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"Verbrechen und Strafe" in Göttingen

Die Werke von Fjodor Michailowitsch Dostojewski werden gerade für die Bühne wiederentdeckt - so auch in Göttingen am Deutschen Theater, wo der Regisseur Thomas Bischoff "Verbrechen und Strafe" inszeniert hat. Ein Kraftakt für das kleine Theater - doch die Anstrengung hat sich gelohnt.

Von Michael Laages |
    Als Fundamentalist des Wortes hatte der Theatermacher Thomas Bischoff sich immer verstanden; Bischoff hatte und hat Stil. "Verbrechen und Strafe" ist –über den an sich schon bedeutenden Theaterabend hinaus- ein ebenso anstrengendes wie aufregendes Beispiel.

    Das fundamentale Wagnis des Studenten Raskolnikoff steht am Beginn von Dostojewskis vielseitig verzweigter Geschichte – eine greise Pfandleiherin wird da ermordet; aber durchaus nicht aus Gewinnsucht, sondern um zunächst heraus zu bekommen, OB ES MÖGLICH IST, und was dann dieser Schritt, diese Grenzüberschreitung, diese TAT nach allzu viel GEREDE, schlussendlich aus dem Täter machen kann; auch will Raskolnikoff erfahren, ob er womöglich tatsächlich zu denen zählt, denen er selber (in kraus-verquerer Übermenschen-Theorie) das Recht zu solcher Art von Handeln zuerkennt.

    Er setzt viel, ja alles aufs Spiel für dieses existenzielle Experiment, Familie und Freunde, die Geliebte und die Gesellschaft; als fundamental herausforderndes Prinzip driftet er hin und her zwischen den Kraftzentren der Gesellschaft, in der er lebt. Nur der im Mordfall ermittelnde Staatsanwalt ist ihm gewachsen – weil er den Theoretiker des Tötens an dessen eigener Theorie packt, die der einst sogar publiziert hatte: als wissenschaftliche These. Eitel, wie der Wissenschaftler naturgemäß ist, will er das Resultat des Experiments auch angemessen gewürdigt wissen; und sei es vom tödlichen Gegner. So rennt der Mörder seinem Verfolger die Türe ein.

    "Verbrechen und Strafe" war auch in den Bühnenfassungen zuvor stets und zuallererst ein philosophischer Krimi, grundiert im Gesellschaftspanorama verkommender Zeiten – und die Aufgabe der Inszenierung lag vor allem in der Gewichtung zwischen Panorama und Persönlichkeit. Bischoff bezieht jetzt in Göttingen praktisch alles auf die Figur des forschenden Täters selber, seine Fassung verzichtet auf alles, was außerhalb der direkten Reichweite seines Anti-Helden liegt. Kaum je bleibt diesem Raskolnikoff ein Moment der Ruhe, unablässig treibt alles auf ihn zu oder von ihm weg; hinter schwarz-transparenten Schiebewänden im Bühnenbild von Isabelle Krötsch tauchen Menschen und Szenen auf wie Schemen und Nachtmahre, die den ohnehin schon von sich selbst und den abseitigen Phantasien getriebenen suchenden Täter zusätzlich bedrängen. Auch wie ein Katalysator wirkt dieser finstre Feingeist – seine Schwester etwa, in wechselvoller Hassliebe mit ihm verbunden, wird ja schlussendlich auch zur Mörderin, an einem unerwünschten Verehrer. Das "Prinzip Raskolnikoff" wird, wie es scheint, zum Gift, das diese Gesellschaft erfasst.

    FM Einheit, ehedem vor allem Schlagzeuger von "Einstürzende Neubauten", aber seit über 20 Jahren auch schon Theatermusiker (und das sehr oft an Bischoffs Seite), schafft Atmosphären für Bischoffs klar berechnete Spiel-Vorlagen; ein Beat, ein Puls, ein Herzschlag, der den Abend durchzieht, wummernde Donnerschläge inklusive.

    Die schrecklichsten Bilder, etwa die vom Morden selbst, hat Bischoff in schwarz-weiß-bedrohliche Video-Sequenzen ausgelagert, dafür aber eine "Fremde" hinzu erfunden, eine Mädchen-Puppe, die immer wieder ein kleines traurig-französisches Liedchen vom Sterben-Müssen und –Nicht-Können singt. Mit dem sehr jungen Alois Reinhardt schließlich schickt Bischoff einen Raskolnikoff auf die Marathon-Strecke, der sich komplett unterscheidet von allen exzessiven Extrem-Darstellern zuvor in dieser Rolle – da steigt eher ein gefallener Engel vom Kreuz, kalt, karg, schmal und bleich. Als kenne er das Jenseits schon, auf das er zutreibt – mit ihm und dem durchweg starken Ensemble gelingt Bischoff eine Dostojewski-Erkundung, die auch weit über Göttingen hinaus bestehen könnte.