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Varujan Vosganian: "Als die Welt ganz war"
Vom schwierigen Erbe der Ceaușescu-Diktatur

In seinem neuen Erzählungsband beschäftigt sich der rumänische Autor und Politiker Varujan Vosganian mit der Frage, wie Opfer und Täter der kommunistischen Ära in der heutigen Gesellschaft eine gemeinsame Sprache finden können. Zu groß ist die Schuld der einen und zu gravierend sind die Verletzungen der anderen.

Von Holger Heimann |
    Der Autor Varujan Vosganian ist einer der bekanntesten Politikers Rumäniens
    Der Autor Varujan Vosganian ist einer der bekanntesten Politikers Rumäniens (Buchcover: Zsolnay Verlag, Foto: Holger Heimann)
    Varujan Vosganian ist ein einflussreicher Mann. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler war Finanz- und Wirtschaftsminister seines Landes, später Minister für Handel- und Industrie. Noch immer sitzt er für die Liberalen, die zusammen mit den Sozialdemokraten die Regierung bilden, im rumänischen Parlament. Er ist Vizepräsident des Schriftstellerverbandes und Präsident der Vereinigung der Armenier in Rumänien.
    Gleich neben der armenischen Kirche im Zentrum von Bukarest hat er ein stattliches Büro. An der Wand direkt vor seinem Schreibtisch lehnt ein großes Gemälde, das ihn selbst zeigt. Vosganian bewegt sich gern im Rampenlicht. Selbst wenn er über sein Schreiben spricht, tut er das im Stil eines Politikers, der eine Rede vor großem Publikum hält. Dass die tagtägliche politische Inanspruchnahme sein künstlerisches Schaffen beschädigen könnte, zieht er nicht einmal in Betracht.
    "Es ist nicht leicht, zur selben Zeit Politiker und Schriftsteller zu sein. Es ist nicht mein Problem, sondern das der Öffentlichkeit. Die Menschen sind nicht darauf vorbereitet, das Image des Autors von dem des Politikers zu trennen."
    Ein suchender und zweifelnder Autor
    Auf wundersame Weise scheint eben genau dies für Varujan Vosganian selbst tatsächlich möglich. In seinen Büchern begegnet dem Leser jedenfalls ein nachdenklicher, zweifelnder und suchender Autor. Der jetzt erschienene Band "Als die Welt ganz war", versammelt vier Langerzählungen, die allesamt die Frage stellen, wie lebendig die jüngere Vergangenheit ist und wie sich mit den Traumata der rumänischen Geschichte weiterleben lässt. Im längsten Stück "Jacob, Sohn des Zevedei" kommt ein alter Mann nicht von den Erinnerungen an das Gefängnis los, in dem er als Student zum Zweck der "Umerziehung" grausam gefoltert wurde.
    "Dieses Gefühl endlosen Leids hat uns auch nach Verlassen des Gefängnisses noch verfolgt. Wir, die ehemaligen Gefangenen, haben begonnen, voreinander auf der Hut zu sein. Möglicherweise, weil wir etwas gemeinsam hatten, an das wir uns nicht erinnern wollten. Oder weil wir uns des Erlebten schämten und uns deshalb auch voreinander schämten. Wir waren ein Volk von Gespenstern, die beim Blick in den Spiegel ihr wahres Gesicht nicht mehr wiederfinden konnten. Ein Volk, dem sich die Ketten an den Fußgelenken umsonst geöffnet hatten, denn sie waren längst von einem Ohr zum anderen gewandert und rasselten uns nun im Hirn, wie aus der Halterung gezerrte Uhrfedern."
    Die Dämonen der Vergangenheit
    Während der verstörte Alte immer wieder aus furchtbaren Alpträumen hochschreckt, versucht seine Enkeltochter Cosima in einer Unfallklinik einen Mann, der vom fünften Stock in die Tiefe gesprungen ist, zu retten. Sein Motiv bleibt unklar. Zu den Menschen, die sich in ihrem Leben nicht mehr zurechtfinden, zählt auch Jacob, der mit Cosima eine Affäre beginnt. Zufällig sucht er nicht ihre Nähe. Sein Vater war einer der Wärter in den Gefängnissen des Kommunismus. Jacob ist daher gleichsam ein Getriebener, verfolgt von der Erinnerung an das Unrecht. Vosganian entwirft in der Erzählung, die mit 150 Seiten fast den Umfang eines Romans hat, ein kompliziertes Beziehungsgeflecht und versteht dieses durchaus als Abbild der rumänischen Gegenwart.
    "Unsere Gesellschaft hat viele unverheilte Wunden. Wir haben uns nicht entschieden zwischen Vergessen, Rache und Verzeihen. Das ist der Grund, warum die Dinge wieder und wieder geschehen. Viele Rumänen haben gar nicht begriffen, was mit ihnen geschehen ist. Einige wollen sich versöhnen, sie sind wirklich guten Willens. Aber sie können keinen sinnvollen Ausgangspunkt finden, um eine echte Diskussion zu beginnen."
