweisen“, sagt Allan Young, Professor für Psychiatrie am King’s College in London. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass die nicht-invasiven Geräte den Vagusnerv stimulieren können, aber ob sie das Gleiche bewirken wie die implantierbaren Geräte, das ist eine offene Frage.“

    Warum hat Vagusnervstimulation womöglich einen anti-depressiven Effekt?

    Es gibt mehrere Erklärungsansätze für diesen Effekt. Erstens existiert seit langem die Idee, dass die Wahrnehmung von Körpersignalen, die sogenannte Interozeption, einen Einfluss auf unsere Gefühle und unser Wohlbefinden hat: Wer merkt, dass sein Herz schnell schlägt, wird ängstlicher. Es gibt Hinweise darauf, dass die Kopplung zwischen Gehirn und Körper bei Menschen mit Depressionen aber nicht richtig funktioniert. Die Antriebslosigkeit bei einer Depression könnte zum Beispiel davon ausgehen, dass körpereigene Signale im Gehirn nicht korrekt verarbeitet werden. Womöglich wirkt die Vagusnervstimulation hier also korrigierend.
    Eine zweite Hypothese lautet, dass über die Stimulation des Vagusnervs ein gestörter Prozess im Gehirn repariert wird und dort wieder verstärkt die Botenstoffe Noradrenalin und Serotonin ausgeschüttet werden. „Wenn man Depressionen als ein neurochemisches Problem sieht, dann ist die Vagusnervstimulation so etwas wie eine Abkürzung, um die Menge an Neurotransmittern zu erhöhen, die für das Wohlbefinden und die Lebensqualität wichtig sind“, sagt Bashar Badran von der Medical University of South Carolina.
    Einem dritten Erklärungsansatz zufolge werden durch die Stimulation des Vagusnervs im Gehirn eine ganze Reihe von Effekten ausgelöst. Alle zusammen tragen nach Meinung von Allan Young vom Londoner King’s College dazu bei, dass sich die Kommunikation zwischen den Nervenzellen verstärkt und die allgemeine Gehirngesundheit sich verbessert. „Wir wissen, dass es Auswirkungen auf viele Dinge gibt: möglicherweise auf Gehirnentzündungen, möglicherweise auf die Werte verschiedener Steroide und Neurotransmitter“, sagt Young. „Aber ich denke, eines der wichtigsten Dinge ist, dass es letztlich einen Einfluss auf die Neuroplastizität haben könnte.“
    Dass es so unterschiedliche Theorien zur Wirksamkeit der Vagusnervstimulation gibt, liegt auch daran, dass man die Ursache von Depressionen noch nicht vollständig verstanden hat. Dadurch ist es schwierig, den Heilungsprozess nachzuvollziehen. Wahrscheinlich existieren unterschiedliche Ursachen für Depressionen, etwa Traumata, chronischer Stress, genetische Veranlagung, Stoffwechselprobleme und Entzündungen. Ob und wie gut die Vagusnervstimulation depressive Beschwerden lindert, könnte also auch davon abhängen, unter welcher Depression jemand leidet. Möglicherweise wirkt die Stimulation des Vagusnervs bei manchen besser als bei anderen.

    Können die im Netz angepriesenen Massagen wirklich helfen?

    Einige der Techniken, die in den Videos vorkommen, zum Beispiel die Massagen am Hals, könnten tatsächlich zur Beruhigung beitragen, sagt Bashar Badran von der Medical University of South Carolina. Die Wirkung anderer Techniken hält er für "Fiktion". Die möglicherweise beruhigende Wirkung liegt daran, dass der Vagusnerv als Teil des parasympathischen Systems im Körper Erholungs- und Entspannungsprozesse aktiviert. Diesen Effekt könnte man aber genauso mit anderen Beruhigungstechniken erzielen.
    Manchmal werden auch explizit Geräte zur Stimulation des Vagusnervs beworben. Nils Krömer, Professor für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Bonn, hat den Eindruck, dass der Verweis auf den Vagusnerv die Videos wissenschaftlicher erscheinen lassen soll, als sie tatsächlich sind. „Man kann diese Geräte natürlich ausprobieren, ich würde aber eigentlich nicht als erstes Verfahren zu diesen Geräten raten“, sagt Krömer. „Wir können noch nicht sagen, wie viele wie stark davon profitieren und wie sie es genau einsetzen müssen.“

    jfr, Sophia Wagner