Zwei Jahre haben Restauratoren gegen den Niedergang gearbeitet. Jetzt klingt zumindest die Hamburger Schnitger-Orgel wieder wie neu.
Der Verfall begann schon vor Jahrzehnten: Manch gutgemeinter Restaurierungsversuch stellte sich als kontraproduktiv heraus. Zudem wurden viele Kirchen wärmeisoliert, was den Orgeln nicht unbedingt bekam.
Jetzt ringen die Fachleute um Gegenmaßnahmen: Mit Spezialmikroskopen und Teilchenbeschleunigern fahnden sie nach den mikroskopischen Ursachen der Korrosion und wollen damit herausfinden, wie sich die Instrumente besser schützen lassen. Der Deutschlandfunk hat zwei Jahre lang die Restaurierung einer Schnitger-Orgel in Hamburg begleitet und Wissenschaftler bei ihrer Spurensuche beobachtet.
Das Manuskript in voller Länge:
Markus Zoitl: "Die wichtigsten Stimmen dieser Orgel sind original. Das ist ein unglaublicher Wert."
In Deutschlands Kirchen stehen Kulturschätze – Orgeln, teils Hunderte von Jahren alt.
Manfred Cordes, Hochschule für Künste Bremen: "Das ist unser Klanggedächtnis. Insofern sind wir gut beraten, alles dafür zu tun, dass uns das erhalten bleibt."
Retten, was zu retten ist
Viele sind in einem schlechten Zustand, manche kaum noch spielbar. Wissenschaftler und Restauratoren wollen retten, was zu retten ist. Mit Hightech und neuesten Analyseverfahren.
Kristian Wegscheider: "Selbst eine völlig zersplitterte Pfeife, wo der Laie sagt, das kannst’e weghauen – das fummeln wir so weit, dass man fast alle Pfeifen wieder hinkriegt."
Bleifraß und Kirchenschimmel. Gegen den Verfall historischer Orgeln. Von Frank Grotelüschen.
Neuenfelde am Stadtrand von Hamburg. Eigentlich ein Dorf hinterm Deich, umgeben von den Obstplantagen des Alten Lands. Im Zentrum: St. Pankratius, 1683 erbaut. Eine Deckenbemalung im Stil der alten italienischen Meister, der Altar verziert mit Engeln und Putten – eine der wenigen Barockkirchen in Norddeutschland.
"Wir sind hier auf der Orgel-Empore. Beim Spieltisch, der Arbeitsplatz des Organisten." Hilger Kespohl ist der Organist von St. Pankratius, sein Instrument eine kulturelle Kostbarkeit: "Anno 1691. Gott allein die Ehre."
Arp Schnitger, ein begnadeter Orgelbauer
Die Orgel ist alt, das verrät die Inschrift über den Manualen. Ihr Konstrukteur: Arp Schnitger. Geboren 1648, gestorben 1719.
"Er baute die damals größte Orgel der Welt, in Hamburg St. Nikolai. Damit war er natürlich ein berühmter Orgelbauer. Sein Ruhm hat sich damals schnell verbreitet."
Ein begnadeter Handwerker. Und ein Manager, der seine Werkstatt gut organisierte und seinen Angestellten zu höchster Produktivität trieb. Mehr als 100 Orgeln haben sie gebaut – in Deutschland, England, Russland, Portugal und Spanien. Die von Neuenfelde sticht besonders heraus.
"Wir sind in der Heimatkirche Arp Schnitgers. Er ist hier in der Kirche begraben. Es ist mit Sicherheit einer der wichtigsten Schnitger-Orgeln überhaupt."
"Diese Orgel ist die größte zweimanualige Orgel, die Arp Schnitger gebaut hat. Von den ungefähr 1700 Pfeifen ist etwa die Hälfte original erhalten. Die andere Hälfte ist im Laufe der Zeit ersetzt worden."
Im Frühjahr 2015, ist von der einstigen Schönheit des Klangs nicht mehr viel zu erkennen.
