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Venezuela
Protest statt Karneval

Ein Jahr nach dem Tod von Hugo Chavez kocht in Venezuela die Unzufriedenheit über. Vor allem Studenten gehen auf der Straße, um gegen soziale Missstände zu protestieren. Die breite Mehrheit der Bevölkerung haben sie allerdings noch nicht hinter sich.

Von Martin Polansky |
    Karneval in Caracas. Andres ist 24. Der Student der Politik hat sich als Brotpackung verkleidet. In einer Fußgängerzone demonstriert er mit einigen Studienkollegen. Die anderen gehen als Speiseölflaschen oder Klopapierrollen. Alles Dinge, die man nur schwer bekommt, sagt Andres:
    "Man steht stundenlang in einer Schlange. Oder du kannst versuchen, über soziale Netzwerke weiterzukommen. Es gibt spezielle Apps, die anzeigen, wo es zum Beispiel gerade Mehl gibt. Da rennen dann alle hin."
    Paula, 21, ist extra aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen. Sie studiert Ingenieurwesen. Nach 15 Jahren sozialistischer Regierung sieht sie kaum noch eine Zukunft für sich in Venezuela:
    "Viele Firmen wurden verstaatlicht oder sie haben gleich das Land verlassen. Es gibt Listen über Leute, die offen gegen die Sozialisten sind. Wenn man darauf landet, hat man es schwer, in einem öffentlichen Betrieb einen Job zu bekommen."
    Der neue Mensch
    Venezuelas Hochschulsystem ist dreigeteilt. Es gibt die angesehenen Privat-Unis, die Bildungsstätten vor allem der Oberschicht. Ein paar tausend Dollar muss man schon hinlegen pro Jahr. Dann gibt es die traditionsreichen und kostenlosen öffentlichen Unis, wie die große Universidad Central de Venezuela in Caracas. Hier studiert traditionell die Mittelschicht. Die UCV war schon immer stark politisiert. Deren Studenten haben schon manchen Protest vorangetrieben – wie auch jetzt.
    Als dritte Säule haben die Sozialisten die sogenannten Bolivarischen Universitäten aufgebaut. Die sollen zum einen jungen Leuten aus den ärmeren Vierteln eine höhere Bildung ermöglichen – ein mittlerer Schulabschluss reicht bereits für den Zugang. Zum anderen dienen diese Einrichtungen der ideologischen Umgestaltung Venezuelas. Gustavo Specht ist Professor für Wirtschaft. Für ihn ist klar: Die Bildung müsse einen neuen Menschen formen:
    "Der Prozess des sozialistischen Denkens wächst mit Geist, der ihn trägt. Es geht um Gemeinsinn und Solidarität statt Egoismus. Das zu erreichen, kann zwanzig, dreißig Jahre dauern."
    Wenig zu verlieren
    Andres und Paula glauben nicht an die neue Gesellschaft. Sie sehen in Venezuela ein Land im Niedergang – deshalb sind sie nun mehr auf der Straße als in der Uni. Längst geht es ihnen nicht mehr um einzelne Forderungen. Die Regierung müsse weg – und die Studenten seien die Avantgarde des Umbruchs, meint Paula:
    "Wir haben noch nicht so viel zu verlieren. Einen Arbeiter, der protestiert, können sie dagegen rausschmeißen. Wir Studenten retten das Land."
    Unübersehbar sind aber auch die Schwächen der Studentenproteste: Tausende junge Leute sind zwar beinah täglich auf den Straßen. Aber es fehlt eine Strategie für den Machtwechsel. Und: Trotz aller Wirtschaftsprobleme regt sich noch kein lauter Protest in den Armenvierteln. Andres und Paula glauben trotzdem, dass es sich lohnt weiterzumachen:
    "Ich hoffe, dass Venezuela absehbar ein anderes Land wird. Das uns Möglichkeiten bietet, voranzukommen. Das eine bessere Bildung hat und in dem man Arbeit findet, von der man leben kann."
    "Ich setze auf ein freies Land in Zukunft. Auf einen neuen Präsidenten, der die Menschen nicht weiter spaltet, sondern zusammenführt. Damit wir vorankommen."