Peter Sawicki: Brüssel contra Warschau heißt es jetzt, mit ungewissem Ausgang zunächst einmal. Vor der Sendung haben wir das Thema noch weiter vertieft, und zwar mit Urs Pötzsch. Er ist Jurist am Freiburger Centrum für europäische Politik. Und die erste Frage war, wie dünn die Luft jetzt für Warschau wird.
Urs Pötzsch: Wie in dem Bericht aus Brüssel schon gesagt wurde, ist die Einleitung des heutigen Verfahrens noch nicht die Ultima Ratio der Europäischen Union. Dieses Verfahren nach Artikel sieben sieht noch einige Schritte vor, und insofern sehe ich da auch noch Möglichkeiten, zu einer politischen Lösung zu kommen.
Sawicki: Wenn wir das mal konkretisieren. Glauben Sie ernsthaft, dass Polen zum Dialog noch bereit ist?
Pötzsch: Das würde ich zum heutigen Zeitpunkt nicht ausschließen wollen, denn Polen hat sicherlich kein Interesse daran, sich innerhalb der Europäischen Union zu isolieren. Und die jüngsten Entwicklungen deuten eigentlich gerade darauf hin. Insofern denke ich, dass wir aus Warschau auch noch Gesprächsbereitschaft sehen werden.
"Polnische Regierung weiß, dass Justizreformen kein rein innenpolitisches Thema sind"
Sawicki: Woran machen Sie das fest, weil ja die Reaktionen relativ deutlich gewesen sind, dass man sich da von Brüssel eben nicht in die Innenpolitik hineinreden lassen möchte?
Pötzsch: Ich denke, auch die polnische Regierung weiß, dass die Justizreformen kein rein innenpolitisches Thema sind. Das Funktionieren der Justiz und insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz ist essentiell für das Funktionieren der Europäischen Union. Die Bürger müssen die Möglichkeiten haben, ihre Rechte aus dem Unionsrecht geltend zu machen. Gerichte müssen zusammenarbeiten, um Urteile anzuerkennen und zu vollstrecken. Und auch Unternehmen brauchen innerhalb des Binnenmarkts Rechtssicherheit. Vor dem Hintergrund dessen, aber auch vor dem Hintergrund anderer politischer Themen, die gerade auf der Agenda sind, denke ich, ist es Polen wichtig, gut vernetzt zu bleiben innerhalb der Europäischen Union und den europäischen Partnern nicht vor den Kopf zu stoßen.
Sawicki: Wenn wir das jetzt mal durchgehen: Der Artikel sieben ist jetzt formal beantragt worden, ist in Gang gesetzt worden. Wie wird das Verfahren jetzt weitergehen?
Pötzsch: Wie ja schon mehrfach darauf hingewiesen wurden, sieht der Artikel sieben im Wesentlichen drei verschiedene Stufen vor. Das erste ist die Feststellung einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung. Das zweite wäre die Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung. Und die dritte Stufe wäre der Beschluss von Sanktionen. Heute ist nun erst mal das Verfahren nach Absatz eins eingeleitet worden. Das heißt, jetzt sind der Rat und das Europäische Parlament eingebunden. Ich denke, dieses Verfahren nach Artikel sieben Absatz eins lässt Spielraum für den Rat, auch noch in Dialog zu treten mit der polnischen Regierung. Es ist zum Beispiel die Rede davon, dass der betroffene Mitgliedsstaat angehört werden muss und dass der Rat die Möglichkeit hat, Empfehlungen auszusprechen.
Sawicki: Das heißt, wir reden jetzt erst mal von der Möglichkeit, politische Gespräche weiter zu führen, sozusagen auf der Dialogebene zu bleiben. Nun ist aber ja nicht unwahrscheinlich, dass Polen trotzdem bei seiner Linie bleibt, und Ungarn hat ja quasi schon angekündigt, dem Entzug von Stimmrechten am Ende nicht zuzustimmen, das Ganze zu blockieren. Was sind die Alternativsanktionen, die möglichen?
