Der Artikel 21 Absatz 2 im Grundgesetz, der das Parteienverbot regelt, ist nach einem Urteil des Verfassungsgerichts eine „demokratie-verkürzende Ausnahmenorm“, die zurückhaltend angewendet werden müsse. In der Geschichte der Bundesrepublik wurden bislang nur zwei kleine Parteien verboten: 1952 die (National-)Sozialistische Reichspartei und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands. Gegen die NPD scheiterten zwei Verbotsverfahren: 2003, weil es vor V-Leuten nur so wimmelte und 2017, weil die Partei zu diesem Zeitpunk bedeutungslos war. Eine „wehrhafte“ Politik, die trotz hohem Aufwand keine Früchte trägt, sollte zu denken geben. Was ist am Ende schädlicher für die Demokratie: die Existenz oder das Verbot der AfD?
Die Frage des Parteiverbots reicht weit zurück in die Anfänge meiner eigenen „Politisierung“. Für den fünfzehnjährigen Schüler, der 1969, im Bundestagswahlkampf, zu Willy Brandt in die Stadthalle pilgerte, war die Sache sonnenklar: Die NPD, eine Partei, die 28.000 alte sowie neue Nazis als Mitglieder hatte und deren Ordner nicht nur Andersdenkende, „linke Störer“, aus dem Saal prügelten, sondern sogar, wie in Kassel geschehen, auf Gegendemonstranten schossen – eine solche Partei gehörte schleunigst verboten! Aber daraus wurde nichts. Denn die NPD verpasste mit 4,3 Prozent den Einzug in den Bundestag, Willy Brandt wurde Kanzler, der „Mehr Demokratie wagen!“ versprach. Und um die NPD wurde es still.
Mitte der siebziger Jahre, unter den Vorzeichen der innerstaatlichen Feinderklärung gegen links, stritt man verbissen um die Berufsverbotepraxis nach dem „Radikalenerlass“. Was macht die Verfassungstreue eines deutschen Beamten aus? Darf eine angehende Lehrerin an einer Demonstration gegen „kapitalistische Ausbeutung“ teilnehmen? So begab sich der Jurastudent auf die Suche nach der vielbeschworenen „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ – sprich „fdGO“ – und stieß auf angestaubte Verbotsurteile aus den fünfziger Jahren.
Der Doktorand hatte eine stille, zurückgezogene Zeit; die Frage des Parteiverbots erschien Mitte der achtziger Jahre als ferne Verfassungsgeschichte.
Ein erstes Anzeichen dafür, dass das Parteiverbot eine Renaissance erleben könnte, war die kurz aufflackernde Diskussion um ein Verbot der rechtspopulistischen Republikaner, die Anfang 1989 ins West-Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen waren. Als dann im Jahr 2000 – provoziert durch fremdenfeindliche Anschläge, die nicht auf das Konto der NPD gingen –, der „Aufstand der Anständigen“ ausgerufen wurde, konnte der Autor dem aufgewärmten Parteiverbot nichts abgewinnen. Wie auch? Wer das ellenlange Verdikt gegen die KPD gelesen hat, in dem 26 Klassiker des Marxismus-Leninismus als „Beweise“ gelistet sind, dem vergeht das Verbieten.
Jene, die ich heute mit gutem Gewissen schlechte Verbotsparolen rufen höre, hätten besser zuerst das KPD-Urteil gelesen. Dort wurde der Grundstein für den ideologischen Verfassungsschutz der sogenannten „streitbaren“ oder „wehrhaften“ Demokratie gelegt. Der KPD warf man nicht nur ihren vollmundigen Aufruf zum „Sturz des Adenauer-Regimes“ vor, sondern auch ihr „Fernziel“ einer „Diktatur des Proletariats“. Diese Fixierung auf radikale „Ziele“ charakterisiert bis heute den Umgang mit dem Parteiverbot. In Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes heißt es:
„Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen […], sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“
Von diesem Wortlaut her kann eine Partei entweder allein wegen ihrer Ziele „oder“ wegen des Verhaltens ihrer Anhänger verfassungswidrig sein. Je mehr man mit der ersten Verbotsalternative die bloßen Inhalte von Parteipolitik genügen lässt, desto mehr engt man jedoch den Freiheitsspielraum radikaler Opposition ein. Man kann aber die Formel auch so lesen: „…nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Anhänger“. Diese Auslegung würde rechtswidriges „Verhalten“ stets mitdenken, vor allem die Drohung mit Gewalt oder deren Anwendung. Das wäre restriktiv und freiheitsfreundlich. Weil jedoch die herrschende Praxis einseitig auf radikale Parolen abstellt und die illegalen Kampfmittel vernachlässigt, richtete die bisherige Verbotspolitik, wie wir sehen werden, mehr Schaden an als sie je Nutzen stiftete.
