Mario Dobovisek: Kinderehen spielen in Deutschland kaum eine Rolle. Hochzeiten von Minderjährigen gingen in den letzten Jahren immer weiter zurück. Weniger als 100 gibt es noch im Jahr. Allerdings mit den Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, kommen auch Eheleute unter 18 Jahren ins Land, Jugendliche, Kinder, junge Frauen und Mädchen zumeist, 15, 16 Jahre alt, manchmal sogar jünger. Die Bundesregierung will die Kinderehen jetzt generell verbieten. Im Ausland geschlossene Ehen von unter 16-Jährigen sollen sogar nachträglich annulliert werden. Darüber haben Unions- und SPD-Spitzen noch einmal bei ihrem Koalitionsausschuss in der Nacht zu Donnerstag beraten. Nächste Woche dann soll das Gesetz auf den Weg gebracht werden.
Am Telefon begrüße ich Claudia Kittel. Sie leitet die Monitoring-Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Das ist eine unabhängige Stelle, vom Deutschen Bundestag finanziert, um die Umsetzung der Kinderrechte-Vorgaben der Vereinten Nationen in Deutschland zu überwachen. Guten Morgen, Frau Kittel.
Claudia Kittel: Guten Morgen.
Dobovisek: Die Zahl registrierter Kinderehen ist relativ gering. Die Behörden gehen aber von einer weit höheren Dunkelziffer aus, haben wir gerade im Bericht gehört. Welchen Stellenwert haben Kinderehen in Deutschland aus Ihrer Sicht?
Kittel: In Deutschland sind Kinderehen generell verboten. Das wird der Gesetzentwurf noch einmal deutlich machen. Das ist auch ganz in Linie mit der UN-Kinderrechtskonvention, Ehen erst ab 18. Durch den Flüchtlingszustrom, wie wir es gerade im Vorspann gehört haben, sind die Behörden in Situationen gebracht worden, gerade auch die Jugendämter, dass sie Paare vor sich sitzen hatten, wo meist der weibliche Ehepartner zum Teil unter 18 war, und da muss ein Umgang gefunden werden, um diesen Mädchen, vor allen Dingen den Mädchen einen besonderen Schutz zu gewähren.
Dobovisek: Der Umgang, den die Bundesregierung jetzt findet, lautet ein generelles Verbot und eine Annullierung von Ehen unter 16-Jähriger. Ist das ein richtiger Schritt?
Zwischen Einzelfallbetrachtung und Missbrauchsverhältnis
Kittel: Das ist ein richtiger Schritt, deutlich zu machen, dass man diese Ehen nicht akzeptiert. Im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention müsste der Kinderschutz hier so weit vorne stehen, dass jeder Einzelfall angeschaut wird. Als Monitoring-Stelle haben wir gerade Sorge, was die unter 16-Jährigen angeht, aber über 14-Jährigen, denn bei 14 Jahren haben wir in Deutschland eindeutig die Grenze der Strafbarkeit. Hier sind es Missbrauchsverhältnisse. Aber in der Phase zwischen 14 bis 16 ist es jetzt so, dass der Gesetzesentwurf vorsieht, dass diese Ehen für den Gesetzgeber nie existiert haben. Das heißt, dieser Einzelfall wird nicht genau angeschaut, und wir haben Sorge, dass die Mädchen in diesem Falle nicht die nötige Unterstützung bekommen, …
Dobovisek: Welche Folgen könnte das haben?
Kittel: …, dass vielleicht die Ehen nicht in den Blick genommen werden, ob hier eine Zwangsehe vorliegt oder dergleichen. Die Folge könnte sein, dass die Ehe beispielsweise verheimlicht wird und dass niemand mitbekommt, dass diese Mädchen überhaupt verheiratet sind.
"Bringt die Mädchen in eine sehr rechtsunsichere Lage"
Dobovisek: Das heißt konkret für die Mädchen, wenn sie das verheimlichen müssen und die Ehe trotzdem besteht und verboten ist?
Kittel: Das heißt für die Mädchen, dass Hilfeleistungen, die bei uns durch ein Jugendamt, durch andere Systeme wie die Kinder- und Jugendhilfe und andere Schutzsysteme nicht wirklich greifen können, dass sie Ansprüche verlieren, die mit einer Ehe, wie es jetzt bei den 16- bis 18-Jährigen ja auch vorgesehen ist, die wirklich rechtlich aufgehoben wird, wie eine Scheidung eigentlich, dass diese keine Ansprüche haben, dass wenn dort Kinder in der Ehe vorhanden sind, diese Kinder zum Beispiel, was Unterhalt, Erbansprüche und dergleichen angeht, wenn sie denn ins Heimatland irgendwann zurückziehen, diese dann nicht mehr in Anspruch nehmen können. Das wird oft unter dem Begriff hinkende Ehen zusammengefasst. Wir haben auch die Problemlage zum Beispiel innerhalb der Europäischen Union, dass dann eine Ehe, die in Deutschland für nichtig erklärt wird, in einem anderen Land aber durchaus wieder Bestand hat. Das bringt die Mädchen in eine sehr rechtsunsichere Lage.