"Der Klang der Orgel im Moment ist sehr unausgeglichen. Sehr schwammig, unklar, wenig differenziert – uneinheitlich einfach. Wenn man jetzt genau hinhört, hört man einige Mängel. Der klingt doch sehr angespannt und flattert. Und die Ansprache einzelner Pfeifen ist nicht gut. Manche rasseln. Es kommt einfach sehr Vieles zusammen."
Schimmel in der Orgel
Hilger Kespohl öffnet eine der Holzklappen der Orgel: "Als erstes wird die Windlade sichtbar, die mit vielen kleinen weißen Punkten belegt ist. Das ist Schimmel."
Dann zeigt Kespohl auf provisorisch reparierte Holzstifte, auf notdürftig geflicktes Blei – und auf Pfeifen, die deutlich heller sind als die anderen: Sie wurden irgendwann später hinzugefügt. Im Laufe der Jahrhunderte hat man die Orgel immer wieder verändert, hat sie umgebaut und dem Zeitgeist angepasst – und dabei manchen Fehler gemacht.
"Es ist Eichenholz verwendet worden, das von Natur aus eine Gerbsäure enthält. Wenn die austritt und mit dem Blei in Verbindung kommt, kann Bleifraß entstehen."
Schimmel, Bleifraß, altersschwache Pfeifen, missratene Modernisierungen – die Schnitger-Orgel von Neuenfelde soll restauriert und in ihren ursprünglichen Zustand gebracht werden. Ein Job für einen renommierten Orgelbauer – für Kristian Wegscheider aus Dresden.
"Das Endergebnis steht mir schon vor Augen und vor Ohren. Aber der Weg dahin ist ein holperiger, eckiger Schlinggarten."
April 2015: Wegscheider und seine Leute laufen die Treppe zur Orgelempore hoch und wieder hinunter. Sie haben Teile der Orgel demontiert und schleppen sie nun Kiste für Kiste zum Transporter auf dem Kirchhof. Stirnrunzelnd blickt Wegscheider in eine davon.
Was ist original, was wurde später verändert?
"Es gibt viele, viele Fragen hier an der Orgel, die wir im Moment noch nicht alle beantworten können. Diese Orgel hat so viele Veränderungen erfahren – ein schwedischer Krimi ist ein Spaß dagegen!"
Einen Bauplan gibt es nicht. Wegscheider und seine Leute müssen ihn mühevoll rekonstruieren. Was ist original, was wurde später verändert?
"Alle Orgelbauer, die hier gearbeitet haben, hatten eine Vision, wie diese Orgel klingen müsste, und jeder ein bisschen anders. Da wurden auch Dinge zusammengeschmissen, die nicht mit so einer großen Ehrfurcht dem Alten gegenüber waren. Da wurden verschiedene Pfeifen von anderen Orgeln, die übrig waren, hier einfach reingestellt – Hauptsache, die Namen stimmten."
Das Ziel der Restauratoren: die Orgel wieder in den Originalzustand von 1691 versetzen. Und die Folgen von Bleifraß und Schimmel beseitigen. Profitieren können sie von neuen Erkenntnissen und empfindlichsten Analysemethoden.
"Hier haben wir die Möglichkeit, sehr hoch zu vergrößern." Bremen, das Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung.
"Bis zu 100.000-fach können wir hier Strukturen abbilden und haben die Möglichkeit des Nachweises der Elementzusammensetzung." Ingenieurin Andrea Berg zeigt ein Rasterelektronenmikroskop, ein Spezialgerät zur Materialanalyse. "Wir sind hier in der Lage, die Elemente, die vorhanden sind, nachzuweisen."
Normalerweise arbeiten die Forscher im Auftrag der Industrie und untersuchen gebrochene Schrauben oder defekte Wellen.
Wie im Detail wirkt die Säure aufs Blei?
"Geht irgendwo was kaputt, kommen die Kunden zu uns. Und wir gucken: Woran hat’s gelegen?"
Vor einiger Zeit nahmen sie mit ihrem Mikroskop ein altes Kulturgut unter die Lupe – Orgelpfeifen aus Blei. Seit einiger Zeit werden die Pfeifen immer stärker durch Essigsäure angegriffen. Die Säure stammt unter anderem aus Kaltleim, den man bei früheren Reparaturen der Bequemlichkeit halber eingesetzt hatte. Wie im Detail wirkt die Säure aufs Blei? Das Rasterelektronenmikroskop hat die Abläufe sichtbar gemacht:
"Das Blei ist Verbindungen eingegangen. Es haben sich vor allem Acetate gebildet, aber auch Carbonate."
