Neuer Rekord verkündet der Landessportbund Berlin: größter Mitgliederzuwachs seit der Wiedervereinigung. Auch andere Landessportverbände wie Brandenburg und Hessen verkünden: Sie haben mehr Mitglieder als je zuvor. In Thüringen gibt es seit sechs Jahren endlich wieder Mitgliederzuwächse und die Landessportbünde in Rheinland-Pfalz, NRW und Hamburg freuen sich, den Corona-Einbruch überstanden zu haben.
Kinderboom hebt die Mitgliederzahlen
Die Vereinsmitgliedschaften steigen wieder an - vor allem im Kinder- und Jugendbereich, zum Teil mit Zuwächsen um die 15 Prozentpunkte. Der Hamburger Sportbund habe sich richtig verjüngt, resümiert der Vorstand des HSB Christian Poon: „Das hat es noch nie gegeben. Also so viele Kinder und Jugendliche hatten wir noch nie, auch nicht vor der Pandemie.“
Das sei nicht unbedingt das Ergebnis aus den Restart-Kampagnen, sagt Sportwissenschaftler Lutz Thieme. Ein Programm des DOSB, das mit 25 Millionen Euro vom Bundesinnenministerium gefördert wurde und Deutschland nach der Pandemie wieder in Bewegung bringen sollte.
Lutz Thieme glaubt, bei den Zuwächsen im Kinderbereich handle es sich schlicht um die Summe aus den Kindern, die jetzt sowieso in den Sport eingestiegen wären, und denen, die während Corona nicht konnten: "Weil seit 2011 im Durchschnitt in Deutschland und auch in ganz vielen Regionen ja die Geburten wieder ansteigen. Das heißt, das sind dann diejenigen, die in den letzten Jahren auch wirklich in die Vereine hineingehen könnten – und die konnten nicht wegen Corona. Und jetzt kommen die sozusagen durch den Corona-Effekt und durch den Geburten-Effekt und alle denken: Oh, jetzt kommen aber ganz viele."
Mitgliederbindung herausfordernder als Gewinnung
80 Prozent aller deutschen Kinder und Jugendlichen waren irgendwann einmal im Sportverein, weiß Sportwissenschaftler Alexander Woll. Die Kinder für den Sport zu gewinnen, sei nicht das Problem und das weckt Hoffnungen.
„Das stimmt uns wirklich positiv. Denn die Kinder und Jugendliche, die wir jetzt in den organisierten Sport bekommen, sind ja hoffentlich auch die erwachsenen Mitglieder von morgen", hofft Christian Poon vom Hamburger Sportbund. Allerdings zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre, dass Jugendliche sich früher vom Vereinssport abwenden. Sie gehen oft lieber ins Fitness-Studio und haben durch Ganztagsschulen weniger frei verfügbare Zeit übrig als noch vor einigen Jahren.
Deshalb müsse man auch etwas für die Mitgliederbindung machen, so Sportwissenschaftler Thieme: „Schaffe ich es denn einen größeren Anteil von Jugendlichen tatsächlich in meinem Verein zu halten oder im System des organisierten Sports zu halten? Wenn das gelingt, dann wären die Kurven nicht mehr so abfallend. Das heißt also, ich habe dann eine viel größere Anzahl der Leute.“
Vereine melden Warteliste und Personalprobleme
Und die könnten ehrenamtliche Aufgaben im Verein übernehmen. Denn Übungsleiterinnen, Übungsleiter und Ehrenamtliche fehlen – ein Problem, das es vor der Pandemie schon gab, jetzt aber durch die aktuellen Mitgliederzuwächse im Kinder- und Jugendbereich noch verschärft wird: Immer mehr Kinder kommen in die Vereine, aber es gibt nicht genügend Betreuungspersonen, die Angebote stemmen können. Die Landessportbünde Hamburg und NRW berichten von langen Wartelisten und Personalproblemen.
Sportwissenschaftler Woll ist dennoch optimistisch, dass auch Ehrenamtliche zurückkommen. Insgesamt seien die Mitgliederrückgänge durch die Pandemie relativ gering, durchschnittlich nur circa vier Prozentpunkte über alle Verbände. Die Rückgänge würden nicht nur Austritte zeigen, sondern auch fehlende Neuanmeldungen.
Um jetzt auch Erwachsene für den Vereinssport zu begeistern, brauche es gezielte Kampagnen, so Woll: „Entscheidend ist genau der Punkt, dass man dorthin geht, wo die Menschen sind, und sie dort abholt, wo sie sind. Reine Kommunikationskampagnen für sich, die greifen nicht. Die sind zwar eine Voraussetzung, aber sie müssen kombiniert werden mit aufsuchenden Programmen der Bewegungsförderung. Also bevor man zu viel Kommunikationskampagnen macht, braucht man sicherlich, wenn ich priorisieren müsste, eine Kampagne zur Qualifizierung von Personal, weil das dann auch nachhaltige Effekte hat.“
In Hamburg und in Rheinland-Pfalz werden Gelder genutzt, um Übungsleiter-Ausbildungen zu unterstützen. In NRW soll mit verschiedenen Projekten das Ehrenamt attraktiver werden.
Zielsetzungen von Vereinen und Verbänden unterschiedlich
Lutz Thieme sieht als ehemaliger Präsident des Landessportbundes Rheinland-Pfalz noch einen anderen Konflikt: „Ich denke, es gibt eine unterschiedliche Logik zwischen den Sportvereinen und den Sportverbänden: Auf der Sportvereinsebene, da müssen Sie als Sportverein schauen, dass Sie Ihre Angebote aufrechterhalten können. Das machen Sie durch Mitgliedsbeiträge, und das machen Sie durch ehrenamtliche Arbeit.“
Ein Mitglied nützt dem Verein also am meisten, wenn es den Beitrag zahlt und sich zusätzlich auch ehrenamtlich engagiert. Gibt es aber zu viele Mitglieder, die nur ihren Beitrag zahlen, ohne ehrenamtliche Arbeit zu übernehmen, fehlen dem Verein Ressourcen: „Das heißt, Sie haben als Verein keine Logik der Mitglieder-Maximierung, sondern Sie haben eine Logik der Mitglieder-Optimierung. Und als Verband haben Sie aber genau das Gegenteil: Als Verband sind Sie nämlich mächtiger, Sie kriegen größere öffentliche Zuschüsse, je mehr Sie dann tatsächlich auch Mitglieder haben. Und deswegen versuchen Sie dann, Ihren Mitgliedsvereinen auch zu sagen: So viele wie mögliche Mitglieder ist gut und Mitgliedssteigerung ist gut!“