Archiv

Verfolgte Musiker
Auf den Spuren vergessener Komponisten, Instrumentalisten und Sänger

Zum zweiten Mal hat eine Tagung an der Musikhochschule in Weimar verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen in den Blick genommen. Ermordete, eingesperrte, in den Selbstmord oder ins Exil gedrängte Menschen standen dabei im Mittelpunkt. Einer von ihnen ist der Komponist Hans Heller.

Von Henry Bernhard |
    Das prächtige Fürstenhaus mit Reiterstandbild auf dem Platz der Demokratie in Weimar
    An der HfM Weimar fand die Tagung über verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen statt. (HfM, Andreas Mössinger)
    Der Musikwissenschaftler und Pianist Jascha Nemtsov ist hauptberuflich Entdecker. Entdecker verschollen geglaubter und vergessener jüdischer Musik des 20. Jahrhunderts. Ein Großteil davon ist Musik von Opfern, aber auch Überlebenden der Shoah. Nemtsov hat schon viele Komponisten wiederentdeckt, deren Namen niemandem mehr bekannt waren. Und dennoch:
    "Vor etwa zehn Jahren bin ich nach einer Veranstaltung in Berlin einem Historiker begegnet, der mich nach meinem Auftritt angesprochen hat und meinte: Ich beschäftige mich ja mit vergessenen, verfolgten jüdischen Komponisten. Und sein Onkel sei auch Komponist gewesen, und ob ich Interesse hätte, irgendwann mal seine Manuskripte anzuschauen. Ich habe natürlich ,Jaja' gesagt, wie man das so höflich zeigt, aber ich war sehr skeptisch. Wenn man so angesprochen wird, ist der erste Gedanke: Jeder hat irgendwo einen Onkel, der irgendwie Noten geschrieben hat." Und so ging Nemtsov erst Jahre später mit dem Historiker ins Archiv der Akademie der Künste. Dort gibt es eine alte Rundfunkaufnahme des Onkels. Ein Oratorium, von Hans Heller.
    "Und ich muss sagen, diese Musik, das war für mich wirklich ein unglaubliches Aha-Erlebnis. Die Musik hat mich richtig umgehauen. Ich habe sowas nicht annähernd erwartet, weder hinsichtlich der Qualität noch hinsichtlich der Originalität dieser Komposition. Schon nach ein paar Minuten wurde mir klar, dass es wirklich eine bedeutende Entdeckung ist. Das ist ein Komponist, der durch das Raster der Musikgeschichte komplett durchgefallen ist."
    Hans Heller: politisch wach und weitsichtig
    Jascha Nemtsov hat weiter recherchiert, Leben und Werk von Hans Heller erforscht. 1898 geboren, galt der Sohn einer liberalen deutsch-jüdischen Familie als Klavier-Wunderkind. Im Ersten Weltkrieg wurde er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Eine schwere Verwundung beendete Hellers angestrebte Pianisten-Karriere. Er studierte Komposition, u.a. bei Franz Schreker, seine ersten Werke sind noch tonal und wenig überraschend, meint Nemtsov.
    "Und dann ist plötzlich so eine Art Quantensprung. Kompositionen, `26/`27 entstanden, zeigen schon eine unglaubliche Meisterschaft. Es ist wirklich sehr auffällig, wie schnell er als Komponist um diese Zeit gereift ist. In diesen Jahren `26/`27 sind unter anderem zwei Scherzi für Klavier komponiert worden und auch eine Sonate, eine dreisätzige, die ich auch morgen im Konzert spielen werde."