Art. 21 Abs. 2 wird mit dem Grundgesetz 75 Jahre alt. Nach den Verboten der kleinen (National-)Sozialistischen Reichspartei,1952, und der ähnlich marginalen KPD,1956, die beide keiner wirklichen Gefahrenlage geschuldet waren, geschah lange Zeit nichts. 1993 beantragte die Bundesregierung, in Reaktion auf den mörderischen Brandanschlag von Solingen, ein Verbot der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei – obgleich diese Neonazi-Sekte nichts damit zu tun hatte. Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Antrag als unzulässig ab, da es sich bei der Kleinstorganisation FAP, die bundesweit nur einige Hundert Mitglieder hatte, gar nicht um eine Partei handelte. Schließlich scheiterten gegen die NPD gleich zwei Verfahren vor dem Verfassungsgericht: 2003 wegen der hochgradigen Infiltration durch V-Leute und 2017 wegen der völligen Bedeutungslosigkeit der Partei.
Diese Bilanz, ernüchternd genug, sollte zu denken geben. Doch da gerät schon eine neue Partei ins Visier: die sogenannte Alternative für Deutschland, AfD. Sie gilt als rechtspopulistisch bis rechtsextrem, ihre Umfragewerte sind besorgniserregend hoch. Was tun? – Voreilige Rufe nach dem Staat sind ein untrügliches Zeichen für das Unvermögen, sich mit Rechtspopulisten politisch auseinanderzusetzen. Das Allererste wäre stattdessen reflexive Distanz.
In altehrwürdigen Demokratien wie England und den Vereinigten Staaten gibt es nichts Vergleichbares, dort hielten viele eine solche Maßnahme für undemokratisch. In Deutschland hingegen hat man mit der verkürzten Parteienfreiheit ein Problem, doch leider wenig Problembewusstsein. So erscheint es der deutschen Ideologie völlig normal, von politischen Parteien nicht allein legales Verhalten, sondern obendrein eine verfassungstreue Gesinnung zu verlangen. Es ist kein Zufall, dass der Verfassungsschutz als Belastungsmaterial gegen die AfD vor allem Belege für extremistische Ziele sammelt: Ein vertrauliches Dossier soll auf über 1.000 Seiten belastende Zitate auflisten.
Die hiesigen Verbotsdebatten beherrschen seit jeher taktische Überlegungen. Es sollte aber keine Frage der Geduld oder wohlkalkulierter Erfolgsaussichten sein, ob man den Antrag stellt, eine radikale Oppositionspartei in Karlsruhe ausschalten zu lassen oder nicht. Es geht um demokratische Haltung, die energische Bereitschaft, mit allen über alles den offenen Streit zu führen. Fairplayist eine Kardinaltugend der Demokratie – selbst gegenüber jenen, die in Verdacht stehen, Foul zu spielen -, und Gleichheiteine des Parteienpluralismus.
Erstaunlich genug, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sich am 75. Jahrestag des Verfassungskonvents zu dem Satz hinreißen ließ:
„Unser Grundgesetz verträgt harte und härteste Auseinandersetzung. Verfassungsfeinde jedoch kann die Verfassung nicht integrieren.“
Welches System könnte das besser als eine Demokratie? Paradebeispiel ist die abenteuerliche Karriere des Joseph „Joschka“ Fischer. Der grüne Altvordere brachte es vom linksradikalen Häuserkämpfer, der auch schon mal einen Polizisten verprügelte, immerhin zum Bundesaußenminister.
