"Welch‘ triumphale Proportionen! Welch‘ kraftvolle, lebendige Schatten! Oh unsterbliche Venus!" (Zitat)
Mit diesen Worten feierte der französische Maler Auguste Renoir jene Marmorstatue der griechischen Liebesgöttin Aphrodite, die auch heute noch zu den bekanntesten Kunstwerken der Menschheit gehört: die "Venus von Milo". Wer sie sieht, kann sich ihrer Anmut kaum entziehen, weiß Hermann Mildenberger, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Jena:
"Man wagt so etwas heute ja gar nicht mehr so einfach zu sagen: Aber es zieht einen in den Bann. Eine Qualität der Ausarbeitung und der Vollendung, die deutlich wird, obwohl das Werk fragmentarisch ist. Die Figur changiert zwischen Sinnlichkeit und einer fast göttlichen Präsenz."
Gefunden von einem Bauern und einem Soldaten
So zeitlos ihre Schönheit auch ist - die rätselhaft lächelnde Göttin sorgt bis heute immer wieder für Streit. Alles begann am Mittag des 8. April 1820 auf der Kykladeninsel Melos. Olivier Voutier, ein französischer Marinesoldat, dessen Schiff im Hafen der Insel lag, unternahm einen kleinen Landgang. Er sah einen Bauern, der in den spärlichen Ruinen einer antiken Schule Steine zum Bauen suchte. Yorgos Kentratos stand soeben im Begriff, einen nackten weiblichen Oberkörper aus weißem Marmor wieder der Erde anheimzugeben, weil er damit nichts anfangen konnte. Der Soldat, ein Hobby-Archäologe, überredete ihn, weiter zu graben. Man fand den passenden Unterkörper einschließlich reizvoll drapierter Beine und weitere Stücke. Voutier meldete den Fund seinem Kapitän, der den französischen Konsul in Smyrna um Anweisungen bat.
"… vor drei Tagen fand hier ein Bauer … eine leicht überlebensgroße Marmorstatue … Eine der Brustspitzen ist abgebrochen." (Zitat)
Venus wird dem König von Frankreich übergeben
Yorgos Kentratos nahm die Fragmente unter Verschluss und begann über den Preis zu verhandeln, der anfangs ein paar Piaster betrug und dann umso rascher stieg, als sich die Inseloberen einschalteten, ferner Regierungsautoritäten aus Konstantinopel sowie ein obskurer Priester. Nach sechswöchigem Gezerre, von dem manche behaupten, es sei Waffengewalt angewandt worden, erhielten die Franzosen den Zuschlag. Rund 6.000 Francs sollen sie letztlich gezahlt haben – kaum ein Zehntel des damaligen Schätzwerts. Die Bruchstücke wurden nach Frankreich verschifft und im März 1821 meldete der Pariser "Moniteur":
"Gestern machte der französische Botschafter in Konstantinopel dem König seine Aufwartung mit einem außergewöhnlichen Fund. Die Statue ist trotz ihrer Beschädigungen eine wertvolle Erwerbung für unser Museum." (Zitat)
Alsbald gingen die Restaurateure des Louvre an die Arbeit und fügten die Bruchstücke zusammen. Wissenschaftler beugten sich über das Rätsel der Göttin mit ihrem zugleich natürlichen und verführerischen Liebreiz.
"Dann kommt der Prozess des Publizierens, des Bekanntwerdens, des Ausstellens, des Intellektualisierens, des Vermessens, dann wird die Schönheit, die einen am Anfang gepackt hat, relativiert."
Bürgermeister von Melos fordert die Rückgabe
Der Streit der Gelehrten drehte sich um alles, was man bei der Venus nicht sieht: Zum Beispiel um die ursprüngliche Haltung der fehlenden Arme und die Datierung des Kunstwerks. Heute weiß man, dass die Venus um 100 vor Christus entstand und vermutlich die Wandnische einer Schule zierte. Knapp 2.000 Jahre später, im prüden 19. Jahrhundert, stellte sich das europäische Bürgertum mit Vorliebe Repliken der Venus von Milo in seine Salons:
"Es war ein Statussymbol, und es war natürlich auch eine erlaubte Form, das Nackte zu zeigen, da es ja das klassisch Gefeierte, Kanonisierte, war."
Populär ist die Venus von Milo bis heute. Bildende Künstler nutzen sie als Zitat, Schriftsteller erfinden Romane über den Verbleib ihrer Arme und die Unterhaltungsmusik von Miles Davis bis Prince ließ sich von ihr inspirieren. Erst in den letzten Jahren ist nun doch wieder Streit um die Göttin der Liebe ausgebrochen: Der Bürgermeister von Melos fordert von Frankreich die Rückgabe der Statue, bisher ohne Erfolg. Die Rechtslage ist undurchsichtig bis rätselhaft – wie das Lächeln der Venus von Milo.