    Das live gestreamte Konzert von Jascha Nemtsov gehörte zur Weimarer Tagung über verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Hans Heller beschreibt er als politisch wach und weitsichtig – der emigrierte noch 1933 nach Frankreich; wurde allerdings nach Kriegsausbruch verhaftet, musste schwere Zwangsarbeit leisten und entkam der Deportation nach Auschwitz durch Flucht – zuvor gewarnt durch eine Frau der GeStaPo. 1946 emigrierte er in die USA, komponierte unablässig, fand aber keinen Anschluss an das Musikleben.
    Stilistisch ist er vielfältig; das Spektrum reicht von tonalen Kompositionen über kreative Einsprengsel in Zwölftontechnik bis hin zu freier Atonalität. 1955 kehrte Hans Heller nach Deutschland zurück und führte sein Oratorium über biblische Texte von Jesaja und Jeremias auf. Aber mit seinem Tod 1969 verloren sich Hellers Spuren im deutschen Musikleben.
    Jascha Nemtsov: "Natürlich war auch sein Stil damals auch nicht unbedingt mehr zeitgemäß im Sinne der experimentellen Avantgarde der Nachkriegszeit. Er gehörte vor seiner Sozialisation, von seiner auch stilistischen Orientierung, zu der Musik der 20er/30er Jahre. Offensichtlich wurde seine Musik dann auch nicht mehr als zeitgemäß empfunden. Die biografischen Umstände spielten natürlich auch eine Rolle. Ich kann mir vorstellen, dass ein verfolgter Jude, der dann zurückkommt, vielleicht auch nicht von allen gern gesehen wurde."
    Uraufführung von Hellers "Requiem für den unbekannten Verfolgten" in 2021
    Welche Rolle die Verfolgung, die Angst, das unstete Leben auf der Flucht, Haft und Zwangsarbeit spielten, bleibt ungewiss. Hellers "Requiem für den unbekannten Verfolgten" wird im kommenden Jahr in Weimar posthum uraufgeführt. Aber nicht nur um Komponisten, auch um Instrumentalisten und Sänger ging es auf der Weimarer Tagung, um Profis wie Laien, die im KZ Buchenwald musizierten. Sei es in der Lagerkapelle, sei es bei befohlenen, geduldeten, erlaubten oder versteckten Aufführungen im kleinen oder größeren Kreis.
    Die Musikwissenschaftlern Christine Oeser von der Uni Osnabrück hat acht Liedsammlungen aus dem KZ Buchenwald ausgewertet und Künstlernetzwerke erstellt. Von Komponisten, Liedtextern, Orchestermusikern, Sängern, Darstellern, Balletttänzern und auch einem Clown. Oeser berichtet von Konzerten in den Jahren `43/`44 mit bis zu 1.000 Zuhörern, schränkt aber auch ein: "Gerade jüdische Gefangene hatten nicht die Gelegenheit, diese Konzerte zu besuchen oder die russischen Kriegsgefangenen. Manche Gefangenengruppen hatten da wirklich weniger Zugang als andere. Auf der anderen Seite aber bestand eben diese Lagerkapelle ja zum Teil aus Berufsmusikern, aber zum Teil auch aus Laienmusikern. Und die durften ihre Instrumente behalten. Die haben auch auf den Blocks musiziert. Einerseits ist es wirklich nur ein ausgewählter Kreis. Andererseits es gibt eben auch das kulturelle, geheime Leben auf den Blocks, das zwischen geduldet und genehmigt irgendwo changiert."

    Inna Klause promoviert zur Zeit an der Musikhochschule Weimar zur Musikausübung im sowjetischen Gulag und in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Sie hat sich u.a. mit dem Umgang der DDR-Musikwissenschaft mit den Notensammlungen aus dem KZ Buchenwald beschäftigt.
    "Es geht tatsächlich um die Rekonstruktion von Humanität"
    "Die Interpretation der Musik im Konzentrationslager wurde vollkommenen in den Dienst der Ideologie gestellt, und Musik galt als wirksame Waffe des illegalen Kampfes. Andere Funktionen von Musik wurden entweder übergangen oder nur beiläufig erwähnt, die vielen unterschiedlichen und auch ambivalenten Funktion von Musik in Lagerhaft, wie beispielsweise die Darstellung der Unterdrückung oder Ablenkung, Unterhaltung, Zeitvertreib, aber auch Machtmissbrauch gegenüber anderen Häftlingen oder auch Genuss an der Musik wurden größtenteils ignoriert."

    Mehrere Referenten stellten Biographien von jüdischen Familien in Thüringen vor, von Musikern und Mäzenen, die die Kultur über Jahrzehnte prägten – bis zum Holocaust. Der Präsident der Weimarer Musikhochschule, Christoph Stölzl betonte die Bedeutung solcher öffentlichen Forschung. Sie nicht zu betreiben, hieße, das Wegschauen unserer Vorfahren in die Gegenwart zu verlängern.

    "Nicht nur ein Teil Musikgeschichte, wo man vergessenen Barockkomponisten oder Renaissance-Komponisten wieder einen Platz einräumt – darum geht es nicht. Es geht tatsächlich um die Rekonstruktion von Humanität, soweit dies eben überhaupt nur möglich ist, im individuellen Suchen nach Schicksalswegen von Menschen, denen ihre Verfolger gerade dies eben abgesprochen haben, ihre Einzigartigkeit als Menschen und sie zu Nummern oder zu noch viel Schlimmerem degradieren wollten."
    Kritik von Liedermacher Wolfgang Herzberg
    In diesem Sinne ließ der Komponist und Liedermacher Wolfgang Herzberg ausführlich seine jüdische Tante, die Operettensängerin Florence Singewald, zu Wort kommen, die er in den 80er-Jahren interviewt hatte. Die Weimarer Tagung kritisierte er aber gleichzeitig heftig: Sie überbetone klischeehaft das religiöse Moment im deutschen Judentum des frühen 20. Jahrhunderts und ignoriere das Säkulare.
    "Ich habe den Eindruck, dass viele dieser Beiträge ein bißchen was von wissenschaftlicher Selbstbefriedigung haben. Sie sind entpolitisiert und haben meiner Ansicht nach nicht wirklich eine Wirkung in die jetzige Situation in Deutschland, wenn wir an die AfD denken oder an die rechten Bewegungen. Diese Art der Aufarbeitung von jüdischer Geschichte ist nicht zielführend, weil sie entpolitisiert ist."

    Herzbergs wohl auch in persönlicher Betroffenheit und Verbitterung wurzelnde Kritik galt vor allem dem heutigen Umgang mit dem Antifaschismus der DDR, der aus politischen Gründen delegitimiert würde. Der Tagung war sie kaum angemessen, da die sich erfolgreich darum bemühte, Verschüttetes ans Licht oder gar zum Klingen zu bringen.