Die AfD, gegründet 2013, fiel bislang nicht durch militante Demonstrationen oder sonstige Gewaltakte auf; auch nicht durch direkte Anstiftung zu fremdenfeindlichen Übergriffen. Es gibt zwar einzelne Fälle strafbarer Volksverhetzung; und ein Mitarbeiter des Spitzenkandidaten für die EU-Wahl wurde wegen des Verdachts der Spionage für China verhaftet; ein anderer Europa-Spitzenkandidat soll Gelder von prorussischen Quellen angenommen haben. Aber im Kern wird der Partei die Vergiftung des politischen Klimas vorgeworfen. Und so begnügen sich ihre Gegner denn auch damit, der AfD provozierende Parolen und ganz allgemein ihre inhaltliche „Radikalisierung“ vorzuwerfen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die AfD ist, so sehe ich es, der politische Gegner; sie ist tendenziell gefährlich. Aber das erübrigt nicht die Frage nach ihren verbrieften Rechten. Es fängt an mit dem Verfassungsschutz und seinem Ringen um die – vom jeweiligen Innenminister initiierten – Prüfphasen: extremistischer Anfangsverdacht = Prüffall, mehr oder weniger substantieller Verdachtsfall = nachrichtendienstliche Beobachtung oder gar „gesichert extremistisch“ = Aufnahme in den offiziellen Jahresbericht.
Was man indes als nutzloses Extremistenspiel abtun könnte, ist nur die Vorglühphase für das nächste Stadium. Und so lautet bald die Schicksalsfrage: Verbotsantrag stellen oder nicht stellen?
Seit 2019 prüft der Inlandsgeheimdienst die Verfassungstreue der AfD anhand der im Gesetz über den Verfassungsschutz verankerten fdGO-Definitionsformel. Diese stammt aus dem Verbotsurteil gegen die Sozialistische Reichspartei und bringt zentrale Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat auf den Punkt. Inzwischen gelten die „Bestrebungen“ von drei Landesverbänden als „gesichert extremistisch“: Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Die Bundespartei wird als „Verdachtsfall“ eingestuft, wogegen die AfD vor dem Oberverwaltungsgericht Münster klagte – vergeblich.
Einen Verbotsantrag gegen die AfD mag man für klug oder töricht, demokratisch oder undemokratisch, für überfällig oder verfrüht halten. In jedem Fall stellt sich die Frage nach den Erfolgsaussichten; sie führt zu den rechtlichen Maßstäben, den „Hürden“. Und diese finden sich im zweiten NPD-Urteil von 2017, in dem die Verfassungsrichterinnen und -richter ihre Lesart des Verbotsartikels einstimmig vorgaben.
Der Verbotsartikel ist die „schärfste und überdies zweischneidige Waffe“ der streitbaren Demokratie, erklärte das Verfassungsgericht im NPD-Urteil. Er sei eine „demokratieverkürzende Ausnahmenorm“, die „zurückhaltend“ angewendet werden müsse.
Das Urteil in Sachen NPD, das 2017 viele enttäuschte oder irritierte, hat ein zweifellos richtiges, ja man darf in diesem Fall sagen: das einzig richtige Ergebnis. Vollkommen unbedeutende Parteien verbietet man nicht! Vertieft man sich aber in die 350 Seiten der verschachtelten Begründungen, so werden diese immer fragwürdiger.
Zunächst fällt auf, dass das Urteil denen gegen SRP und KPD in der Argumentationsstruktur überraschend ähnelt. Den zahlreichen Bestätigungen steht eine einzige, allerdings den Fall der NPD entscheidende Korrektur gegenüber. Es ist jene Distanzierung von der auf die Spitze getriebenen Prävention im KPD-Urteil, der zufolge eine Erfolgschance keinerlei Rolle spielen sollte.
„…wenn die verfassungsfeindliche Absicht überhaupt nachweisbar ist, braucht nicht abgewartet zu werden.“
Erklärte das Verfassungsgericht 1956. Mit dem Begriff der „Potentialität“ verlangt es nun in seinem Urteil von 2017 eine entfernte Möglichkeit: Das Treiben der „organisierten Feinde“ unserer Grundordnung darf „nicht völlig aussichtslos“ erscheinen.
