Grenzkonflikt
Warum Venezuela und Guyana um die Essequibo-Region streiten

Die Essequibo-Region gehört zu Guyana. Der Nachbarstaat Venezuela erhebt aber Anspruch auf das ölreiche Gebiet. Nun haben beide Länder vereinbart, in dem Konflikt keine Gewalt auszuüben.

    Ein Banner trägt die Aufschrift: "Essequibo gehört zu Guyana".
    Streit um ein Stück erdölreiches Land: Venezuela plant, die Region Essequibo in Guyana zu annektieren. Die Menschen in Guyana wollen das nicht zulassen. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Mika Otsuki)
    Der Konflikt um die rohstoffreiche Region Essequibo zwischen Venezuela und Guyana schwelt seit langer Zeit. Das Gebiet gehört seit einem internationalen Schiedsspruch 1899 zu Guyana, doch Venezuela erkennt die Gerichtsentscheidung nicht an.
    Im Dezember 2023 hatten sich der venezolanische Präsident Nicolás Maduro und sein guyanischer Amtskollege Irfaan Ali darauf geeinigt, in dem Konflikt auf Gewalt und Drohungen zu verzichten. Doch nun hat Maduro ein Gesetz verabschiedet, nach dem aus der Region ein neuer venezolanischer Bundesstaat werden soll. Das nährt Befürchtungen, dass der Konflikt doch irgendwann eskaliert.

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    Waldgebiet in Guyana, das vom Essequibo-Fluss geteilt wird. (AP Photo/Matias Delacroix)
    Die Essequibo-Region in Guyana besteht vor allem aus Wäldern: Der Fluss Essequibo markiert die östliche Grenze des Gebiets (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Matias Delacroix)

    Wo liegt die Region Essequibo?

    Das südamerikanische Guyana war jahrhundertlang ein Kolonialstaat und stand unter der Herrschaft der Niederlande, später dann Frankreichs. Zuletzt gehörte es zum britischen Empire. Erst 1966 wurde Guyana unabhängig. Die international anerkannten Grenzen wurden allerdings schon früher gezogen, 1899 legte sie ein Schiedsgericht fest.
    Venezuela erkennt diese Entscheidung aber nicht an und betrachtet den Fluss Essequibo als natürliche Grenze zum Nachbarstaat. Das Gebiet, das Venezuela für sich beansprucht, entspricht fast zwei Dritteln des gesamten Staatsgebiets Guyanas. Etwa 125.000 Menschen leben dort.
    Dabei beruft sich Venezuela auf die Grenzen von 1777 und das Genfer Abkommen von 1966, das von Venezuela und Guyana verlangt, eine einvernehmliche Lösung im Umgang mit der Region Essequibo zu finden.

    Warum Venezuela Interesse an der Region Essequibo hat

    Im Jahr 2015 entdeckte der US-amerikanische Ölkonzern ExxonMobil vor der Küste der Essequibo-Region riesige Ölvorkommen. Die Öl-Reserven Guyanas werden seitdem auf mehr als zehn Milliarden Barrel geschätzt.
    Seit der Erschließung der neuen Ölquellen stieg der guyanische Export des weltweit begehrten Rohstoffs stark an. Das Land erlebt ein beispielloses Wirtschaftswachstum.
    Prognosen zufolge könnte sich das kleine Land, in dem nur 800.000 Menschen leben, schon bald zum wichtigsten Ölförderer Südamerikas entwickeln. Außerdem verfügt Guyana über weitere wertvolle Bodenschätze wie seltene Erden, Bauxit, Mangan, Diamanten und Gold.
    Infografik zeigt welche Länder über die größten Ölreserven der Welt verfügen (Stand: 27.08.2021). Auch in der Essequibo-Region in Guyana können in den kommenden Jahren Millionen Barrel Öl gefördert werden.
    Venezuela verfügt mit mehr als 300 Milliarden Barrel über größten Ölreserven der Welt (Stand: 27.08.2021) (dpa-infografik)
    Aktuell besitzt Venezuela die größten Ölreserven der Welt. Trotzdem will sich Staatschef Maduro, der das Land autoritär regiert und Regimekritiker unterdrückt, weitere Ölquellen sichern.