    Die Geschichten des Bandes zeigen, wie kompliziert der Umgang mit der unheilvollen Vergangenheit ist. Vosganian erzählt in einer geschmeidigen Sprache, die Ernest Wichner trefflich ins Deutsche gebracht hat, von Menschen, die kaum unbeteiligt bleiben konnten, sondern vor die Wahl gestellt wurden, sich für die eine oder die andere Seite zu entscheiden.
    In der Erzählung "Ein Bund Liebstöckel", die auf tatsächlichen Begebenheiten gründet, begegnen sich Oper und Täter wieder. Der Bergmann Pavel war einer der Männer, die 1990 aus der Provinz nach Bukarest gerufen wurden – vorgeblich, um die Revolution zu verteidigen. Ohne Skrupel prügelte er auf Demonstranten ein. 20 Jahre später setzt er alles daran, die Architektin Rada ausfindig zu machen. Pavel will der Frau, die ihm einmal schutzlos ausgeliefert war, das Medaillon zurückgeben, das er ihr vom Hals gerissen hat. Rada lädt ihren einstigen Peiniger zwar zum Gespräch in ihre Wohnung ein, aber eine Verständigung misslingt.
    "Du bist nicht meinetwegen gekommen. Rada hielt inne, kramte in einer Schublade nach einem Kerzenstummel, drückte ihn auf ein Tellerchen und entzündete ihn. Deinetwegen bist du gekommen, bist gekommen, damit ich dir verzeihe. Aber umsonst verzeihe ich dir, auch habe ich kein Recht dazu. Die dir verzeihen müssten sind nicht mehr auf dieser Welt, ich habe nicht das Recht, dir in ihrem Namen zu verzeihen."
    Vosganians pessimistische Erzählungen spiegeln eine zutiefst verunsicherte und gespaltene Gesellschaft, die keinen gemeinsamen produktiven Umgang mit der eigenen Geschichte findet. Zu groß ist die Schuld der einen und zu gravierend sind die Verletzungen der anderen. In der titelgebenden Geschichte "Als die Welt ganz war" wird das beschädigte Leben am deutlichsten kenntlich, ja regelrecht ausgestellt. Die Hauptfigur Coltuc ist von Geburt an schwerstbehindert.
    "Er saß unter und bei ihnen, bestens auf den Brettern aufgepflanzt, die so eine Art Wägelchen mit Rädern bildeten. An der Stelle, wo die Beine hätten beginnen müssen, waren die Hosenbeine eingerollt und mit Haken fixiert, damit ihn das Holz nicht aufrieb. Aus den Schultern sprossen ihm ein paar krumme Finger, wie Vogelkrallen. Sie waren allein dazu gut, das jeweilige Ende der Schultern einzufassen, wie Drahtenden, die man hatte hängen lassen, nachdem der Sack gut verschnürt worden war. Da er weder in die Höhe noch in die Breite wachsen konnte, hatte sich sein Körper im Leib selbst verdichtet."
    Eine Generation von Träumern
    Dieser erbarmungswürdige und gewissermaßen nur halbe Mensch erbettelt Almosen auf der Straße und ist immerfort auf die Hilfe anderer angewiesen. Seine ständigen Begleiter sind ein Lahmer und ein Blinder. Aber Coltuc besitzt die Gabe, vor seinen Augen das Bild einer unzerstörten Welt entstehen zu lassen. Er sieht auch die Bäume, die gefällt und die Häuser, die abgerissen wurden.
    "Meine Generation war eine Generation von Träumern. Wir waren isoliert, umzingelt von Mauern. Ich spreche von Landesgrenzen, die wir nicht überwinden konnten, aber auch von den Barrieren zwischen uns selbst. Man konnte schließlich nie wissen, ob das Gegenüber vertrauenswürdig oder nicht vielleicht ein Securitate-Spitzel ist. Weil es diese Hindernisse gab, haben wir uns eine wunderschöne Welt jenseits dieser Mauern erträumt. Coltuc ist dafür ein Symbol. Er kann nicht eingreifen in die Geschicke der Welt. Aber zugleich ist er enorm machtvoll. Denn er kann die Welt neu erschaffen – und zwar die herrlichste Welt, die man sich nur vorstellen kann."
    Je bedrückender die Wirklichkeit umso dringlicher scheint die Flucht in die Phantasie. Für Coltuc gibt es keinen anderen Weg, nur in seinen Träumen ist auch er selbst ganz. Der rumänischen Gesellschaft sollte man einen solchen Rückzug nicht wünschen. Das Land hat eine der gewaltsamsten kommunistischen Diktaturen in Europa erlebt. Varujan Vosganians düstere Erzählungen machen kunstvoll deutlich, wie schwer die Menschen am Gewicht der Erinnerungen tragen, wie groß die Verstörung nach den langen Jahren der Despotie ist. Aber dieser Autor zeigt auch die beständige Suche nach Wegen, sich der nahen Vergangenheit und einer gemeinsamen Zukunft zu versichern.
    Varujan Vosganian:"Als die Welt ganz war"
    aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
    Zsolnay Verlag, Wien. 336 Seiten, 24 Euro.