Ansonsten das alte Bild: Über weite Strecken wird das „politische Konzept“ der NPD abgehandelt. Rechtsbrüche und Straftaten ihrer Parteigänger sind marginal und spielen praktisch keine Rolle. So kommt es zu dem aus den fünfziger Jahren bekannten „ideologischen“ Überhang. Es sind immer wieder die Ziele der Partei, die an den Maßstäben der fdGO gemessen werden.
„Integration ist Völkermord“! „Asylgrundrecht ersatzlos streichen“! „Volksentscheid zur Wiedereinführung der Todesstrafe“! „Kastration von Pädophilen“! „Minarettverbot“!
Wohin man in diesem Urteil auch sieht, rechtsradikale Politikinhalte bleiben das Leitmotiv des Parteiverbots. Mittel der Überführung sind nicht etwa Taten, sondern „Aussagen“, „Aufsätze“ und „Reden“, „Publikationen und Äußerungen“. Damit wird das zentrale Problem eines Verbotsartikels, den das Verfassungsgericht wie gesagt als „demokratieverkürzende Ausnahmenorm“ einordnet, weitgehend verfehlt. Denn das Gericht lotet die Reichweite der Parteien- und Meinungsfreiheit gar nicht aus, sondern konzentriert sich sogleich auf das Verbot. Mit der Folge, dass die Freiheit der Opposition – die immerhin Teil der fdGO-Formel ist –, entschieden zu kurz kommt.
Eine Partei, die nichts Verbotenes tut, kann auch nicht verboten werden.
Das entspricht der Regel des demokratischen Verfassungsstaates. Etwas anderes gilt aber, wenn der Ausnahmeartikel des Parteiverbots aktiviert wird. Im NPD-Urteil heißt es:
„Eine Partei kann auch dann verfassungswidrig sein, wenn sie ihre verfassungsfeindlichen Ziele ausschließlich [!] mit legalen Mitteln und unter Ausschluss jeglicher Gewaltanwendung verfolgt (…). Daher kann auch die Inanspruchnahme grundrechtlich geschützter Freiheiten verbotsrelevant sein. Die ‚streitbare Demokratie‘ will gerade den Missbrauch grundrechtlich geschützter Freiheiten zur Abschaffung der Freiheit verhindern.“
Auf das Wort „ausschließlich“ kommt es an, denn es eröffnet die Möglichkeit, an sich genügende formale Legalität in „verbotsrelevante“ Verfassungswidrigkeit zu verwandeln. Man mag das als historischen Fortschritt der „streitbaren“ Demokratie begrüßen; es ändert aber nichts daran, dass darin ein Strukturproblem des deutschen Parteiverbots verborgen liegt: die Statuierung einer Verfassungstreuepflicht für politische Parteien. Diese Treuepflicht wird der Sache nach wie selbstverständlich vorausgesetzt – als höhere Legitimität einer Grundordnung, an der „missbrauchte“ Legalität gemessen und kollektiv für verwirkt erklärt werden kann. Wer die „Systemfrage“ stellt, bewegt sich in der Verbotszone.
Dass man damit anstößige Kritik, radikalen Dissens, kurz: Opposition ans staatliche Gängelband legt, scheint hierzulande gar nicht aufzufallen. Die Wächter der fdGO sehen ihre vornehmste Aufgabe darin, einen Bezirk des Indiskutablen abzusperren. Ja doch, das „kritische Hinterfragen einzelner Elemente der Verfassung“ muss möglich sein, versichern sie:
Ein Parteiverbot „kommt erst (!) in Betracht, wenn dasjenige in Frage gestellt und abgelehnt wird, was (…) schlechthin unverzichtbar ist und daher außerhalb jedes Streits stehen muss“.
