Erst zwingt er seinen hilflosen, bereits stundenlang misshandelten Saufkumpan in eine Bordsteinkante zu beißen, dann bringt er ihn mit einem Fußtritt auf den Hinterkopf um. Die Idee, so der Täter, sei ihm gekommen, weil er zuvor eine ähnliche Szene in der TV-Serie "American History X" gesehen habe.
"In diesem Moment brannten bei mir die Sicherungen durch."
Damit ist eine grausame Gewalttat, der Mord an dem 16-jährigen Marinus Schöberl, nicht erklärt. Und auch viele andere Aussagen, die der Dokumentarfilmer Andres Veiel im uckermärkischen Dorf Potzlow gesammelt hat, können Umstände und Ursachen der Tat kaum erhellen. Der Staatsanwalt erkennt bei den Tätern, 17 bis 23 Jahre alt,
"ein dumpfes rechtsextremistisches Gedankengut und den unbedingten Willen, das in Gewaltform auszuleben"."
Zudem, so diagnostiziert der Jurist, fehle dem Dorf "der zivilisatorische Standard". Wie zur Bestätigung dieser Ferndiagnose heißt es in Veiels wortwörtlich wiedergegebenen Interviews über die Täter:
""Der hätte normalerweise in die Sonderschule gehört, aber nicht in die Gesellschaft."
Wenn dann die Mutter des Opfers von "tickenden Zeitbomben" spricht und die Formel beschwört "einmal Mörder, immer Mörder", dann wird klar, dass die schlichte Wiedergabe von Interviews und Vernehmungsprotokollen, auch das bei den Medien so beliebte Sammeln von Stimmen aus dem Umfeld nichts erklärt.
In einem Film gerät fatalerweise jeder dieser Kommentare zur "Aussage" im doppelten Sinn, wird zur persönlich beglaubigten Zeugenaussage und als allgemein gültiges Statement über den Einzelfall hinaus wahrgenommen. Diesem Dilemma begegnete Veiel in der Kinoversion und auch bei der anschließenden Bühneninszenierung mit dem Rückgriff auf ein Verfahren, das Peter Weiss in seinem Stück "Die Ermittlung" über die Auschwitzprozesse praktiziert hatte: Die Protokolle werden schlicht verlesen und damit auf ihren Gehalt reduziert.
Nun hat der Dokumentarist sein Material als Buch herausgebracht, mit dem Untertitel "Ein Lehrstück über Gewalt". Veiel hat dieses Buch um einen zweiten Teil ergänzt, den er "Annäherungen" nennt. Er rekonstruiert die Lebensläufe, weist unter anderem darauf hin, dass einer der Täter als Fünfjähriger vergewaltigt wurde, diesen strafmildernden Umstand aber vor Gericht nicht angeben mochte. Alle beteiligten waren Schulversager, galten als Zugezogene im Dorf als Außenseiter. Dass eine regelrechte Meute ihren Sohn als Achtjährigen vom Fahrrad riss, splitternackt auszog und zum Onanieren zwang, kommentiert die Mutter mit dem Satz:
"Das war so die Art Begrüßung hier."
Nach dem Diebstahl eines Mofas wird einer der späteren Mörder Marinus Schöberls von anderen Jugendlichen schwer misshandelt, zur Strafe. So etwas wird innerhalb der Dorfgemeinschaft abgemacht, Polizei und Justiz bleiben seit DDR-Zeiten außen vor. Latente Gewalt und auch die extremen Ausbrüche führt Veiel zurück auf die allgemeinen Erfahrungen nach 1945: Zwangsmaßnahmen der Besatzungsarmee zum Beispiel und demütigende Übergriffe einzelner Rotarmisten. Wenig später hätten die Dorfbewohner ansehen müssen, dass Nazi-Aufseher, die noch kurz zuvor polnische Zwangsarbeiter drangsaliert hatten, nun einflussreiche Positionen als LPG-Vorsitzende einnahmen. Enteignungen und Stasibespitzelung, nach der Wende dann der Einfall westdeutscher Investoren samt plötzlichem Zwang zu ungewohnter Selbstständigkeit und schließlich die grassierende Arbeitslosigkeit - all das reiht der beharrlich recherchierende Dokumentarfilmer ein in seine Liste möglicher Ursachen der Gewalttat.
