Die ersten Wahllokale im Osten der Türkei öffneten bereits um 07.00 Uhr Ortszeit (06.00 MESZ), eine Stunde später auch die im Westen. Im Ausland waren zusätzlich 2,9 Millionen Türken zur Wahl zugelassen, dort war aber bereits abgestimmt worden, unter anderem in Deutschland. Korrespondenten berichteten, dass viele Bürger schon am Morgen in die Wahllokale kamen. Das Referendum findet unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt - rund 380.000 Sicherheitskräfte sind in der Türkei im Einsatz.
In der mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinz Diyarbakir wurden während des Referendums zwei Menschen getötet und ein weiterer verletzt. Die Nachrichtenagentur DHA berichtete, dass es vor einem Wahllokal zu einem Streit gekommen sei. Die Beteiligten seien mit Messern und Schusswaffen aufeinander losgegangen. Zwei der drei Verletzten seien auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Ein Verdächtiger sei festgenommen worden. Über die Hintergründe der Auseinandersetzung wurde nichts bekannt.
Nach Angaben der pro-kurdischen HDP behindern Polizisten während des Referendums zum Teil die Arbeit oppositioneller Wahlbeobachter. Der HDP-Abgeordnete Pir sagte der Deutschen Presse-Agentur telefonisch, die Sicherheitskräfte gingen "gezielt gegen die HDP und die CHP vor, also gegen das Nein-Lager". Mehrere Wahlbeoachter seien abgeführt worden. Die Polizei begründete ihr Vorgehen damit, dass verbotene Parteisymbole in Wahllokalen verwendet worden seien.
Anschlag auf AKP-Politiker
In der vergangenen Nacht gab es Sicherheitskreisen zufolge einen Anschlag kurdischer Extremisten auf einen Regionalpolitiker der regierenden AKP, der mit dem Auto in der südöstlichen Provinz Van unterwegs war. Bei dem Angriff sei ein Leibwächter getötet worden, hieß es. Ein zweiter Wächter sei bei dem Anschlag der verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK verletzt worden.
Bei dem Referendum geht es um die Frage, ob das Land künftig nach einem Präsidialsystem regiert werden soll. Die Türken haben die Wahl zwischen Ja oder Nein - auf türkisch: Evet oder Hayir. Geöffnet sind die Wahllokale bis zum Nachmittag - im Osten bis 16.00 Uhr, im Westen eine Stunde länger.
Hochrechnungen am Abend
Zuverlässige Hochrechnungen werden schon am Abend erwartet. Wann feststeht, welches Lager sich durchgesetzt hat, hängt davon ab, wie knapp das Ergebnis ausfällt.
Sollte es für die Verfassungsreform die erforderliche Mehrheit von mehr als der Hälfte der Stimmen geben, würde Staatschef Erdogan dadurch deutlich mehr Macht erhalten. Er dürfte wieder Chef der Regierungspartei AKP werden. Die Reform würde schrittweise bis zur ersten gemeinsamen Wahl von Parlament und Präsident umgesetzt, die für November 2019 geplant ist. Insgesamt sind 18 Änderungen an der türkischen Verfassung geplant. Danach würde der Präsident nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten würde entfallen. Erdogan könnte im äußersten Fall bis 2034 regieren.
Opposition warnt vor "Ein-Mann-Regime"
Kritiker warnten vor Gefahren für Demokratie, Menschenrechte und Pressefreiheit. Oppositionsführer und CHP-Chef Kilicdaroglu rief am letzten Wahlkampftag vor Anhängern: "Wollen wir ein demokratisches parlamentarisches System, oder wollen wir ein Ein-Mann-Regime?" Er appellierte an die Wähler: "Würdet Ihr Eure Kinder in einen Bus ohne Bremsen setzen? Schützt die Demokratie, wie ihr Eure Kinder schützen würdet." Die pro-kurdische HDP warb bei ihrer Abschlusskundgebung in Diyarbakir ebenfalls für ein Nein beim Referendum.
Der islamisch-konservative Staatschef Erdogan warb in den vergangenen Wochen um Zustimmung für die angestrebte Verfassungsänderung. Er argumentierte, in unruhigen Zeiten nach dem Putschversuch im Juli vorigen Jahres sei eine starke Führung nötig. Für den Fall seines Sieges beim Referendum versprach Erogan Sicherheit, Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung. Er hatte im Wahlkampf auch die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt.
Erdogan: Referendum ist Lektion für Europa
"Dieser Sonntag ist der Tag, an dem unser Volk jenen europäischen Ländern eine Lektion erteilen wird, die uns in den vergangenen zwei Monaten mit aller Art von Gesetzlosigkeit einschüchtern wollten", sagte Erdogan vor jubelnden Anhängern gestern in Istanbul. Heute betonte der 63-Jährige bei seiner Stimmabgabe, der Volksentscheid sei eine Abstimmung "über die Zukunft" der Türkei.
Der türkische Ministerpräsident Yildirim versprach bei seiner Stimmabgabe in der westlichen Provinz Izmir, man werde jedes Ergebnis akzeptieren. "Die Entscheidung unserer Nation ist die schönste Entscheidung." Der türkische Außenminister Cavusoglu kritisierte bei seiner Stimmabgabe Einmischungsversuche aus dem Ausland. Einige "aus dem Ausland" hätten versucht, "der türkischen Nation zu sagen, was sie tun soll", sagte er. "Sie haben Partei ergriffen, aber heute gehört die Entscheidung unserer Nation".
Während des Wahlkampfs war es zu schweren Spannungen zwischen der Türkei und mehreren europäischen Staaten gekommen. Auslöser waren geplante Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsvertreter. Erdogan hatte Deutschland und den Niederlanden "Nazi-Methoden" vorgeworfen. In sozialen Netzwerken gab es daraufhin regelrechte Hasskampagnen zwischen Deutsch-Türken, die vor allem gegen Erdogan-Kritiker gerichtet waren.
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Gieler sagte im Deutschlandfunk, er befürchte, dass sich die Türkei bei einer mehrheitlichen Zustimmung beim Referendum zu einem stark personenzentrierten autoritären System, einer Art "Demokratur", entwickeln werde. Auch die Spaltung der türkischen Gesellschaft werde sich weiter vertiefen.
(tj/kis/jasi)