Tobias Armbrüster: Venezuela leidet seit Jahren unter einer handfesten Wirtschaftskrise. Jetzt kommt auch noch eine Staatskrise dazu. Der Oberste Gerichtshof des Landes hat gestern das Parlament entmachtet und damit den Willen von Präsident Nicolas Maduro erfüllt. Dem war das bürgerlich dominierte Parlament schon lange Zeit ein Dorn im Auge. – Am Telefon können wir über diese ganze Entwicklung jetzt sprechen mit Detlef Nolte. Er ist Direktor am Giga-Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg. Schönen guten Tag, Herr Nolte.
Detlef Nolte: Schönen guten Tag aus Hamburg.
Armbrüster: Ist das ein Staatsstreich, den wir da in Venezuela erleben?
Nolte: Ja, das glaube ich. Ohne Zweifel kann man das als einen Staatsstreich von oben bezeichnen. In Lateinamerika oder auf Spanisch gibt es den schönen Begriff des "autogolpe", den selbst ausgeübten Staatsstreich durch die Regierung. Der Präsident hat in Kooperation mit dem Obersten Gerichtshof gewissermaßen alle Staatsorgane gleichgeschaltet, das Parlament entmachtet, und diese Entmachtung fing eigentlich schon vor knapp einem Jahr an, als die Opposition die Parlamentswahlen gewonnen hat, und Schritt für Schritt wurden dem Parlament Kompetenzen weggenommen. Und jetzt sind wir in der komischen Situation, dass der Oberste Gerichtshof sich jetzt selbst die Gesetzgebungskompetenzen zugeschrieben hat. Gleichzeitig hat er dem Präsidenten Ausnahmevollmachten eingeräumt und auch die Immunität der Parlamentarier aufgehoben, sodass man ganz klar sagen kann, das ist ein Staatsstreich.
Armbrüster: Wieso funktioniert das denn so reibungslos, diese Zusammenarbeit zwischen Präsident und Oberstem Gerichtshof?
Nolte: Wir kennen ja diesen Begriff aus der deutschen Geschichte. Es handelt sich um eine klassische Gleichschaltung. Der Präsident hat rechtzeitig, bevor die oppositionelle Mehrheit im Parlament ihre Sitze einnehmen konnte, den Obersten Gerichtshof mit Gefolgsleuten besetzt. Das Gleiche geschah mit der obersten Wahlbehörde. Und seitdem gibt es kein einziges Urteil des Obersten Gerichtshofs gegen die Regierung, sondern ungefähr 50 bis 60 Urteile des Obersten Gerichtshofs, wo Entscheidungen des Parlaments quasi wieder aufgehoben wurden. Das ist so absurd, dass selbst der Oberste Gerichtshof gegen Vorschriften, die klar in der Verfassung vorgegeben sind, was sind die Kompetenzen des Parlaments, dass der Oberste Gerichtshof, der eigentlich die Verfassung hüten soll, die Verfassung in den letzten Monaten ständig gebrochen oder vergewaltigt hat.
"Regierung hat Angst sich dem Wählerwillen zu stellen"
Armbrüster: Jetzt haben wir in Venezuela vor allen Dingen diese beiden Machtzentren, die sich gegenüberstehen. Da ist auf der einen Seite der Präsident, wir haben es besprochen, und dann das Parlament. Wieso blockieren die sich beide gegenseitig? Was haben die gegeneinander?
Nolte: Ich glaube, das ist ganz einfach. Ich würde auch nicht sagen, hier steht das Parlament gegen den Präsidenten. Hier steht eine kleine, machtgierige, korrupte Klicke, die sich an die Macht klammert, gegen die Mehrheit des Volkes. Bei den letzten Parlamentswahlen im Dezember vergangenen Jahres hat eine ganz klare Mehrheit sich gegen die Regierung ausgesprochen, der Opposition eine Mehrheit im Parlament gegeben. Und wenn man Meinungsumfragen nimmt, würde die Regierung jede Wahl deutlich verlieren. Deswegen wurden auch anstehende Kommunal- und Regionalwahlen immer wieder verschoben, obwohl die nach der Verfassung stattfinden sollten. Es gab ja auch eine Initiative der Opposition, was nach der venezolanischen Verfassung möglich ist, ein Abwahlreferendum des Präsidenten durchzuführen. Dieses wurde auch mit vorgeschobenen Argumenten verschoben. Wir sind in der komischen Situation, dass wir eine Regierung haben, die sich immer auf den Willen des Volkes beruft, die aber Angst hat, sich dem Wählerwillen und dem Votum des Volkes zu stellen.
Armbrüster: Wieso kann sich der Präsident denn trotz dieses Wählervotums so lange halten?
