"Was für ein Riesenwerk das ist. Wir haben nicht nur im Orchestergraben eine große Anzahl von geforderten Instrumenten, zwei Kornette, vier Fagotte, sondern wir haben auch ein große Banda im Autodafé im 3. Akt, also ein große Bühnenmusik. Dann haben wir auch noch im Autodafé die Stimme vom Himmel mit Harmonium und Harfe. Wir haben die Möglichkeit, hier in Stuttgart das Original aufzuführen und das tun wir auch."
Für Cornelius Meister, den Generalmusikdirektor der Stuttgarter Oper, ist Verdis "Don Carlos" ein großer Kosmos in jeder Hinsicht. Cornelius Meister versorgte die fast fünfstündige Aufführung am Pult des exzellent disponierten Staatsorchesters Stuttgart mit einer nie nachlassenden Energie, Präzision und einem feinen Gespür für Verdis so reiche Orchesterfarben, gerade in "Don Carlos".
"Die Partitur, da bin ich sicherlich nicht alleine, klingt für mich tatsächlich ganz anders als 'Aida' oder 'La Forza Del Destino', dieser 'Don Carlos' hat Verdi offensichtlich inspiriert, eine französische Farbe zu entwickeln."
Alle Szenen der Oper werden in Stuttgart aufgeführt
In Stuttgart werden alle Szenen gezeigt, die bei der Uraufführung aus äußeren Zwängen dem Rotstift zum Opfer fielen: Etwa die für das Handlungsverständnis so wichtige erste Szene im Wald von Fontainebleau, in der Elisabeth von Valois dem armen Volk begegnet, aber auch zum ersten Mal Don Carlos, in den sie sich sogleich verliebt.
Cornelius Meister: "Alle Szenen, die Verdi selber aus ureigenem Interesse revidiert hat, die spielen wir in der letzten revidierten Fassung, nämlich die, die 1886 in Modena zuerst aufgeführt wurde."
Für den Frieden zwischen Frankreich und Spanien, gegen die Liebe zu Don Carlos entscheidet sich Elisabeth von Valois und heiratet Philipp II., Carlos’ Vater. Staatsräson und private Gefühle sind ein Thema in Verdis Grand Opéra, diesem musikalischen Drama nach Friedrich Schiller. Doch Verdi und seine Librettisten nahmen auch andere Quellen zur Hand. Der Stoff trieb Verdi mehr als 20 Jahre um. Sieben Fassungen sind überliefert.
Generalmusikdirektor Cornelius Meister: "Es geht um Politik, es geht um wirklich Urmenschliches, es geht um diese grausliche Vorstellung, und das ist aber historisch ja wahr, dass zwei Verlobte plötzlich Stiefmutter und Stiefsohn werden, weil der eigene Vater dem Sohn die Braut wegschnappt. Nun kann man immer sagen, ja das war damals so, und man hat ja immer politisch geheiratet. Ok, aber das waren ja auch Menschen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass denen das damals egal war."
Ein reduziertes Bühnebild
Regisseurin Lotte de Beer und ihr Bühnenbildner Christoph Hetzer haben sich für ein extrem reduziertes Bühnenbild entschieden. Eine große schwarze, sichelartige Wand – in der Mitte nach vorne zugespitzt wie ein Rombus – nimmt etwa ein Drittel des äußeren Randes einer Drehbühne ein. Das unterteilt geschickt die Szenen. Im Innern des Drehbühnen-Kreises tauchen wenige Requisiten auf, das Ehebett des Königs, sein Arbeitszimmer, das arme Volk im Wald von Fontainebleau, oder: die Innenseite der Wand wird zur Tribüne für die blutdürstigen Massen während des Autodafés, der Ketzerverbrennung.
Ort und Zeit der Handlung liegen im Irgendwo und – wann, Spanien wird mit einigen Requisiten angedeutet. Die ungeheuer kluge Beleuchtungsregie von Alexander Brok nimmt das Hell-Dunkel von Verdis Orchesterfarben kongenial auf. Man denkt auch unweigerlich an Gemälde von Caravaggio oder Rembrandt. Lichtstrahlen schneiden helle Streifen in das Bühnendunkel und fokussieren das Geschehen. Lotte de Beer kreiert mit ihren Sängern ein sehr dichtes Kammerspiel, aber es bleibt für die fast durchweg im Halbdunkel spielende Handlung immer Raum für Assoziationen und vor allem für Verdis Musik. Die tragischen Konflikte der Figuren werden auch Dank des hervorragenden Ensembles und der spannenden musikalischen Ausführung sehr dicht erlebbar.
Verlogenes Schreckenssystem der Inquisition
Vor allem aber zeigt Lotte de Beer zwingend, wie sehr das verlogene Schreckenssystem der Inquisition alle Beteiligten zerreibt. Der eigentliche Drahtzieher ist der von Falk Struckmann mit mächtigem Bass gesungene Großinquisitor, der lächelnd zur Ketzerverbrennung ein Äpfelchen verspeist, der seinen Delinquenten scheinbar liebevoll vor der Hinrichtung den Kopf streichelt, erlöst er sie doch so von einem angeblich verfehlten Leben. König Philipp – exzellent mit sonorem, ausdrucksstarkem Bass dargestellt von Goran Jurić -, ist nichts als eine Marionette. Rodrigo – ideal besetzt mit Björn Bürgers kernigem Bariton - wandelt sich vom Kämpfer für die protestantischen Flamen zum Parteigänger Philipps und übt so Verrat an seinem Freund Carlos.
Massimo Giordano zeichnete mit seinem warmen, nie scharfen Tenor nach minimalen Anfangsunsicherheiten ein berührendes Rollenporträt des Don Carlos - auch schauspielerisch. Lotte de Beer sieht ihn als psychisches Wrack an der Grenze zum Wahnsinn. Er kann weder traumatische Kindheitserfahrungen wie den Verlust der Mutter oder die Kälte des Vaters verarbeiten noch die unmögliche Liebe zu Elisabeth und den Verrat des Freundes.
Großartig sang Olga Busuioc die Partie der um Ausgleich und Frieden bemühten Elisabeth, sie hat faszinierende Pianotöne sogar in den höchsten Lagen, aber auch den nötigen dramatischen Impetus.
Aktueller Bezug in der Inszenierung
Don Carlos wird auch nicht am Ende wie durch ein Wunder durch den Geist Kaiser Karls V. in Gestalt eines Mönches vor der Inquisition gerettet. Schon zur Ballettmusik im dritten Akt hatte Lotte de Beer Kinder beim Spiel mit einer Puppe gezeigt und die Ketzerverbrennung durch Anzünden der Puppe vorwegnehmen lassen. Am Schluss haben die Kinder den rettenden Mönch blutig geschlagen und sie töten ihn mit einer Plastiktüte. Ein bitteres Ende und eine nachdenklich machende Zutat. Kinder, die ohne Liebe und mit religiösem Fanatismus aufwachsen – und das ist brandaktuell – schrecken vor nichts zurück. Spannender, moderner, profilierter und doch ganz aus dem Stück selbst heraus entwickelt kann man Verdis Don Carlos kaum realisieren.