Der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wird mitunter eine Unlust an Fantasie attestiert. Hier denke man sich lieber nichts aus. Hier schöpfe man – autofiktional verfremdet allenfalls – seit einigen Jahren vermehrt aus der eigenen Biografie, aus der realen Begebenheit. Dabei gehörte Wahrheit nie zum Geschäft der Literatur. Dass sie vielmehr große Lüge sei, warf schon Platon den Dichtern vor. Und wie Kunst doch überhaupt die schönsten Illusionen fabriziert, daran erinnert Valerie Fritsch. In ihrem zweiten, abermals opulent-surrealen Roman entwirft die österreichische Autorin und Fotokünstlerin gleich zu Beginn eine trügerische Szenerie.
"In der Wohnstube hing ein riesenhaftes Gemälde mit Weintrauben, so lebensecht, dass im Sommer die Vögel durch die offenen Fenster in den Raum flogen und versuchten, sie von der Leinwand zu picken. So still war es, dass einen schon das leiseste Geräusch erschreckte, und wenn das Telefon klingelte, dachte man stets, es läutete im eigenen Kopf."
Theater vor trügerischer Kulisse
In dieser die Augen und Ohren verwirrenden Illusion wächst Alma auf. Viele Nachmittage verbringt sie allein im beklemmend kathedralischen Elternhaus und mit dem unbeirrbaren Gespür eines Kindes fühlt sich Alma bald betrogen. Nicht nur die Wirklichkeit wird dem zartfühlenden Mädchen suspekt wie jene steinharten kristallenen Früchte, die den elterlichen Esstisch dekorieren. Auch seine Statisten, etwa die tagsüber neurotisch penible und nachts somnambul umherwandernde Mutter, beschreibt Valerie Fritsch in beeindruckend atmosphärischer Dichte, ohne sich über die einführende Kinderperspektive hinwegzusetzen. So wird Almas ganzes brüchig zusammengezimmertes Zuhause zur Kulisse, verweist damit auf seine literarische Künstlichkeit. Und als müssten sie die Illusion komplettieren, spielen Almas Eltern vor dieser Szenerie ihr Theater.
"Sie beobachtete, wie die Eltern durch die Räume geisterten, mal Mutter und Vater spielten, dann das liebende Ehepaar gaben und hin und wieder Besuch empfingen, für den sie lachten. Mit dem Großvater aß man sonntags manches Mal gemeinsam im Garten zu Mittag, bei stockenden Gesprächen, mit Spritzwein und kleinen Käfern, die aus den großen Bäumen in die Suppe fielen wie Pfefferkörner."
Vererbtes Kriegstrauma
Erst im Heranwachsen kommt Alma jenem Trauma auf die Schliche, das sie ihrer Wirklichkeit entfremdet. Die Erfahrungen der Großeltern bilden den Schlüssel. Als Jugendlicher zog Almas Großvater für Hitlers Reich in den Krieg, die Taschen auf Geheiß der Mutter voller Erde aus dem Garten. Sie sollte dem Jungen Glück bringen, ihn unversehrt nach Hause zurückführen. Und zurück kam er auch, wenn auch weit nach Kriegsende als "Spätheimkehrer" aus kasachischen Kohleschächten. Doch hatte der junge Mann im Krieg mehr lassen müssen als seine zwei erfrorenen Zehen. Almas Großvater verstummte, verschloss sich angesichts der Verbrechen, die er begangen und erlitten hatte. Und was der Soldat nie ausgesprochen, was seine Frau ihm nie verziehen hat, das wirkt auch in Enkelin Alma weiter.
"Es war, als hätten ihr die Großeltern ihr eigenes Schicksal in den Doppelhelixsträngen der DNA weitergegeben, als hätten sie ihr das Dunkel der Luftschutzkeller und die Kälte der Front in den Leib gepflanzt, als hätten sie im Körper der Enkelin die komatöse Stille der Kriegstage zwischen den Bombenangriffen haltbar gemacht, einen unbestimmten Hunger, eine unbestimmte Last."
Transzendental entrückte Künstlichkeit
Die soziale Herkunft ist in den letzten Jahren zu einem bestimmenden Thema der europäischen Gegenwartsliteratur avanciert. Doch Valerie Fritsch interessiert sich in ihrem Roman nicht für ethnographische Methoden. Ihre erzählerische Erkundung setzt dort ein, wo der Wissenschaft keine rationalen Antworten mehr einfallen. Bei Fritsch biedert sich keine Zeile der Wirklichkeit an. Die Künstlichkeit ist nicht technizistisch, sondern transzendental entrückt, Programm ihrer prachtvollen Prosa, auch wenn sie von den tatsächlichen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs ihren Ausgang nimmt.
