Und wie Pächt die Nahsicht auf Details eines Bildes immer im Hinblick auf dessen Gesamtheit, auf das Bildganze als Wirkungszusammenhang, wählte (also dem Erbsenzählen ebenso abhold war wie dem schwadronierenden Ungefähr), so ging es ihm bei den Künstlern, denen er sich widmete, auch um ihre Stellung im kunstgeschichtlichen Kontext. Gerade hier bewährt sich der aufs Werk konzentrierte Blick, der sich von biographischen und soziokulturellen Vorgaben, von Vor-Urteilen nicht beirren lässt und zu gut fundierten Wertungen, zu frappanten Neubewertungen führt.
So sieht Pächt in Jacopo Bellini, der zwischen 1423 und 1470/71 in Erscheinung trat, gewissermaßen den Urvater der venezianischen Malerei, die später durch ihre unvergleichlich lichten, atmosphärischen Stadtansichten berühmt wurde. Er zeigt an den spärlichen noch erhaltenen Gemälden und besonders an zwei Skizzenbüchern, wie sich Jacopo zusehends von der Spätgotik löste, byzantinische Einflüsse abstreifte und seinen Figuren durch Rundformen Körperlichkeit gab; wie er durch die räumliche Darstellung in seinen religiösen Bildern Daseins- und Erscheinungswelt voneinander schied; wie ihm die Konstruktion einer bildfüllenden Architektur immer mehr zum Anliegen wurde und die eigentliche thematische Vorgabe - etwa den Tempelgang Mariae - zurückdrängte: Ein erster Schritt in Richtung auf die Vedute des 17. Jahrhunderts; wie auch in dem Goldstaub, der als Lichtreflex die Faltengewänder höht, schon eine Grundeigentümlichkeit des venezianischen Kolorits aufscheint.
Der Autor setzt Jacopos ‚Stilwollen' - ein Begriff, mit dem er sich wissenschaftsgeschichtlich zur Tradition Alois Riegls und Max Dvoráks bekennt - deutlich von anderen Schulen (wie der florentinischen) ab. Ihm geht es darum, den wesentlichen Anteil der Venezianer Jacopo und seiner Söhne Gentile und Giovanni Bellini an der Entdeckung des spezifisch Malerischen in der europäischen Kunst herauszuarbeiten. Für ihn manifestiert sich an diesen dreien das venezianische, und das heißt ein überindividuelles, ‚Kunstwollen'. Der Star unter ihnen und auch Pächts persönlicher Favorit ist Giovanni, der eine Vorahnung gibt vom Stimmungsgehalt des Lichts in der späteren venezianischen Malerei, der den Raum weit souveräner handhabt als noch der Vater und der den Weg zur Landschaftsidylle weist.
Er, der anfangs stark unter dem Einfluss seines Schwagers Mantegna stand, wird zum legitimen Nachfolger Jacopos und zum Vollender. Wie faszinierend ist das Ausdrucksspektrum seiner Madonnenbilder, für die er berühmt wurde und an denen sich Pächts Ansatz , dass Form und Inhalt eins seien, bewahrheitet. War Jan van Eyck der Fixstern nördlich der Alpen, so war es Giovanni Bellini im Süden, daran lässt der Autor keinen Zweifel. Und seine Ausführungen überzeugen von der These, beiden Meistern sei es nicht um ein Umkreisen des Gegenstandes mit dem Auge gegangen, sondern um den stillgestellten Blick.
Wieder sind wir beim Sehen. Otto Pächt öffnete seinen Schülern - und jetzt uns Lesern - die Augen für ein genaues und reflektiertes Hinschauen und begründete so eine neue Schule des Sehens, die ihn zu Lebzeiten als einen Wissenschaftler von internationalem Rang auswies und durch die er bis in die Gegenwart seines Fachs hineinwirkt. Allein das rechtfertigt es, dass der Prestel-Verlag die tatsächlich druckreifen Vorlesungen über die Malerfamilie Bellini und Andrea Mantegna ins Programm genommen hat, nachdem seine Vorlesungen über mittelalterliche Buchmalerei, über die Altniederländer, über van Eyck und Rembrandt schon seit längerem publiziert und auch in verschiedene Sprachen übersetzt sind. Dass wir von einem heute nurmehr selten anzutreffenden universellen Wissen, von begrifflicher Präzision und vollkommener sprachlicher Souveränität profitieren dürfen, ist ein Vorzug, der dieses Buch eben nicht nur für ein Fachpublikum interessant macht.