    Wie Venezuela eine mögliche Annexion vorbereitet

    Anfang Dezember 2023 ließ Venezuelas Präsident Maduro die Bevölkerung Venezuelas über die Annexion der Essequibo-Region abstimmen. Nach Angaben der Regierung lag die Zustimmung bei 96 Prozent. Allerdings hegen unabhängige Beobachter und Oppositionelle Zweifel am Wahlergebnis. In den Medien kursierten Bilder von leeren Wahllokalen.
    Maduro feierte seinen Erfolg, indem er eine Landkarte enthüllte, die Venezuelas neue Außengrenzen zeigt. Sie soll künftig in den Schulen Venezuelas zum Einsatz kommen.
    Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro zeigt am 8. Dezember 2023 eine Landkarte mit neuen Landesgrenzen. Mariela Lopez / Anadolu
    Will die Landesgrenze Venezuelas nach Osten verschieben: Präsident Nicolás Maduro (picture alliance / Anadolu / Mariela Lopez)
    Im April 2024 wurde in Venezuela dann ein Gesetz verabschiedet, nach dem die Essequibo-Region zu einem neuen Bundesstaat des Landes werden soll. "Die Entscheidung, die das venezolanische Volk in dem konsultativen Referendum getroffen hat, wird in allen ihren Teilen erfüllt werden, und mit diesem Gesetz werden wir Venezuela auf der internationalen Bühne verteidigen", sagte Maduro.

    Wie Guyana auf die venezolanischen Drohungen reagiert

    Guyanas Präsident Irfaan Ali fordert, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag den Grenzkonflikt mit einer rechtlich bindenden Entscheidung löst. Ali sieht sein Land in seiner territorialen Integrität, Souveränität und politischen Unabhängigkeit bedroht.
    Der Internationale Gerichtshof hat Venezuela ermahnt, alles zu unterlassen, was den Konflikt weiter befeuern könnte. Guyana hat mit den USA einen starken Verbündeten, der bereits angekündigt hat, mit Militärflugzeugen im Luftraum von Guyana verstärkt Präsenz zu zeigen.
    Mehrere südamerikanische Staaten, darunter Argentinien, Brasilien und Kolumbien, drängen auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Zusätzliche Spannungen in der Region wollen die Länder, die vor wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen stehen, unbedingt vermeiden.
    Einer Initiative südamerikanischer Länder folgend trafen sich Nicolás Maduro und Irfaan Ali Mitte Dezember 2023 im karibischen Inselstaat St. Vincent und die Grenadinen. Auch Vertreter der Karibischen Gemeinschaft, der brasilianischen Regierung, der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) sowie Beobachter der Vereinten Nationen waren dabei.
    Venezuela und Guyana einigten sich auf einen Gewaltverzicht, fanden aber in der eigentlichen Streitfrage keine Lösung.

    Wird es zu einem Krieg um die Grenzen kommen?

    Weder Venezuela noch Guyana haben Interesse an einem Krieg und streben eine Beilegung des Konflikts auf Grundlage von Verhandlungen an. Doch es ist völlig unklar, wie eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung aussehen könnte.
    Kenner der Region weisen darauf hin, dass sich Maduro eine Eskalation nicht erlauben kann. Er würde damit sein Land international isolieren und müsste mit weiteren US-Sanktionen rechnen.
    Wahrscheinlicher sei, vermutet der Politologe Benigno Alarcón Deza von der Katholischen Universität Andrés Bello in Caracas, dass Maduro mit seinem Vorstoß von innenpolitischen Problemen ablenken will: der Armut, der Inflation, der Abwanderung von Millionen Venezolanerinnen und Venezolanern. Acht Millionen Menschen sind in den letzten Jahren ausgewandert.
    Aktuell leben in Venezuela rund 28 Millionen Menschen. Venezuela hat die weltweit größten Erdölreserven und Raffinerien. Doch fehlende Investitionen, die Abwanderung von Arbeitskräften und Missmanagement der staatlichen Erdölgesellschaft haben die Produktion so stark vermindert, dass sogar Benzin im Land knapp ist.
    Die allermeisten Venezolaner sind arm, der Wohlstand ist sehr ungleich verteilt. Die Lebenshaltungskosten sind vergleichbar mit denen in Europa, die Löhne zugleich extrem niedrig.
    Außerdem stehen im Juli 2024 Präsidentschaftswahlen an. Maduro tritt erneut an. Seine Ankündigung, die Landesgrenzen verschieben zu wollen, könnte auch dazu dienen, bei den Venezolanern patriotische Gefühle zu erzeugen - und Stimmen zu sammeln.

    rey