Der US-amerikanische Supreme Court dagegen fand im Kontext der Redefreiheit deutliche Worte:
„Wir beginnen mit der gemeinsamen Basis. Nach dem Ersten Zusatzartikel der Verfassung gibt es so etwas wie eine falsche Idee nicht. Wie verderblich eine Meinung auch erscheinen mag, wir sind für ihre Korrektur nicht auf das Gewissen von Richtern angewiesen, sondern auf den Wettbewerb mit anderen Ideen.“
Es ist kein Zufall, dass ein amerikanischer Prozessbeobachter in Karlsruhe staunte, dass darüber verhandelt wurde, ob die „Volksgemeinschaft“ der NPD, die Zuwanderer ausschließt, mit der fdGO kompatibel ist. Und sich fragte, warum die NPD-Funktionäre so beflissen über ihre Ideologie Auskunft gaben, anstatt sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen.
Diesen einseitig auf Parteiziele fixierten Maßstäben zufolge scheint am Verbot der NPD kein Weg mehr vorbeizuführen. Würde hier nicht das neugeschöpfte Erfordernis der „Potentialität“ greifen, das auch für ein mögliches Verfahren gegen die AfD wichtig ist:
Es bedarf „konkreter Anhaltspunkte von Gewicht“, die einen Erfolg des gegen die fdGO gerichteten Handelns „zumindest möglich erscheinen lassen,“ lautet die fallentscheidende Formel.
Damit aber wird, was einen Erfolg betrifft, nicht einmal die geringste Wahrscheinlichkeit gefordert, sondern nur eine denkbar vage Möglichkeit.
Doch nicht einmal diese luftige „Potentialität“ bescheinigt das Gericht der NPD: Sie wird als politisch impotent eingestuft. Weil sie deshalb aber konstitutionell unfähig ist, die fdGO zu beeinträchtigen, geht sie auch nicht „darauf aus“ – folglich kann ihre Verfassungswidrigkeit juristisch nicht festgestellt werden.
Ein Urteil, das sich für die 5.000 Mitglieder schwache NPD im Ergebnis als tolerant darstellt, könnte für andere Parteien einschneidende Konsequenzen haben. Man muss nur die Probe aufs Exempel machen.
Wären die altnazistische SRP – 1952 an die 10.000 Mitglieder – oder die KPD – 1956 an die 20.000 Mitglieder – mangels „Potentialität“ etwa freigesprochen worden? Schwer zu sagen. Und was wäre heute mit der AfD – 2024 an die 40.000 Mitglieder? Ihr inzwischen zwar aufgelöster, aber nach wie vor einflussreicher völkischer „Flügel“ bietet fdGO-widrige Ziele genug. Einer AfD, die sich nicht klar genug distanziert, kann man sie wohl zurechnen. Hinzu kommen die bürgerliche Verankerung und die parlamentarische Präsenz der gesamten Partei, die zurzeit in fast allen Landesparlamenten und bereits das zweite Mal im Bundestag vertreten ist. All das entfaltet zweifellos „Potentialität“: Erfolg „nicht völlig ausgeschlossen“, Verbot also möglich.
Wobei freilich eine politische Mehrheit für einen Antrag gegen die AfD derzeit nicht in Sicht ist – ihr gesellschaftlicher Einfluss ist einfach zu stark. Wenn das keine Pointe ist: „Potentialität“, die ein Verbot rechtlichermöglicht, schützt politisch vor ihm.
Das Verfassungsgericht vernachlässigt, wie wir gesehen haben, die Freiheit der Opposition. Und es betont einseitig den Verbotsgrund der „verfassungswidrigen“ „Ziele“, anstatt das illegale „Verhalten“ der Parteianhänger mitzudenken. Der dritte schwerwiegende Mangel des NPD-Urteils liegt darin, dass es von konkreten Gefahren nichts wissen will.
Das ganze verfassungswidrige Unternehmen muss sich nämlich nicht zu etwas Greifbarem verdichtet haben. Warum eigentlich?
Weil sich der „Zeitpunkt, ab dem eine konkrete Gefahr vorliegt“, „regelmäßig nicht genau bestimmen“ lässt.
Heißt es im NPD-Urteil:
„Historische Erfahrung“ besagt, dass „radikale Bestrebungen“ bekämpft werden müssen, bevor sie „an Boden gewinnen“.