Pötzsch: Ich gebe zu bedenken: Im politischen Spiel, in politischen Verhandlungen kann auch geblufft werden. Das ist, denke ich, Teil der diplomatischen Instrumente. Deswegen weiß ich nicht, ob wir das wirklich als gegeben voraussetzen können, dass es bei einem Veto Ungarns bleibt. Wenn es so bliebe, hieße dies, dass Artikel sieben über die Feststellung nach Absatz eins nicht hinauskäme. Dann wären wir da gewissermaßen in einer Sackgasse.
Pötzsch: Verhandlungen für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen stehen an
Sawicki: Kommt man aus der dann irgendwie raus, aus Sicht der EU?
Pötzsch: Na ja. Polen ist Mitglied der Europäischen Union, arbeitet mit den anderen Partnern tagtäglich zusammen und muss schauen, dass es da auch seine Beziehungen pflegt und den Partner nicht vor den Kopf stößt. Ich denke, der Brexit-Prozess ist ein wichtiges Thema, wo es nicht nur darauf ankommt, einerseits Geschlossenheit in der EU-27 zu wahren, sondern wo die einzelnen Mitgliedsstaaten auch ein Interesse haben, dass ihre nationalen Interessen Gehör finden in Brüssel und dann als Teil des gesamten Bündels an Interessen gegenüber Großbritannien durchgesetzt werden. Ich denke, das darf Polen nicht vernachlässigen, diesen Aspekt, und dann stehen ja jetzt auch die Verhandlungen für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen an und die Überarbeitung der entsprechenden Fonds, über die Gelder aus dem EU-Haushalt an die Mitgliedsstaaten ausgezahlt werden. Das heißt, ich denke, wenn man ein bisschen in die verschiedenen Politikbereiche hineinschaut, wird man einige Punkte finden, wo Polen doch große Interessen hat an einer fruchtbaren Zusammenarbeit innerhalb der EU.
Was eine Frage ist, ist tatsächlich, inwiefern man bestimmte Fonds, die Zwecke haben, zum Beispiel Kohäsionsfonds, konditionieren kann auf die Einhaltung von rechtsstaatlichen Kriterien. Denn bestimmte Fonds, Programme sind ja in Verträgen vorgezeichnet. Die haben gewisse Zwecke, die festgelegt sind im europäischen Primärrecht. Ich denke, das kann man nicht ändern aufgrund des Vorrangs der Verträge. Das heißt, man kann da sicherlich im Rahmen der Fonds bestimmte Sachen nachjustieren, aber man wird sicherlich da nicht alles umstellen können. Insofern, denke ich, muss man da Vorbehalte formulieren, dass da auch die Mittel nicht unbegrenzt sind, über die Reformen der Fonds da auf die Situation in Polen oder anderen westlichen Mitgliedsstaaten zu reagieren.
Sawicki: Sie sagen es ja: Da sind die Mittel auch begrenzt. Wie wahrscheinlich ist es aus Ihrer Sicht, dass man da politisch noch zu einem Kompromiss zusammenfindet?
Pötzsch: Aufgrund des Brexits haben wir ja eine erhebliche Lücke im EU-Budget, die geschlossen werden muss, und das kann einnahmenseitig oder ausgabenseitig erfolgen. Wahrscheinlich wird es eine Kombination aus beidem werden. Das heißt die Nettoempfänger (und Polen ist ein großer Nettoempfänger) werden sich auf Abstriche einstellen müssen, so oder so. Das heißt, allein die Begrenztheit oder die Kürzung des Budgets erzeugt da einen gewissen Druck, der sicherlich auch für Polen als Nettoempfänger heute schon relevant sein dürfte.
Sawicki: Heute Abend bei uns im Deutschlandfunk Urs Pötzsch, der Jurist vom Centrum für Europäische Politik, und das Interview haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
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