Nolte: Die jetzige Regierung, der jetzige Präsident Maduro ist ja der Nachfolger von Hugo Chavez, der ja über Charisma verfügte, und die jetzige Regierungspartei ist seit mehr als zehn Jahren an der Macht. Da haben sich Machtstrukturen verfestigt. Und bis jetzt kann sich die Regierung scheinbar immer noch auf das Militär stützen. Es ist letztlich eine Regierung, die auch in gewisser Weise vom Willen des Militärs abhängt, und ein möglicher Ausweg aus der Krise könnte durchaus sein, dass es in Teilen der Streitkräfte vielleicht doch mittlerweile auch eine Stimmung geben könnte zu sagen, wer repräsentiert eigentlich das Volk, die Regierung oder die Opposition.
Armbrüster: Jetzt sind wir hier natürlich weit weg, Herr Nolte. Aber können Sie uns trotzdem vielleicht eine Einschätzung darüber geben, wie sich das alles im Leben in Venezuela auswirken wird, im täglichen Leben, dieser Putsch?
Nolte: Die Bilder haben wir auch, glaube ich, im deutschen Fernsehen gesehen. Venezuela lebt in einer Wirtschaftskrise schon seit mehreren Jahren. Die Volkswirtschaft ist in den letzten vier Jahren um ein Viertel geschrumpft. Es gibt Versorgungsengpässe. Die medizinische Versorgung ist zusammengebrochen. Die Regierung selber musste ja die Vereinten Nationen um Hilfe anrufen. Jetzt kommt noch die Verschärfung der politischen Krise dazu. Es bleibt abzuwarten, ob die Menschen auf die Straße gehen. Es besteht ja auch die Angst vor der Repression. Und das Regime wird versuchen, die letzten verbleibenden Anhänger zu mobilisieren. Aber meine Vermutung ist, dass wir in den nächsten Tagen massive Proteste auf den Straßen in Venezuela sehen werden, und es ist nicht abzusehen, ob die in Gewalt enden und wie in einer Situation des Konfliktes dann letztlich auch die Sicherheitskräfte reagieren werden.
"Venezuela ist in der Region schon sehr isoliert"
Armbrüster: Jetzt hatte ja Venezuela jahrelang – Sie haben Hugo Chavez erwähnt – eine herausgehobene Stellung. Die Strahlkraft ging weit über die Landesgrenzen hinaus. Diese Staatskrise, die wir da jetzt erleben, dieser Staatsstreich, welche Folgen könnte der für den Kontinent haben?
Nolte: Zum einen muss man festhalten, dass Venezuela auf dem Kontinent mehr und mehr isoliert ist. Wir hatten Anfang dieser Woche eine Sitzung der Organisation Amerikanischer Staaten, wo sich eigentlich die große Mehrheit der Länder kritisch zu Venezuela geäußert haben, alle wichtigen lateinamerikanischen Länder, Brasilien, Kolumbien, Mexiko. Es blieb eigentlich nur eine kleine Handvoll Länder übrig, die noch Venezuela unterstützt haben, darunter unter anderem Nicaragua, Ecuador, Bolivien, El Salvador und einige kleine Karibikstaaten, die gewissermaßen durch den verbilligten Import venezolanischen Öls etwas bestochen wurden. Insofern ist Venezuela in der Region schon sehr isoliert und es bleibt jetzt abzuwarten, wie die lateinamerikanischen Staaten auf diese neue Entwicklung reagieren werden, und es bleibt auch abzuwarten, wie die USA darauf reagieren.
"Mittelfristig wird man möglicherweise um Sanktionen nicht herumkommen"
Armbrüster: Was schätzen Sie denn, wie werden die USA reagieren?
Nolte: Ich glaube, man wird zunächst vorsichtig agieren und versuchen, den Druck in Kooperation mit lateinamerikanischen Ländern weiter aufzubauen, und es hängt dann, glaube ich, auch sehr von den lateinamerikanischen Regierungen ab, wie sie darauf reagieren. Ich denke, mittelfristig wird man möglicherweise um Sanktionen nicht herumkommen, weil bei dem Treffen Anfang dieser Woche hat man noch mal versucht, die venezolanische Regierung auf den Weg des Dialogs zu führen, politische Gefangene zu befreien, und die Reaktion darauf war eigentlich eine Verschärfung, eine Verhärtung der Position der venezolanischen Regierung. Insofern steht jetzt, glaube ich, Lateinamerika auch vor der Verantwortung, hier zu reagieren. Sonst besteht das Risiko, dass wir doch wieder in Zeiten zurückfallen in Lateinamerika, die wir längst für überwunden gehalten haben, und das Image Lateinamerikas als ein demokratischer Kontinent doch einige schmutzige Flecken erhalten wird.
Armbrüster: Detlef Nolte war das, der Direktor am Giga-Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg. Wir haben mit ihm über die Lage in Venezuela gesprochen. Vielen Dank für das Gespräch.
Nolte: Vielen Dank aus Hamburg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.