"Normalerweise ist Blei ja relativ beständig", sagt Bergs Kollege Peter Plagemann.
"Es bildet sich auf der Oberfläche eine schützende Oxidschicht. Die ist sehr dünn, deswegen sieht man sie kaum. Diese Acetate zerstören diese Oxidschicht. Und deswegen kann die Korrosion voranschreiten. Was heimtückisch bei dieser Art der Korrosion ist: Die Korrosion findet in den Orgelpfeifen statt. D.h. von außen sieht man’s kaum. Die Korrosion schreitet voran, und keiner merkt’s. Bis es dann vielleicht zu einem Durchbruch kommt. Aber dann ist es zu spät, dann ist die Pfeife eigentlich schon zerstört."
Essigsäure allein reicht nicht, um das Blei zu schädigen, weiß Plagemann. Es muss noch ein zweiter Faktor dazukommen.
"Ohne Feuchtigkeit findet dort nichts statt. Nur dadurch, dass eine hohe relative Feuchtigkeit vorhanden ist, kann die Essigsäure wirksam sein. Und wir gehen davon aus, dass die Feuchtigkeit in einem kritischen Bereich ist." Nur: Wo kommt die Feuchtigkeit her, warum ist sie in einem kritischen Bereich?
Genaue Zeichnungen in 3D
September 2015, Dresden-Hellerau. In einer ehemaligen Tischlerei findet sich die Orgelwerkstatt von Kristian Wegscheider, hier wird die Schnitger-Orgel aus Hamburg-Neuenfelde restauriert. In einem der Räume sitzt Koos van der Linde vor seinem Laptop. Der Niederländer hat ein hölzernes Brett auf dem Schoß mit unzähligen Bohrlöchern und Halterungen. Es ist eine Windlade aus der Schnitger-Orgel, sie führt die Luft zu den einzelnen Pfeifen.
Mit einer digitalen Schieblehre misst van der Linde jede einzelne Bohrung, die Messwerte landen direkt im Rechner. Zur Kontrolle schaut er auf den Bildschirm – und nickt zufrieden.
"Dann sieht man, wie die Maße, die ich je gemessen habe, da eingezeichnet worden sind." Das Messdaten-Sammeln ist Teil einer aufwendigen Fleißarbeit.
"Die ganze Orgel von Neuenfelde wird am Ende 3D-gezeichnet im Computer sein, dass man sich jedes Detail angucken kann."
Ein akribischer 3D-Bauplan: Erst das Windwerk, früher große Blasebälge, heute ein elektrisches Gebläse. Dann die Windladen – eine komplexe Mechanik aus Holz. Sie lässt den Luftstrom nur zu jenen Pfeifen strömen, die beim Drücken einer Taste erklingen sollen. Und Orgelpfeifen in allen Varianten: Die großen für die tiefen Töne, die kurzen für die hohen. Manche klingen wie Flöten, andere erinnern an Trompeten, Posaunen und Hörner. Register, so heißen die verschiedenen Klangfarben. Erst wenn man mehrere Register kombiniert, ertönt der volle, breite Orgelklang.
"Das ist wirklich eine Art Detektivarbeit. Man sieht Spuren davon, wie der Orgelbauer genau vorgegangen ist. Man kann ein bisschen in seine Küche reingucken. Das macht die Arbeit so faszinierend." Die zentrale Frage: Welche Teile der Neuenfelder Orgel stammen vom Meister persönlich, was wurde im Laufe der Zeit verändert? Van der Linde zeigt auf ein paar Pfeifen, gestapelt in einem Regal. Statt aus Blei bestehen sie aus Holz – was ihnen einen lieblichen, warmen Flötenton verleiht. In der Orgel bildeten sie mit Bleipfeifen ein gemeinsames Register. Original Schnitger, oder ein Werk späterer Orgelbauer?
