Am letzten Tag der Volksabstimmung ließ sich auch die politische Führung des Landes in Wahllokalen sehen. Das Staatsfernsehen zeigte, wie Präsident Putin in einem Moskauer Wahllokal seinen Pass vorzeigte, dann einen desinfizierten Stift nahm, er kurz der Kamera seinen Rücken zudrehte und dann seinen Stimmzettel einwarf. Ähnlich der Premierminister, Michail Mischustin:"Heute bestimmen wir die Zukunft Russlands. Ich habe für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes abgestimmt, für die Bewahrung seiner Geschichte, Traditionen und Werte."
Sogar die Zentrale Wahlkommission, eigentlich auf Unparteilichkeit verpflichtet, veröffentlichte schon am Nachmittag einen ersten Trend – während die Wahllokale in den meisten Zeitzonen noch geöffnet waren.
Einseitige Darstellung der Verfassungsänderung
Und so ließ auch Wenjamin Kondratjew keinen Zweifel offen, wie er abgestimmt hatte. Kondratjew ist Gouverneur der Region Krasnodar, die im Süden des europäischen Teils Russlands liegt, zwischen Schwarzem Meer und Kaukasus.
"Die Verfassungsänderungen stellen die Möglichkeit dar, das Land stabil zu halten, sich entwickelnd zu halten. Die Möglichkeit, dass unser Land eine starke Macht bleibt. Und die Möglichkeit, dass es in unserem Land einen starken Präsidenten gibt."
Ob die offiziellen Zahlen zu Wahlbeteiligung und Zustimmung so stimmen, kann nicht überprüft werden. Vor dem Hintergrund einer einseitigen Darstellung der Verfassungsänderungen in der Öffentlichkeit, einer hochgradigen Mobilisierung von Wählern, die unter Druck gesetzt werden konnten und der Unmöglichkeit, eine einwöchige Abstimmung in Wahllokalen auch nur annähernd unabhängig zu kontrollieren, muss man von Einflussnahme ausgehen.
Anteil der Ja-Stimmen könnte niedriger sein
Dafür sprechen auch Nachwahlbefragungen von NGOs und der Oppositionspartei Jabloko, die in Moskau und Sankt Petersburg Wählerinnen und Wähler befragten. Alle drei kommen zu dem Ergebnis, dass der Anteil von Ja-Stimmen niedriger liegen könnte als offiziell behauptet.
"In Moskau ist der Wähler freier. Er hängt nicht so stark vom Willen seines Arbeitgebers ab. Wenn sie ihn bei einer Stelle rausjagen, findet er eine andere. Das ist Moskau", sagt der Politologe Dmitrij Oreschkin im unabhängigen Sender Doschd.
"Wenn Du in Pensa lebst, einer ärmeren Stadt, und sie Dich dort rauswerfen, hast Du Dein Leben auf lange Sicht verkorkst. Also: Die Verfassungsänderungen werden bei uns im Grunde von den Provinzen unterstützt und den sogenannten Wahl-Sultanaten."
Die Wahl-Sultanate sind die muslimischen Teilrepubliken im Kaukasus, wie zum Beispiel Tschetschenien. Loyal zu Moskau stimmten aber auch andere Regionen ab, darunter die annektierte Krim und die dortige Hafenstadt Sewastopol.
"Nicht einmal Stalin hat die Sowjetunion so lange regiert"
Am Nachmittag und Abend versammelten sich in der russischen Hauptstadt auf dem innerstädtischen Puschkinplatz einige hundert Demonstranten. Sie wendeten sich gegen die Verfassungsänderungen, insbesondere gegen die Möglichkeit für den amtierenden Präsidenten, bei Wahlen weiterhin antreten zu dürfen und bis 2036 weiter zu regieren.
"Diese Zahl für sich, 2036, ist furchtbar", meint Wjatscheslaw. "Wenn Sie in die Geschichte schauen, nicht einmal Josef Stalin hat die Sowjetunion so lange regiert. Also, die Erkenntnis, dass meine Töchter dann weit über 30 sein werden, wenn Putin immer noch regiert, hat mich erschreckt."Die Polizei griff auf dem Puschkinplatz nicht ein.
Wird die Mehrheit für die Verfassungsänderungen nun bestätigt, treten sie umgehend in Kraft. Russland hat dann eine in großen Teilen umgeschriebene Verfassung. Der Präsident, der die Abstimmung trotz Corona-Pandemie und ökonomischer Krise angesetzt und durchgesetzt hatte, wird sich in seinem Kurs bestätigt sehen.