Das ist so allgemein formuliert richtig, kann aber doch nicht bedeuten, man dürfe einfach darauf verzichten, den „richtigen Zeitpunkt“ zu bestimmen! Zentrale Aufgabe einer rechtsstaatlichen Interpretation ist es, einerseits den offenkundigen Präventivcharakter des Verbotsartikels ernst zu nehmen, andererseits den legalen Handlungsspielraum von Opposition zu schützen. Das kann nur gelingen, indem man die verfassungswidrigen Bestrebungen auf eine sich wenigstens in Ansätzen verdichtende und konkret benennbare Gefahrenlage bezieht. Dagegen zielt die übersteigerte, vom Gericht intendierte Prävention auf Gefahrenvorsorge, will also weit im Vorfeld bereits dem Entstehen von Gefahren vorbeugen. Eine buchstäblich gefahrenlose Lage genügt aber nicht, um einen Eingriff in den Parteienwettbewerb zu begründen!
Ein Verbot, praktisch das Todesurteil für die betroffene Partei, ist eine empfindliche Störung des demokratischen Wettbewerbs. Um den richtigen Zeitpunkt für einen Eingriff zu bestimmen, muss man beides im Blick haben: Was bezogen auf Prävention nicht zu spät erfolgen soll, darf bezogen auf die Parteienfreiheit nicht zu früh greifen. Davon ausgehend wäre in der Grauzone zwischen abstrakter und konkreter Gefahr zu bestimmen, was das Gewicht eines gegenwärtigen Angriffs ausmacht.
Heutzutage droht keine zugespitzte revolutionäre Lage, keine akute Umsturzgefahr! Es droht die schleichende Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaat – siehe Ungarn und Polen. Gerade in Ostdeutschland wachsen mit dem Aufstieg der AfD zwar ernste politische Gefahren, etwa notorische Obstruktion durch parlamentarische Sperrminoritäten oder Einfluss auf die Besetzung von Richterstellen. Aber von einer Regierungsbeteiligung oder gar „Machtergreifung“ ist die AfD weit entfernt. Zurzeit.
Liberal betrachtet sind nur solche Parteien verbotsrelevant, von denen hier und heute absehbar ist, dass sie in nächster Zeit imstande sind, die fdGO massiv zu stören – und zwar nicht bloß ideell durch provozierende Meinungen, sondern im Kampf um gesellschaftliche und parlamentarische Macht.
In der Diskussion um ein mögliches Verbot der AfD wird zwar regelmäßig betont, das Parteiverbot des Grundgesetzes errichte „hohe Hürden“. Auch das Verfassungsgericht glaubt, mit dem NPD-Urteil eine „hohe Schwelle“ gesetzt zu haben. Das ist leider nicht der Fall. Die Maßstäbe des Jahres 2017 sind, sieht man genauer hin, im Endeffekt die der fünfziger Jahre. Fast alle Hintertüren der übersteigerten Prävention stehen weit offen.
Man kann die Sache drehen und wenden, wie man will: Opposition in Deutschland steht nach wie vor zur Disposition der Mehrheitsparteien. Wer die antragsberechtigten Organe dominiert – also die Bundesregierung, den Bundesrat oder das Parlament –, der hat es in der Hand, jede Partei, die sich aus der „Zone der gemäßigten Kritik“ hinauswagt, vor die Karlsruher fdGO-Wächter zu bringen.
Sagen wir es so: Kein Verbot sollte ausschließlich auf Parteiziele, auf Akte der politischen Kommunikation gestützt werden. Schon gar nicht auf blumige Absichten wie „Fern- und Endziele“. Diese sind eigentlich nicht justiziabel; doch in der verkehrten Welt der „wehrhaften“ Demokratie mutieren sie zu „verbotsrelevantem“ Belastungsmaterial.
Nehmen wir zum Beispiel die als „Remigration“ verbrämten „Ausländer‑raus!“‑Fantasien jener Rechtsradikalen, deren Potsdamer Treffen investigative Journalisten Anfang des Jahres 2024 enthüllten. Diese Enthüllung brachte Hunderttausende auf die Straße – völlig zu Recht. Doch vage politische Absichtserklärungen und vollmundige Parolen tragen nicht, um hier und heute einen Eingriff in die Parteienfreiheit zu begründen. Sie sind Bestandteil der öffentlichen Debatte, in der es gilt, Rede mit Gegenrede zu kontern.
