Unverändert überqueren täglich tausende Venezolaner die Grenze zu Kolumbien. Viele um Lebensmittel zu kaufen, die es in ihrem Land schon seit Jahren nicht mehr gibt. Viele, um zu bleiben. Mehr als vier Millionen haben ihrem Land in den letzten drei Jahren den Rücken gekehrt, jeder achte Venezolaner also. Unverändert sind ihre Fluchtgründe: Die Gesundheitsversorgung ist zusammengebrochen, Stromausfälle sind an der Tagesordnung, es gibt kaum Leitungswasser, die knappen Lebensmittel sind in der Hyperinflation nicht mehr bezahlbar.
Ein Ende des Alptraums, in dem die Bevölkerung lebt, ist nicht in Sicht: Oppositionsführer Juan Guaidó, der vom Parlament im Januar als Übergangspräsident bestätigt wurde, liefert sich seitdem einen Machtkampf mit Nicolás Maduro, dem Chef der sozialistischen Regierung.
Weil Guaidó von den auf Regierungslinie gebrachten Medien totgeschwiegen wird, bleibt ihm nur der direkte Kontakt zur Bevölkerung. Er tourt durch das am Boden liegende Land. Unermüdlich schüttelt er Hände und hält Reden.
Bisher kein greifbarer Erfolg gegen Maduro
Der Präsident des entmachteten Parlaments, der letzten verbliebenen demokratisch legitimierten Institution, konnte bislang keine greifbaren Erfolge gegen Maduro verbuchen. Trotzdem stehen laut Meinungsforschungsinstitut Datanalisis immer noch fast 50 Prozent der Bevölkerung hinter ihm. Machthaber Maduro kommt nur auf magere 12 Prozent.
Viele Sympathiepunkte brachte Guaidó seine harte Haltung gegenüber Maduro ein: Nach wie vor fordert er dessen Rücktritt sowie Neuwahlen. Außerdem lehnte er Verhandlungen mit der sozialistischen Regierung anfangs kategorisch ab, denn jeglicher Dialog endete für die Opposition in der Sackgasse, deshalb glaubt die stark polarisierte Bevölkerung kaum noch an Gespräche. Nach internationaler Vermittlung änderte Guaidó seine Meinung im Sommer jedoch. Nach Norwegen und Barbados entsandte Vertreter brachten die Maximalforderungen der Opposition auf den Tisch.
Aber Maduros Seite ging darauf nicht ein. Sie beendete den Dialog und ersann eine List: Ein eigener Dialog in Caracas, ohne das Zutun ausländischer Vermittler und ohne Guaidó solle den politischen Stillstand beenden. Einige gemäßigte, wenig repräsentative Parteien des Oppositionsbündnisses setzen sich mit der Regierung an den "Tisch des Nationalen Dialogs".
Politische Manöver
Für die Politologin Francine Jácome aus Caracas ist das ein politisches Manöver Maduros, das der Internationalen Gemeinschaft suggerieren soll, er sei zu Verhandlungen bereit:
"Maduro verhandelt aber nicht mit der Opposition, die im Parlament die Mehrheit hat, sondern mit einer ganz nach seinem Zuschnitt. Deshalb erwarte ich auch keinen größeren Effekt. Maduros Strategie ist die Spaltung des Oppositionsbündnisses und dadurch auch die Schwächung des Parlaments und Guaidós. Er will der Bevölkerung zeigen, dass die Opposition schon wieder den Fehler macht, sich mit der Regierung an einen Tisch zu setzen. Außerdem will er von der humanitären Krise ablenken, von Hyperinflation und Massenflucht."
Wie in früheren, gescheiterten Dialogprozessen gehe es der Regierung darum, Zeit zu gewinnen und dem politischen Gegner eine Falle zu stellen, so Jácome.
Dialog zwischen Regierung und Teilen der Opposition
Allerdings hat Maduro bereits erste Zwischenergebnisse präsentiert: Der Vizepräsident des entmachteten Parlaments, Edgar Zambrano, einer der prominentesten politischen Gefangenen, wurde in dieser Woche nach mehr als vier Monaten aus der Haft entlassen. Die Verhandlungspartner haben sich darauf verständigt, dass Abgeordnete der sozialistischen Partei in die Nationalversammlung zurückkehren und dass der regierungstreue Wahlrat neu gebildet wird. Die US-amerikanischen Sanktionen lehnen beide Seiten ab.
Diese im Sommer verschärften Sanktionen verurteilen auch Ökonomen wie Víctor Alvarez, früherer Industrieminister der sozialistischen Regierung. Heute gehört er zu ihren Kritikern und zu den wenigen Stimmen in Venezuela, die Gespräche zwischen Regierung und dem wenn auch kleinen Teil der Opposition befürworten:
"Das sind Fortschritte, die den Weg für eine politische und vor allem friedliche Lösung freimachen können. Dialogprozesse stoppen das Streben einiger Sektoren nach militärischen, gewaltsamen Auswegen, sie schalten die Extremisten um Juan Guaidó aus, die unbedingt das interamerikanische Verteidigungsbündnis aktivieren wollen. Ein Dialog erschwert außerdem das Bestreben Juan Guaidós, einen Artikel unserer Verfassung zu aktivieren, der ausländische Militäreinsätze in Venezuela möglich macht. All diese Signale sind gut, weil sie eine friedliche Lösung des venezolanischen Konflikts ermöglichen."
Maduro vertieft die alten Gräben
Guaidó lehnt die Gespräche zwischen Regierung und Abweichlern ab. Seine bisher größte Leistung war, das zerstrittene und in viele Parteien und Gruppierungen zersplitterte Oppositionsbündnis zu einen und hinter sich zu bringen. Aber im Laufe des ergebnislosen Machtkampfs sind die alten Gräben wieder sichtbar geworden und Maduro vertieft sie jetzt geschickt. Das schwächt Guaidó, der Anfang des Jahres noch als Shootingstar der Opposition galt.
Zudem hat er seinen Fürsprecher im Weißen Haus verloren – Donald Trumps bisherigen Sicherheitsberater John Bolton. Ohne ihn als Trump-Flüsterer könnte sich mit Blick auf Venezuela eine pragmatischere Politik durchsetzen. Die US-Regierung kommentierte den neuen Schachzug Maduros knapp: Ernsthafte Verhandlungen könne es nur zwischen Regime und Guaidó geben.
Dialog oder nicht – die Debatte dringt bis zur notleidenden Bevölkerung kaum durch. Sie spürt, wie sich die Krise tagtäglich verschärft. Verantwortlich ist ein Mix aus Misswirtschaft, zusammengebrochener Erdölproduktion und zuletzt auch Sanktionen gegen die Regierung in Caracas. Für die Menschen geht es nur noch ums Überleben.