Rätsel um nachträgliche Bearbeitungen
"Die großen Pfeifen sind Holzpfeifen, die kleineren Pfeifen sind Metallpfeifen. Was merkwürdig und verdächtig war, dass Arp Schnitger das normalerweise nie gemacht hat. Der hat Register entweder komplett aus Holz gemacht oder komplett aus Metall. Solche gemischten Register gibt’s bei ihm eigentlich nicht."
Beide Pfeifenarten – Holz wie Blei – scheinen original von Schnitger zu sein. Allerdings zeigen manche der Bleipfeifen deutliche Bearbeitungsspuren: Irgendjemand hatte sie kürzer gemacht und dadurch die Tonhöhe verändert. Ein Rätsel, das van der Linde erst lösen konnte, als er die Windlade inspizierte – jenen ausgefeilten Holzmechanismus, auf dem die Pfeifen stehen. "Was ich festgestellt habe, war, dass die Bohrungen für die großen Pfeifen schon immer für Holzpfeifen gedient haben. Die kleineren, da hat man die Sachen für Metallpfeifen eingerichtet. Aber die Bohrungen, die darunter sind, sind auch typische weite Bohrungen für Holzpfeifen, wo die dicken Füße von Holzpfeifen reinpassen."
Das heißt: Ursprünglich hatte das gesamte Register aus Holzpfeifen bestanden, wie es typisch war für Schnitger. Die Metallpfeifen kamen später dazu, offenbar aus einem anderen Register.
"Wir haben immer gedacht, das war verloren, das war komplett weg. Jetzt haben wir statt einem kompletten Register zwei unvollständige Register. Was natürlich schön ist: Wenn Teile von einem Register da sind, kann man die restlichen Teile versuchen zu rekonstruieren."
Für die Restauratoren heißt das: Sie müssen die kleinen Holzpfeifen nachbauen und die Bleipfeifen verlängern, um sie wieder in den Originalzustand zu versetzen. "So versucht man, aus allen Bruchstücken was zusammenzutragen. Und so kommt man zu einer Rekonstruktion."
Im Raum nebenan ist Hartmut Schütz damit beschäftigt, die Pfeifen der Schnitger-Orgel herzurichten. "Beulen ausdrücken, Risse zulöten, Mündungen korrigieren, korrodierte Fußspitzen ergänzen." Manche Pfeifen werden nicht repariert, sie werden ersetzt.
"Das waren Pfeifen, die in den 50er Jahren neu gebaut gewesen sind und die nicht passen – weder in der Bauform noch im Material. Dort muss jetzt was rein, was dem ein bisschen näherkommt." Schütz hat ein Bleiblech zugeschnitten, zu einer Röhre gerollt und verlötet.
Nun trocknet er die Lötnaht mit einer Art Fön. Dann geht er zu einer Maschine und bringt die Röhre aufs korrekte Maß. "Das ist ein rotierendes Messer. Das ist so ziemlich die einzige Maschine, die man normalerweise beim Pfeifenbauen hat." Das Blei ist weich und nachgiebig. Passt man nicht auf, ist schnell eine Beule in die Pfeife gedrückt. "Fingerspitzengefühl. Wie Arbeit mit rohen Eiern."
Seit 1982 macht Hartmut Schütz diesen Job. Immer wieder vergleicht er seinen Neubau mit den alten Pfeifen von Arp Schnitger: Passt die Form, entspricht die Bauart dem Original? Schütz greift zur Feile, dann schneidet er ein Rechteck ins Blei – sozusagen die Lippe der Pfeife. Erst jetzt erzeugt sie einen Ton. "Das ist aber noch sehr roh." Dennoch legt Schütz die Pfeife aus der Hand. "Die sind jetzt erstmal soweit fertig."
Die Feinabstimmung kommt später, wenn die Pfeife wieder an ihrem angestammten Platz steht – der Schnitger-Orgel in Hamburg-Neuenfelde.
"Das Problem ist, dass bei den sehr wertvollen, weil sehr alten Instrumenten wir verstärkt einen Verfallsprozess beobachten. Und wir versuchen herauszukriegen, was eigentlich die Ursachen sind."
