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Venezuela
Juan Guaidó - der "Selbsternannte"?

Selbsternannt, Interims- oder Übergangspräsident - für das Amt des venezolanischen Politikers Juan Guaidó gibt eine Fülle von Begriffen. Vor dreieinhalb Monaten hat der junge Parlamentspräsident seinen Eid auf die Verfassung abgelegt. Seitdem ist unklar, welche Funktionsbezeichnung ihm gerecht wird.

Anne-Katrin Mellmann |
Der venezolanische Oppositionsführer Juan Guaidó bei einer Rede in Caracas am 23.1.2019
Der venezolanische Oppositionsführer Juan Guaidó bei seiner Vereidigung in Caracas am 23.1.2019 (AFP / Federico Parra)
Vor Zehntausenden schwört Juan Guaidó am 23. Januar auf Gott und Verfassung - wie der Präsident Venezuelas. Das war keine Überraschung: Schon zu Jahresbeginn hatte das oppositionsdominierte, aber entmachtete Parlament den Chef der sozialistischen Regierung Maduro gewarnt: Sollte er seine zweite Amtszeit am 10. Januar antreten, werde es ihn nicht anerkennen, weil er nicht durch demokratische Wahlen bestätigt worden sei, und: Es werde Artikel 233 anwenden. Die Verfassung sagt: Wenn der Präsident abwesend ist, folgt ihm automatisch der Parlamentspräsident. Der heißt Juan Guaidó. Von "Selbsternennung" könne deshalb nicht die Rede sein, meint Verfassungsrechtler Alí Daniels von der Universität Andrés Bello in Caracas:
"Alles, was noch fehlte, war der formale Akt der Vereidigung. Das war eine reine Formalie, weil die Vorschrift, dass der Parlamentspräsident bei Abwesenheit des Präsidenten eingesetzt werden muss, automatisch und sofort zur Geltung kommt. Das war keine spontane Idee Guaidós, sondern das Parlament hatte ihn vorab dazu bestimmt."
Vereidigung auf der Straße
Aus Angst vor Übergriffen durch Sicherheitskräfte und paramilitärische Gruppen auf Parlamentssitzungen habe die Vereidigung auf der Straße stattgefunden, so Daniels. Sonst wäre der Zusatz "selbsternannt" möglicherweise gar nicht erst aufgetaucht. Begriffe wie der vom Parlament "eingesetzte" oder "bestätigte" wären treffender. Auch seien die Bezeichnungen "Interims- oder Übergangspräsident" problematisch, erklärt der Anwalt und Verfassungsrechtler von der venezolanischen Zentraluniversität, Pedro Afonso del Pino:
"Der Begriff "Interimspräsident" taucht in der Verfassung nicht auf. Laut Artikel 233 kann das Parlament seinen Chef vorübergehend mit der Präsidentschaft beauftragen. Es handelt sich also um einen "beauftragten" Präsidenten, nicht um einen "Übergangspräsidenten". Was in Venezuela momentan passiert, entspricht dem Artikel 233 nicht ganz. Es ist eine neue, einzigartige und komplexe Situation. Es gibt keinen Übergangspräsidenten und ohne Staatsapparat auch keine Übergangsregierung. Was es gibt, ist eine Nationalversammlung, die versucht, einen politischen Übergang mit ihrem Parlamentschef Juan Guaidó voranzubringen."
In einer Staatskrise wie dieser sei nichts normal, sind sich die Juristen einig, und eine rein juristische Analyse deshalb schwer möglich. Die sozialistische Regierung von Nicolas Maduro verletze die Verfassung seit Jahren systematisch. Unter anderem hat sie dem demokratisch gewählten Parlament eine angebliche verfassungsgebende Versammlung übergeordnet, die aber gar nicht die Verfassung ändert, sondern Vorhaben der Regierung absegnet.
Verfassungsakrobatik auch bei der Opposition
Aber auch der Opposition werden "Verfassungsakrobatik" oder "legalistische Bemühungen" vorgeworfen. Schließlich war Machthaber Maduro nie "abwesend", wie Artikel 233 voraussetzt. Theoretisch hätte Guaidó nach seiner Ernennung innerhalb von 30 Tagen Wahlen ausrufen müssen, aber wie, wenn die Gewaltenteilung aufgehoben ist, Wahlrat und Oberstes Gericht nicht unabhängig arbeiten? Deshalb hat das Parlament einen rechtlichen Rahmen verabschiedet: Die 30-Tage-Regelung tritt erst in dem Moment in Kraft, in dem die "unrechtmäßige Machtaneignung" endet, sprich: Maduro zurücktritt.
Solange bleibt Juan Guaidó keinesfalls ein "selbsternannter Interimspräsident", sondern ein vom Parlament eingesetzter Präsident, der allerdings nicht amtieren kann. Dazu fehlt ihm die faktische Macht.