Eine schier endlose Menschenschlange windet sich um das ockerfarbene Gebäude der Migrationsbehörde. Die Grenzstadt San Antonio wirkt wie im Belagerungszustand. Frauen, Kinder, vor allem aber junge Männer stehen auf dem Gehsteig, teils an die Wand gelehnt, andere sitzen auf Koffern und Kisten mit dem Nötigsten.
"Ich stehe an, um die Ausreise in meinem Pass abstempeln zu lassen."
Seit sechs Uhr früh, fünf lange Stunden bereits, wartet Antonio. Er hat schon die lange Reise aus dem östlichen Bundesstaat Anzoategui hinter sich – fast 1.000 Kilometer entfernt.
"Ich möchte ein besseres Leben für mich und meine Familie. Ich lasse die Familie zurück. Ich habe in der Ölindustrie gearbeitet, aber hier sehe ich keine Zukunft. Da ist nichts mehr zu holen."
Dabei ist die Ölindustrie Venezuelas wirtschaftliches Rückgrat: Mehr als 90 Prozent seiner Einnahmen erzielt der Staat mit Öl.
Die Schlange bewegt sich nicht. Das System ist zusammengebrochen. Es gibt kein Internet. Die Menschen werden unruhig.
"Derzeit ist das eine totale Diktatur." Klagt ein anderer junger Mann. Auch er kommt aus der Ölindustrie.
"Ich will eine neue Chance, will nach Bogotá oder in ein anderes Land, besser als in Venezuela ist es da allemal."
"Alles was die Regierung anpackt, macht sie kaputt. Je mehr sie kontrollieren, desto mehr geht kaputt. Und mit der Verfassungsversammlung machen sie uns Angst, das gibt nur mehr Diktatur noch mehr Kontrolle."
Ergänzt ein junger IT-Student. Frau und Kind hat er zurückgelassen. Er will nach Peru, wenn er denn endlich seinen Stempel bekommt.
Grenze darf nur zu Fuß überquert werden
Diejenigen, die es geschafft haben, schleppen ihre Koffer in brütender Hitze Richtung Grenzübergang. Autos sind verboten: Nur zu Fuß darf die erst vor einem Jahr wieder geöffnete Grenze überquert werden.
Venezolanische Sicherheitsbeamte kontrollieren sporadisch Taschen: Denn unter den 30.000 Personen, die alltäglich über die Brücke Simon Bolivar ins kolumbianische Cucutá ausreisen, sind viele Schwarzhändler und Schmuggler, die abends zurückkehren. Mitten auf der Brücke preisen ambulante Verkäufer ihre Waren an.
"Joghurtkäsekugeln verkaufe ich. Die Situation im Land ist schrecklich."
Nur schrittweise kommt die Schlange voran. Kolumbianer rechts, Ausländer links: Kolumbianische Beamte versuchen die nicht abebben wollende Menschenmenge zu kontrollieren. Am Ende der Brücke stempelt die Grenzbehörde Pässe: Keine Schlange, kein Warten - hier funktionieren die Systeme. Das Gros der Venezolaner reist zudem inoffiziell ein. Andere stürmen mit Karren bewaffnet in die Läden: Säcke Mehl, Reis, Kisten mit Öl und Klopapier stapeln sich - alles, was es in Venezuela nicht gibt.
Blühender Schwarzhandel
"Eine Gallone Benzin kaufe ich, kostet 6.000 Pesos."
Für zwei Dollar lässt sich indes Taxifahrer Fernando das aus Venezuela über die grüne Grenze geschmuggeltes Benzin einfüllen. Günstig – aber für den Preis kann man in Venezuela Hunderte Liter, ja einen ganzen Tankwagen voll Benzin kaufen. An den Tankstellen dort sind kilometerlange Warteschlangen zu sehen, denn der Verkauf im Grenzgebiet ist limitiert oder wird an Sondertankstellen zu höheren Preisen abgewickelt.
Der Schwarzhandel blüht auf beiden Seiten der Grenze.
Nach zehn Minuten Fahrt erreicht das Taxi das Centro de Migraciones, das Einwanderungszentrum, ein kleines flaches Gebäude in einer unauffälligen Seitenstraße Cucutas.
"Zehn Stunden habe ich von Zulia hierher gebraucht, meine kranke Mutter, meine Familie habe ich zurückgelassen", erzählt Lisandra Nunez. Sie sei ohne einen Pfennig hier.
Die hübsche Mittvierzigerin mit den blaugrünen Augen hofft jetzt auf Unterstützung des Centro de Migración.
Aufenthalt für bis zu zwei Jahre
"Wir kanalisieren die Ankommenden: Familien mit Kindern haben Vorrang und sie dürfen nur einmal für ein paar Tage hier bleiben, weil wir Durchgangsstation sind."
Das Zentrum regelt Asylanträge und zahlt die Weiterreise, erklärt Koordinator Willington Munoz. 90 Tage Aufenthalt – auf zwei Jahren verlängerbar gewährt die Regierung den Venezolanern problemlos. In allen größeren Städten vor allem in Grenznähe können sie ihren Status legalisieren.
200 Menschen finden in dem für 100 Personen ausgelegten Centro Platz. Die Zahl der Ankömmlinge steigt kontinuierlich, viele müssen abgewiesen werden. Hauptsächlich Wirtschafts- einige politische Flüchtlinge, geflohene Kolumbianer, die zurückkehren … Viele, vor allem Jugendliche ohne Pass müssen auf der Straße schlafen…. Steigt die Kriminalität, die Prostitution?
"Hier gibt es viel Armut, einen großen informellen Sektor. Da werden die Einwanderer schon als Konkurrenten um Arbeit gesehen, aber nicht so sehr wie in Europa", erklärt Pater Francesco Bortignon. Seit Jahrzehnten arbeitet der Italiener auf beiden Seiten der Grenze und erinnert an die Zeiten des Öl-Booms, als Millionen von Kolumbianern aus Not oder als Bürgerkriegsflüchtlinge ins gelobte Land Venezuela ausgewandert sind. Jetzt ist ein friedfertiger gewordenes Kolumbien für viele Venezolaner das gelobte Land geworden.