Problem mit Bleifraß wird größer
Die Hochschule für Künste in Bremen. Manfred Cordes fragt sich, warum das Problem mit dem Bleifraß in letzter Zeit immer größer wird. Um die Antwort zu finden, hat er sich mit einem Materialforscher zusammengetan – Herbert Juling von der Materialprüfungsanstalt Bremen.
"Innerhalb von wenigen Jahren kann eine ganze Pfeife komplett wegkorrodiert sein. Das Tragische daran ist: Man sieht das nicht." Klar ist: Bestimmte Leime und Hölzer dünsten Essigsäure aus. Doch um die Pfeifen angreifen zu können, braucht es auch Feuchtigkeit. Wo kommt diese Feuchtigkeit her? Cordes und Juling haben eine naheliegende Vermutung: Das Raumklima. Das nämlich hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert.
"Zunahme der Luftfeuchtigkeit. Veränderte Heizungssysteme. Bessere Isolierung." Vor einiger Zeit ist ein aufwendiges Projekt ausgelaufen: In zwei Kirchen nahmen Sensoren alle fünf Minuten Temperatur und Luftfeuchte auf. Diese Messwerte verglichen die Experten mit dem Heizverhalten in den Kirchen.
"Der Gottesdienst läuft anders ab als früher, ist ganz selten. Es sind nur noch wenig Kirchenbesucher. Aufgrund dessen wird auch anders geheizt: In der Woche bitte die Heizung ganz abschalten und nur zum Gottesdienst am Wochenende aufheizen, was dann teilweise relativ schnell und brutal passiert, also von 8° auf 18°." Die Menschen bringen Feuchtigkeit in die warme Kirche. Kühlt sich die Luft später ab, kondensiert diese Feuchtigkeit – auch in der Orgel. Hinzu kommt: Immer mehr Kirchen werden wärmeisoliert.
"Damit stört man natürlich das über Jahrhunderte eingestellte Gleichgewicht. Und gerade diese natürliche Zwangslüftung durch undichte Fenster ist dann weg." Wärmeisolierung, mangelnde Lüftung, abruptes Heizen – das lässt die Innenräume der Kirchen feucht werden und greift die Bleipfeifen an. Um die Resultate zu vertiefen, haben die Forscher ein Folgeprojekt aufgelegt, bei dem sie sechs Kirchen mit unterschiedlichen klimatischen Bedingungen untersuchen. Und: "Wir wollen auch mit den Orgelbauern zusammen erste Versuche machen, wie man die Situation verbessern kann. Sprich: Die Essigsäure irgendwie zu neutralisieren oder die Luftfeuchtigkeit runterzubekommen." Ideen dafür gibt es schon:
"Man kann sich vorstellen, dass man über moderne Trocknungsmittel, Silicagele oder so etwas, tatsächlich die Luft trocknen kann. Wie weit das funktioniert, das wollen wir alles im Labor ausprobieren." Die Trocknungsmittel sollen in das Gebläsesystem der Orgel integriert werden – vielleicht auch in Kombination mit kalkartigen Substanzen, die die Essigsäure neutralisieren. "Man könnte sich vorstellen, dass man in diese Windkästen kleine, flache Schalen stellt, in denen man Neutralisationsmittel reintut. Und dann muss man gucken, wie oft man das austauschen muss." In den nächsten Jahren soll sich zeigen, wie gut das funktioniert – zunächst im Labor, später vor Ort in den Kirchen.
Bleipfeifen für die Basstöne: vier Meter lang, 100 Kilogramm schwer
September 2016. Kristian Wegscheider und seine Leute sind wieder mal nach Hamburg-Neuenfelde gefahren. Die meisten Pfeifen der Schnitger-Orgel sind inzwischen auf Vordermann gebracht. Was jetzt noch zur Werkstatt nach Dresden gekarrt werden muss, sind die dicksten Brocken – die Bleipfeifen für die Basstöne, knapp vier Meter lang, an die 100 Kilogramm schwer. "Kannst du mithalten? Gut! Lass hängen." Behutsam hebt Wegscheider eine der Pfeifen aus ihrer Halterung und hängt sie in einen Flaschenzug ein. "So. Jetzt lass ich langsam los, Achtung!" Wie in Zeitlupe schwebt die Pfeife von der Orgelempore herab. "Das geht ja wunderbar. Siehst du, wie das Seil hierüber schnurpst?"
