Archiv

Vatikan
Wahrhaftiger Umgang mit der Vergangenheit

Das Vatikanische Geheimarchiv bewahrt unter anderem kirchliche Dokumente über die Zeit des Zweiten Weltkrieges und den Holocaust. Für Papst Franziskus scheint die Öffnung der Archive keine Priorität zu besitzen. Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf forscht im Vatikan und räumt mit Vorurteilen über das Geheimarchiv auf.

Von Henning Klingen |
    Papst Franziskus bei der Heiligsprechung von Johannes XXIII. und Johannes Paul II.
    Kirchenhistoriker Hubert Wolf sieht in dem Archiv das Archiv eines Souveräns, des Papstes. (dpa/Michael Kappeler)
    Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf legt Wolf großen Wert auf die Entzauberung des Mythos vom Vatikanischen Geheimarchiv. Er sieht in dem Archiv das Archiv eines Souveräns, des Papstes, das Stück für Stück mit der gebotenen historischen Distanz freigegeben und zugänglich gemacht wird:
    "Wenn zugänglich, dann zugänglich. Dann gibt es auch keine Kontrolle. Dann werden die Bestände, die der Papst geöffnet hat, einem vorgelegt, ohne Wenn und Aber vorgelegt. Zensur gibt es nicht. Der Papst entscheidet und wenn er entschieden hat, hat er entschieden. Aber angesichts der Masse kann niemand genau sagen, was es an möglichen Funden gibt. Schließlich sind weder das Vatikanische Archiv noch das Archiv der Glaubenskongregation so archiviert, wie wir das aus dem deutschen oder österreichischen Staatsarchiv kennen. Also ich gehe ins Internet, gebe Begriffe ein und kriege dann ein Online-Inventar: Das gibt es natürlich nicht. Es gibt nur sehr vorläufige Verzeichnisse. Und damit kann man dann wirklich Entdeckungen machen."
    Kirchengeschichte ist insofern eine Form nachträglicher Aufklärung der katholischen Kirche über sich selbst. Aufklärung allerdings mit einem starken moralischen Impetus: aus der Geschichte lernen zu wollen und dabei weder Schuld zu vertuschen noch Sündenfälle schönzureden.
    "Der Kirche hilft nur ein wahrhaftiger Umgang mit ihrer Vergangenheit. Bei Johannes steht: 'Die Wahrheit wird euch frei machen.' Ich denke, das ist die aufklärerische Arbeit der Kirchengeschichte, dass sie ohne Wenn und Aber die Dinge auf den Tisch legt. Ich hab' da weder einen apologetischen noch einen polemischen Impetus. Zitieren wir mal Johannes Paul II., der bei der Öffnung genau dieses Archivs der Inquisition, des Archivs der Glaubenskongregation, 1998 einen bemerkenswerten Satz gesagt hat. Erstens: Die Kirche fürchtet nicht die Wahrheit, die aus der Geschichte kommt. Und zweitens: Wenn das Lehramt der Kirche für die Fehler, Sünden und Vergehen der Kirche und ihrer Glieder um Verzeihung bitten will, dann muss das Lehramt zunächst von der Kirchengeschichte über den genauen Umfang und die zeithistorischen Bedingungen dieser Schuld informiert werden. Genau das macht Kirchengeschichte."
    Geschichte auch als theologischer Erkenntnisort
    Doch nicht nur die Schuldfrage interessiert den Kirchenhistoriker Wolf. Aufregend und für die Gegenwart relevant wird sein Fach nämlich erst dort, wo kirchenpolitische und theologische Grundsatzentscheidungen rekonstruiert werden, die zugleich den Blick auf die damaligen, durchaus auch vorhandenen Alternativen frei geben. Alternativen, die für Wolf gerade auch in den gegenwärtigen theologischen und kirchlichen Debatten wieder von Bedeutung sein können:
    "Wenn Katholiken, Christen glauben, dass sich Gott in Jesus Christus auf die Geschichte eingelassen hat, dann gilt das Prinzip der Geschichtlichkeit der Entwicklung. Und dann kann ich nur zum Kern von Kirche vordringen, wenn ich sie historisch befrage und die Geschichte als einen theologischen Erkenntnisort wähle. Dann aber wird es spannend - dann gibt es nämlich Modelle, Alternativen, Entwicklungen in der Geschichte der Kirche, die zumindest für die heutige Diskussion auf den Tisch müssen."
    Zu diesen "vergessenen Optionen" zählt etwa auch die Geschichte der vatikanischen Friedensinitiative während des Ersten Weltkriegs. Gerne werde die Rolle der katholischen Kirche in Kriegszeiten vor allem auf die Frage nach ihrem oft allzu nahen Verhältnis zu den Mächtigen und Kriegstreibern verkürzt. Bilder von Waffensegnungen und Bischöfen, die vom "gerechten Krieg" sprechen, haben sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Dabei zeigt gerade das Beispiel des Ersten Weltkriegs, dass es auch die "andere Option" gab, in der die katholische Kirche als Friedensaktivistin auftrat. Allerdings erst, nachdem sie die inneren Kämpfe mit dem sogenannten Modernismus überwunden hatte, der im Vorfeld der Urkatastrophe des Krieges sämtliche Kräfte der Kirche gebunden hatte:
    "Dass Benedikt XV. diese Friedensinitiative dann macht, die aber eben an den politischen Querelen der Großmächte scheitert, das ist schon ein ganz großartiger Akt. Und dadurch ist im Grunde ein Signal gesetzt, das weit außerhalb der Kirche rezipiert worden ist; dass die Kirche eben nicht immer nur auf die Seite stellt, ja, die werden mit irgendwelchen Argumenten immer den 'gerechten Krieg' legitimieren. Dies definitiv nicht. Dieser Krieg, vor allem diese Giftgaskriege im Westen, die sind nicht mehr 'gerecht'. Und damit beginnt eine gewisse Linie, wo die Päpste mit der Legitimation von religiöser Gewalt äußerst zurückhaltend sind - die geht dann bis Johannes Paul II. und den Irakkrieg. Also insofern ist das schon ein ganz starkes Signal."
    Öffnung des Archivs könnte verzögert werden
    Wie es mit Wolfs Arbeit in den Vatikanischen Archiven weitergeht, ist offen. Denn mit dem neuen Pontifikat sei zugleich Unsicherheit in die so auf diskrete Professionalität bedachte Archivarbeit gekommen. Bei der gerade aus deutscher Sicht so wichtigen Frage nach der Öffnung des Archivs zur Zeit von Papst Pius XII., also jener Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts, könne es unter Papst Franziskus zu Verzögerungen kommen:
    "Für die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. war natürlich die Öffnung der Archive zur Zeit Pius' XII. vordringlich. Die Phase des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts war für den Deutschen und den Polen, die einer Generation angehörten, die davon lebensgeschichtlich betroffen war, ein ganz anderes Anliegen als für einen Mann aus Argentinien, der jetzt ganz andere Themen ins Zentrum rückt. Was ich persönlich für gut finde. Im Blick auf die Archivöffnung bringt das nun eine gewisse Unsicherheit hinein: Kommt sie? Kommt sie nicht? Bei Benedikt XVI. hätte man gesagt, im September 2014 kommt sie. Ob sie jetzt kommt, weiß man nicht ganz genau. Ich denke, dass das für den neuen Papst nicht die Priorität hat."