Hinzu kommen praktische Hindernisse, die kaum zu überwinden sind. Eine Partei wie die AfD, die bundesweit derzeit mit 15 Prozent und im Osten mit über 30 Prozent ausgesprochen erfolgreich ist, bringt das strukturelle Dilemma des deutschen Parteiverbots drastisch auf den Punkt: Je mehr ein Verbot sich auf bloße Ziele stützt, desto sinnloser ist es – Ideen lassen sich nicht verbieten. Und während das Verbot kleiner Parteien möglich, aber nicht notwendig ist, wird das vielleicht notwendige Verbot großer Parteien nicht durchsetzbar sein. Oder nur, indem man jene Demokratie, die man zu schützen vorgibt, schwer beschädigt.
Es bleibt daher die Forderung des Tages, „wehrhafte“ Demokraten mögen sich selbstaufklären und das Grundgesetz endlich als unverkürzte liberale Demokratie ernstnehmen – ohne ständig nach den Hintertüren zu schielen.
Im praktischen Fall entscheidet sich, ob die „Hürden“ niedrig oder hoch angesetzt werden – ob also die Herangehensweise eine autoritär-etatistische oder eine liberal‑demokratische Tendenz hat.
Der Verbotsartikel bleibt bis auf weiteres eine vergiftete Frucht am Baum der deutschen Verfassung. Er ist, weil eine Fehlkonstruktion, praktisch so gut wie nutzlos und obendrein hochproblematisch: als notständische Rücknahme der Parteienfreiheit. Seine bloße Existenz korrumpiert das demokratische Bewusstsein: Weil er dazu verleitet, aus dem Parteienwettbewerb auszusteigen, anstatt mit den Verächtern der Demokratie entschlossen den Kampf aufzunehmen. Was übrigens zuallererst verlangt, mit ihnen die Kommunikation zu verschärfen.
Nüchtern betrachtet bleibt nur ein Ausweg: der pragmatisch-politische. Es gibt schließlich keine Pflicht, einen Verbotsantrag zu stellen – auch nicht gegen die AfD. Das unterliegt, wie bereits im KPD-Urteil klargestellt, dem freien politischen Ermessen der Antragsberechtigten. Strikte Verbotsabstinenz wäre deshalb – bis auf weiteres – eine schöne Alternative: Sie belebt den Wettbewerb der Parteien und schützt die gesellschaftliche Willensbildung vor staatlicher Bevormundung.
Eine offene Gesellschaft muss lernen, mit dem „Betriebsrisiko“, das jeder Demokratie innewohnt, umzugehen. Als eine riskante Ordnung der Freiheit kann sie politische Spannungen und Krisen bestehen, ohne reflexhaft nach justiziell-bürokratischer Abhilfe zu schielen.
Aber sind gewisse Hetzparolen der AfD nicht „unerträglich“? Wer so fragt, ahnt nicht, welche Zumutungen die Freiheit des Andersdenkenden für alle bereithält. Eine robuste, konfliktorientierte Verfassungspraxis – nicht zu verwechseln mit bügelfreier Streitkultur – bringt den Verbalradikalismus nicht zum Schweigen, sie setzt auf die „Integrationskraft des Dissenses“, wie der Verfassungsrechtler Horst Dreier formulierte. Legale Opposition, solange sie nur friedlich bleibt, ist ein begriffsnotwendiger Bestandteil der Demokratie; sie ist der lebendige Beweis für das Wechselspiel von Minderheit und Mehrheit. Daher heißt das erste Mittel der Wahl mehr Parteienfreiheit, nicht erzwungene Konformität.
„Die deutsche Frage ist die Frage nach den Hemmnissen der liberalen Demokratie in Deutschland.“
Schrieb Ralf Dahrendorf 1965 in seiner großen Studie „Gesellschaft und Demokratie“. Das Parteiverbot zählt zu diesen Hemmnissen.