So wie sich Alma nicht aus dem transgenerationalen Kriegstrauma ihrer Großeltern befreien kann, ist auch ihr Sohn geprägt durch dieses Verhängnis. Bereits mit neun Jahren hat er den Körper eines Veteranen, gezeichnet von Schmerz, ohne diesen jedoch jemals empfunden zu haben. Emil leidet an einem seltenen Gendefekt, der seine Schmerzrezeptoren stillgelegt hat. Er merkt nicht, wenn seine Kinderhand auf der glühenden Herdplatte verkohlt oder der Unterschenkel nach einem tollkühnen Sprung entzweibricht.
"Es war, als litte er an einer Körpersprachlosigkeit, die zu den schlimmen Dingen schwieg. Zu dem Wissen, das jedem Schmerz innewohnt, hatte er keinen Zugang, die Auskunft, die dieser einem über die Welt und einen selbst gab, blieb ihm fremd."
Schmerzunfähiges "Sühnekind"
Emils ausbleibendes Schmerzempfinden bringt sowohl seine Eltern als auch seine Autorin an sprachliche Grenzen. Wie beschreibt man psychischen Schmerz für jemanden, der den physischen nicht kennt? Zu dicht scheinen unser Beschreibungsvokabular für gebrochene Herzen und blutende Daumen beieinanderzuliegen. Ob Emil sich also, ob sich irgendjemand überhaupt eine Vorstellung vom Kriegstrauma des ehemaligen Soldaten machen kann, bleibt in der Schwebe. Doch bildet der körperstumpfe Emil eine Antipode zu seinem Urgroßvater, der ob seiner körperlichen und seelischen Schmerzen verstummt ist. In der dritten Generation hat sich der Körper also gegen das Familientrauma immunisiert und bleibt dennoch davon gezeichnet. Das macht auch Mutter Alma zu schaffen.
"Dass Emil dem Alten auf irgendeine Weise gleich sein sollte, dem Schweigenden, dem Soldaten, dem Mörder, dem Gefangenen, war ihr unangenehm, und jede noch so harmlose Gewaltbereitschaft, jede altersgemäße Aggression des Kindes, schon eine geballte Faust, beobachtete sie mit Sorge, glaubte darin das Familienerbe zu erkennen und in Emil ein Sühnekind, ein Schuldkind."
Prothesen für Körper und Seele
Wo ein Körper dem Schmerz nicht mehr standhalten kann und seinen Geist aufgibt, lässt Valerie Fritsch ihn ausbessern. Stützen und Schienen helfen Emils malträtiertem Körper dabei, wieder funktionstüchtig zusammenzuwachsen. Das geschundene Herz seines Urgroßvaters konnten nur noch die titelgebenden Herzklappen der Firma Johnson & Johnson reparieren. Auch Alma wünscht sich nicht nur für den beschädigten Körper, sondern auch für die traumatisierte Seele eine mechanische Ausbesserung.
"Sie war besetzt von der Idee, aus der eigenen Haut und aus sich selbst herauszukriechen, die Hülle der Arme und Beine, des eigenen Gesichts zurückzulassen, so wie einst der Großvater die erfrorenen Zehen im russischen Winter zurückgelassen hatte. Wünschte sich eine Ersatzpsyche, die die Welt besser ertrug, eine Identitätsprothese, die ihr einen sicheren Schritt durch die Tage ermöglichte."
Von Grenzen der Sprache und Wirklichkeit
Die Zeit bringt Fritschs Figuren keine Heilung. Emils schmerzunfähiger Körper kann das Trauma nicht beenden. Alma muss sich selbst auf den Weg machen und die Bruchstücke ihrer Familiengeschichte zusammensetzen. Übers Erzählen beginnt eine erste, allmähliche Bewältigung. Die Großmutter öffnet sich, berichtet Alma vom Krieg, von der Verachtung für die Verbrechen des eigenen Ehemanns. Doch das ist nur das Ende. "Herzklappen von Johnson & Johnson" erkundet den jahrzehntealten Schmerz, das Körperwissen ohne Erfahrung. Valerie Fritsch begibt sich dafür an die schillernden Grenzen der Wirklichkeit, an die Grenzen der Sprache und die Grenzen des Menschseins – so wundersam und fein, wie es der Literatur selten gelungen ist.
Valerie Fritsch: "Herzklappen von Johnson & Johnson"
Suhrkamp Verlag, Berlin. 174 Seiten, 22 Euro.
Suhrkamp Verlag, Berlin. 174 Seiten, 22 Euro.