Darüber hinaus sucht Veiel, seine eindrucksvollen Detailschilderungen mit Fußnoten aus der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur zu untermauern. Wenn etwa ein Täter angibt, der tödliche Fußtritt auf den Hinterkopf habe ihm einen wohligen "Kick" verschafft, relativiert ein Zitat des Soziologen Wolfgang Sofsky diese Aussage, lässt den verstörenden Einzelfall aufgehen im abstrakten Grau unscharfer Theorie. Aus Sofskys Überlegungen "Zur Soziologie des Konzentrationslagers" entnimmt Veiel die finale Ausdeutung des "Kick":
"Indem er das Opfer zu einem reaktionslosen Ding macht, erlangt er die Gewißheit, zu allem fähig zu sein. Der Exzeß ist ein Akt ungehemmter Selbstexpansion."
Das, so schreibt Veiel, gelte generell für Gewalttäter wie die Jugendlichen von Potzlow. Seine überraschende Feststellung, dass einer der Täter wenige Wochen zuvor ein schwer misshandeltes Opfer war, lässt Veiel als Buchautor nun zwischen einigermaßen abseitigen Vermutungen wie der These des Theologen Ferdinand Sutterlüty untergehen:
"Gewalt ist zu vergleichen mit einem epiphanen Erlebnis, dem Erlebnis einer Offenbarung im Leben einer Person: In einem bedeutsamen, oftmals krisenhaften Ereignis zeigt sich ihr individueller Charakter in neuem Licht."
Die Täter, um nicht selbst Opfer zu werden, suchten ihr Heil in einer Rollenumkehr. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, braucht Veiel in seinem "Lehrstück" gut 150 Seiten. Im Film und auf der Bühne formuliert die Mutter des Täters ihre Allerweltsweisheit wesentlich früher:
"Ebenso gut hätte einer von unseren Jungs das Opfer sein können."
Andres Veiel: Der Kick. Ein Lehrstück über die Gewalt
DVA, München 2007
285 Seiten, 14,95 Euro
"In diesem Moment brannten bei mir die Sicherungen durch."
Damit ist eine grausame Gewalttat, der Mord an dem 16-jährigen Marinus Schöberl, nicht erklärt. Und auch viele andere Aussagen, die der Dokumentarfilmer Andres Veiel im uckermärkischen Dorf Potzlow gesammelt hat, können Umstände und Ursachen der Tat kaum erhellen. Der Staatsanwalt erkennt bei den Tätern, 17 bis 23 Jahre alt,
"ein dumpfes rechtsextremistisches Gedankengut und den unbedingten Willen, das in Gewaltform auszuleben"."
Zudem, so diagnostiziert der Jurist, fehle dem Dorf "der zivilisatorische Standard". Wie zur Bestätigung dieser Ferndiagnose heißt es in Veiels wortwörtlich wiedergegebenen Interviews über die Täter:
""Der hätte normalerweise in die Sonderschule gehört, aber nicht in die Gesellschaft."
Wenn dann die Mutter des Opfers von "tickenden Zeitbomben" spricht und die Formel beschwört "einmal Mörder, immer Mörder", dann wird klar, dass die schlichte Wiedergabe von Interviews und Vernehmungsprotokollen, auch das bei den Medien so beliebte Sammeln von Stimmen aus dem Umfeld nichts erklärt.
In einem Film gerät fatalerweise jeder dieser Kommentare zur "Aussage" im doppelten Sinn, wird zur persönlich beglaubigten Zeugenaussage und als allgemein gültiges Statement über den Einzelfall hinaus wahrgenommen. Diesem Dilemma begegnete Veiel in der Kinoversion und auch bei der anschließenden Bühneninszenierung mit dem Rückgriff auf ein Verfahren, das Peter Weiss in seinem Stück "Die Ermittlung" über die Auschwitzprozesse praktiziert hatte: Die Protokolle werden schlicht verlesen und damit auf ihren Gehalt reduziert.