Unten nehmen die Kollegen die Pfeife in Empfang und lehnen sie vorsichtig an die Wand. Mit skeptischem Blick inspiziert Wegscheider die Schäden. "Der Pfeifenfuß, das kann man schon sehen, ist geknickt. Die Pfeife hat im Laufe der Zeit weiche Füße gekriegt. Hier werden wir sehen, ob wir die Fußspitze noch stabilisiert kriegen. Eventuell müssen wir sie kürzen und neu anlegen. Dann kriegt sie einen neuen Fuß." Allmählich nimmt sie Gestalt an – die Restaurierung der Schnitger-Orgel von 1688.
"Die ersten Klangproben sind sehr verheißungsvoll, die wir in der Werkstatt gemacht haben. Da kann man sich jetzt schon drauf freuen." Ein halbes Jahr später, im April 2017, sind auch die Basspfeifen repariert und stehen wieder an ihrem Platz. Nun folgt der letzte Schritt – die Intonation. "Intonieren ist Klangfarbe, Lautstärke, Charakter der Pfeife." Man kann die Pfeifen nicht einfach in die Orgel stellen und loslegen, sagt Markus Zoitl, der Intonateur. Zuvor muss man sie aufeinander abstimmen – sowohl klanglich als auch in der Tonhöhe. Dazu muss Zoitl jede der 1700 Pfeifen mit seinen Werkzeugen bearbeiten. "Messingpfeile, Drähte, Hammer, feine Messer, kleine Spatel. So ein bisschen aussehen tut’s wie in der Zahnarztpraxis." Die einzige Hightech-Hilfe: ein professionelles Stimmgerät. "Es erleichtert mir die Arbeit zum Stimmen. Es ist sehr genau, und ich bin viel schneller." Zoitl nimmt eine Pfeife in die Hand: Passt ihr Klang zu den anderen? "Hier überprüfe ich die Ansprache der Pfeife." (Ton). "D.h. wie schnell kommt die Pfeife in den Ton. Ist sie einen Tick zu langsam, sagen wir." (Ton) "Diese Pfeife hier ist einen ganz kleinen Tick zu langsam. Die mache ich jetzt schneller, indem ich mit einem Draht den Kern nach unten schlage." (Ton) "Spricht anders an." Das Schlagen mit dem Draht verändert das Innenleben der Pfeife um eine Nuance – und damit ihren Klang. Zufrieden? "Ja, perfekt."
Jetzt greift Zoitl zu seinem Stimmgerät. Die Pfeife ist noch ein wenig zu tief. Mit einer Schleifmaschine muss er sie ein wenig kürzer machen, nur um einen Millimeterbruchteil. "Diese Pfeife hier ist sechs Zehntel abzuschneiden." Fast drei Monate wird Markus Zoitl für die Intonation noch brauchen. "Sie fangen an zu strahlen, die Pfeifen."
Auf der Suche nach neuen Verfahren gegen Bleifraß
"Hier haben wir die protoneninduzierte Röntgenanregung, die Rutherford-Rückstreu-Spektrometrie und die protoneninduzierte Gammaemission." Eine Experimentierhalle am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf. Der Physiker Wolfgang Skorupa steht vor einer Apparatur aus Vakuumröhren, Ventilen und Detektoren. Das Hauptrohr kommt aus einer Betonwand, dahinter steckt ein Teilchenbeschleuniger. Er liefert Protonen, schnelle Wasserstoffkerne. Mit denen werden hier in Rossendorf für gewöhnlich Halbleitermaterialien analysiert. Doch Skorupa hat damit auch schon die Pfeifen einer Silbermann-Orgel untersucht. Mit Analysen allein will sich der Hobbyorganist nicht zufriedengeben. Er tüftelt an einem Verfahren, das die Pfeifen vor dem Bleifraß schützen soll. Das Prinzip: Eine Art Plasmabrenner bombardiert das Blei mit Stickstoffatomen und überzieht es gleichzeitig mit einer nanometerfeinen Schicht aus Quarz. "Sodass wir am Ende eine dünne Schicht mit Stickstoffanreicherung an der Oberfläche hatten. Und die hat wunderbar gegen die Korrosion gewirkt." Das Verfahren hat sich im Labor bewährt, sagt Skorupa. Aber: "Das Hauptdebakel war, dass das Verfahren natürlich zu teuer ist." Jetzt setzt der Physiker auf einen ausgemusterten Laserscanner, groß wie ein Kühlschrank.