Dobovisek: Die Einzelfallprüfung, die Sie sich vorstellen, die Sie sich wünschen, würde bedeuten, dass ein Verwaltungsapparat sich jede Ehe anschauen müsste. Wie soll das sicherstellen, dass nicht doch Zwang und Missbrauch eine Rolle spielen?
Kittel: Wir haben ja bei den Familiengerichten Prüfungen, wo auch die Zwangsehe ausgeschlossen wird. Hier gibt es Verfahren und es gibt Menschen, die mit solchen Konstellationen Erfahrungen haben, die genau das abprüfen sollen. Und eine Behörde, die damit Erfahrung hat, wenn die den Blick auf die jeweilige Ehekonstellation richtet, dann können wir schon davon ausgehen, dass eine Zwangssituation festgestellt werden kann. Und das wäre auch ganz in Linie mit der UN-Kinderrechtskonvention, die sagt, jeder Einzelfall muss geprüft werden von der staatlichen Behörde, sofern ein Ehepartner unter 18 ist.
"Reden ja hier über Ehen, die rechtskräftig im Ausland schon geschlossen wurden"
Dobovisek: Das Wohl des Kindes, in dem Fall der jungen Mädchen soll geschützt werden. So will es ja die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf. Würde es denn aus Ihrer Sicht, wenn wir das alles mal gemeinsam zuspitzen wollen, das Wohl des Kindes sogar gefährden?
Kittel: Bei den 14- bis 16-Jährigen sehen wir zumindest die Gefahr der Rechtsunsicherheit, wenn sie sich innerhalb der Europäischen Union in verschiedenen Ländern bewegen und wenn die Ehe denn dann verheimlicht würde. Das wäre sicherlich nicht im Wohl der betroffenen Mädchen, wenn wir ihnen die tollen Hilfeleistungsangebote, die wir in Deutschland haben, dann nicht unmittelbar zugänglich machen.
Dobovisek: In Deutschland sind die Regeln ja eindeutig, haben wir drüber gesprochen. Ab 16 darf geheiratet werden und das nur, wenn der Partner bereits volljährig ist und ein Familiengericht zustimmt. Genau das soll auch für die ausländischen Mitmenschen gelten. Die Koalition bringt es auf den Nenner, in Deutschland gilt deutsches Recht, und zwar für alle. Würde das nicht so sein, könnten in Deutschland lebende Familien ihre Kinder ja auch im Ausland verheiraten und dann zurückholen. Wäre das in Ihrem Sinne?
Kittel: Das ist sicherlich nicht in unserem Sinne.
Dobovisek: Aber es wäre die Folge.
Kittel: Nein. Wir reden ja hier über Ehen, die rechtskräftig im Ausland schon geschlossen wurden, und von Menschen, die hier in Deutschland Zuflucht suchen und in dieser Situations-Gemengelage mit dem Jugendamt oder mit anderen, mit der Ausländerbehörde in Kontakt kommen und dort festgestellt wird, hier ist jemand verheiratet und er ist unter 18 und das ist nicht mit dem deutschen Gesetz in einer Linie. Den Umgang, den wir dann damit finden, diese Prüfung, die stattfindet durch ein Familiengericht bei allen unter 18, hätte ja dann auch zur Folge, dass Ehen, die im Ausland rechtskräftig geschlossen wurden, dann hier auch rechtskräftig für unwirksam erklärt würden, sobald ein Zwangsverhältnis oder irgendetwas in dieser Form vorliegt. Das heißt im Gegenteil, es ist ein gutes Rechtsinstrument, das uns dann hilft, solche Ehen wieder aufzuheben an der Stelle und zu sagen, in Deutschland haben sie keine Wirkung, aber es gibt dann ein rechtskräftiges Urteil, das ihre Aufhebung bestätigt. Und es ist nicht einfach so, dass der Staat sagt, für uns hat diese Ehe einfach nie existiert. Das heißt, es findet so eine Art Scheidung ist jetzt hier der falsche Begriff, aber es ist etwas Vergleichbares, was hier stattfindet, das den Mädchen die Möglichkeit gibt, Ansprüche dann auch später geltend zu machen.
Dobovisek: Claudia Kittel leitet die Monitoring-Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. Wir sprachen über die Folgen des geplanten Verbots von Kinderehen.
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