Nun hat der Dokumentarist sein Material als Buch herausgebracht, mit dem Untertitel "Ein Lehrstück über Gewalt". Veiel hat dieses Buch um einen zweiten Teil ergänzt, den er "Annäherungen" nennt. Er rekonstruiert die Lebensläufe, weist unter anderem darauf hin, dass einer der Täter als Fünfjähriger vergewaltigt wurde, diesen strafmildernden Umstand aber vor Gericht nicht angeben mochte. Alle beteiligten waren Schulversager, galten als Zugezogene im Dorf als Außenseiter. Dass eine regelrechte Meute ihren Sohn als Achtjährigen vom Fahrrad riss, splitternackt auszog und zum Onanieren zwang, kommentiert die Mutter mit dem Satz:
"Das war so die Art Begrüßung hier."
Nach dem Diebstahl eines Mofas wird einer der späteren Mörder Marinus Schöberls von anderen Jugendlichen schwer misshandelt, zur Strafe. So etwas wird innerhalb der Dorfgemeinschaft abgemacht, Polizei und Justiz bleiben seit DDR-Zeiten außen vor. Latente Gewalt und auch die extremen Ausbrüche führt Veiel zurück auf die allgemeinen Erfahrungen nach 1945: Zwangsmaßnahmen der Besatzungsarmee zum Beispiel und demütigende Übergriffe einzelner Rotarmisten. Wenig später hätten die Dorfbewohner ansehen müssen, dass Nazi-Aufseher, die noch kurz zuvor polnische Zwangsarbeiter drangsaliert hatten, nun einflussreiche Positionen als LPG-Vorsitzende einnahmen. Enteignungen und Stasibespitzelung, nach der Wende dann der Einfall westdeutscher Investoren samt plötzlichem Zwang zu ungewohnter Selbstständigkeit und schließlich die grassierende Arbeitslosigkeit - all das reiht der beharrlich recherchierende Dokumentarfilmer ein in seine Liste möglicher Ursachen der Gewalttat.
Darüber hinaus sucht Veiel, seine eindrucksvollen Detailschilderungen mit Fußnoten aus der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur zu untermauern. Wenn etwa ein Täter angibt, der tödliche Fußtritt auf den Hinterkopf habe ihm einen wohligen "Kick" verschafft, relativiert ein Zitat des Soziologen Wolfgang Sofsky diese Aussage, lässt den verstörenden Einzelfall aufgehen im abstrakten Grau unscharfer Theorie. Aus Sofskys Überlegungen "Zur Soziologie des Konzentrationslagers" entnimmt Veiel die finale Ausdeutung des "Kick":
"Indem er das Opfer zu einem reaktionslosen Ding macht, erlangt er die Gewißheit, zu allem fähig zu sein. Der Exzeß ist ein Akt ungehemmter Selbstexpansion."
Das, so schreibt Veiel, gelte generell für Gewalttäter wie die Jugendlichen von Potzlow. Seine überraschende Feststellung, dass einer der Täter wenige Wochen zuvor ein schwer misshandeltes Opfer war, lässt Veiel als Buchautor nun zwischen einigermaßen abseitigen Vermutungen wie der These des Theologen Ferdinand Sutterlüty untergehen:
"Gewalt ist zu vergleichen mit einem epiphanen Erlebnis, dem Erlebnis einer Offenbarung im Leben einer Person: In einem bedeutsamen, oftmals krisenhaften Ereignis zeigt sich ihr individueller Charakter in neuem Licht."
Die Täter, um nicht selbst Opfer zu werden, suchten ihr Heil in einer Rollenumkehr. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, braucht Veiel in seinem "Lehrstück" gut 150 Seiten. Im Film und auf der Bühne formuliert die Mutter des Täters ihre Allerweltsweisheit wesentlich früher:
"Ebenso gut hätte einer von unseren Jungs das Opfer sein können."
Andres Veiel: Der Kick. Ein Lehrstück über die Gewalt
DVA, München 2007
285 Seiten, 14,95 Euro