"Es sind ja in deutschen Forschungseinrichtungen so viele Schrottanlagen, die rumstehen, dass ich froh bin, dass wir so ein Gerät, was eigentlich nur noch rumstand, einer neuen, hoffentlich attraktiven Anwendung zuführen können." Skorupa will nur den Steuermechanismus nutzen, den Laser selbst ersetzen durch einen Plasmabrenner, der die stickstoffhaltige Nanoschicht aufs Blei aufträgt. Noch steht die Anlage in einem Gang herum. Doch bald sollen die Experimente beginnen. Und in zwei Jahren sollte klar sein, ob das neue Nanoverfahren den Orgelbauern tatsächlich helfen kann im Kampf gegen den Bleifraß.
Solange behilft man sich mit Haustechnik. Anfang Juni 2017. In der Neuenfelder Kirche zeigt Organist Hilger Kespohl auf eines der Fenster. Neben dem Kippmechanismus: ein unauffälliges Kästchen. "Wir haben jetzt eine relativ aufwändige Klimasteuerung in der Kirche. Es gibt kleine Elektromotoren an den Fenstern. Und über Computer und viele Fühler, die in der Kirche verteilt sind, können die Fenster automatisch geöffnet und geschlossen werden. Es geht dabei vor allem um die Luftfeuchtigkeit." Wird die Luft in der Kirche zu feucht, öffnen sich die Fenster automatisch und lüften den Innenraum. Eine Maßnahme gegen Schimmelbildung und Bleifraß. Wobei sich bei der Restaurierung gezeigt hat: In Neuenfelde hat der Bleifraß gar nicht so schlimm gewütet. "Diese Metallschäden waren Gott sei Dank geringer als befürchtet, sodass dieses Problem eigentlich nicht so eine große Rolle gespielt hat bei uns."
Nah dran am ursprünglichen Zustand
Die Restauratoren haben alle Pfeifen, die nicht von Arp Schnitger stammen, ersetzt durch neue, originalgetreue Pfeifen. "Die Pfeifenmacher haben zuerst die vorhandenen Originalpfeifen restauriert und dabei die nötigen Erkenntnisse gewonnen, um den Rest rekonstruieren zu können."
Haben die Fachleute ihr Ziel erreicht – eine Restaurierung, die das Instrument möglichst nahe an seinen ursprünglichen Zustand bringt? "Die Kenntnisse über den barocken Orgelbau sind in den letzten 10 bis 15 Jahren unglaublich angewachsen. Und die Fertigungstechniken im Pfeifenbau sind so verfeinert, dass wir jetzt davon ausgehen können, dass wir viel näher dran sind."
Und wie klingt sie, die frisch restaurierte Schnitger-Orgel aus Hamburg-Neuenfelde? Hilger Kespohl steigt die Treppe hinauf zur Orgelempore und setzt sich an den Spieltisch, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. "Es ist unglaublich schön geworden. Alle Erwartungen haben sich erfüllt. Es klingt fantastisch. Der Klang ist außerordentlich klar. Es ist der Klang, so wie man sich das als Organist wünscht. Es ist sehr klar und ermöglicht alle Feinheiten der Interpretation, die man als Spieler der Musik mitgeben will."
Zwei Jahre hat die Restaurierung gedauert, eine knappe Million hat sie gekostet. Nun ertönt sie wieder in ihrem ursprünglichen Glanz – und ist damit die vielleicht beste Schnitger-Orgel überhaupt.
Bleifraß und Kirchenschimmel. Gegen den Verfall historischer Orgeln. Von Frank Grotelüschen.
Redaktion: Christiane Knoll
Eine Produktion des Deutschlandfunk 2017