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"Vergangenheitsbewältigung" auf deutsch

Kürzlich hat der Wirbel um die Trauerrede für den ehemaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs gezeigt, wie empfindlich die Reaktionen noch immer sein können, wenn es um die Schatten geht, die veritablen Größen der Bundesrepublik mitunter aus der NS-Zeit folgen. Um so erstaunlicher deshalb, dass Thomas Harlans Roman "Heldenfriedhof" dagegen keinerlei Wirbel ausgelöst hat, ja, bisher sogar fast völlig unbeachtet geblieben ist.

Von Uwe Pralle |
    Denn gegenüber dem, was darin über die Kontamination der Nachkriegszeit mit hochgradig belasteten Lebensläufen zu lesen ist, handelt es sich bei dem Fall, der Hans Filbinger 1978 zum Rücktritt zwang, geradezu um eine Lappalie.

    Harlans Roman "Heldenfriedhof" ist darauf angelegt, ein Panorama zu entwerfen, wie in den Nachkriegsjahrzehnten in der Bundesrepublik mit dem dunkelsten Kapitel der NS-Zeit, der Organisation und vor allem den Organisatoren der Vernichtungspolitik, umgegangen wurde. Dabei ist der Fokus auf die Lebensläufe einer Gruppe von zweiundneunzig Männern und Frauen gerichtet, die unbestritten zum Kern dieser Organisatoren gehörten, die Angehörigen der "Aktion Reinhardt". Zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 hat ihr in Lublin sitzender "Einsatzstab Reinhardt", nachdem er die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka errichtete, dort mehr als zwei Millionen Menschen aus dem sogenannten "Generalgouvernement" ermordet. Die meisten dieser Zweiundneunzig hatten bereits vorher am Euthanisieprogramm "T4" mitgewirkt. Sie waren Vernichtungsexperten, "Brenner", wie sie in Harlans Roman heißen.

    In "Heldenfriedhof" tragen sie alle ihre tatsächlichen Namen, und um nur einige zu nennen: von Odilo Globocnik, dem aus Triest stammenden Leiter der "Aktion Reinhardt" bis zu Hermann Höfle, dem Koordinator, und August Dietrich Allers, Geschäftsführer der Euthanasiezentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4, der schließlich auch das letzte Werk dieser Gruppe leitete, das im Herbst 1943 in Triest eingerichtete Konzentrationslager von San Sabba. Doch Harlan hat die Fakten zur "Aktion Reinhardt" in eine Fiktion eingebaut, um ihr biographisches und politisches Nachspiel in der bundesrepublikanischen Ära zu verfolgen. In dieser Fiktion kommt es am 26. Mai 1962 auf einem Friedhof in Triest zum Selbstmord von fünfzehn einstigen Angehörigen der "Aktion Reinhardt", und zwar an dem Tag, nachdem in einer Triestiner Zeitung mit dem Vorabdruck eines Romans von Enrico Cosulich begonnen wurde, des tragischen Helden dieses Romans.

    Dieser Enrico Cosulich, ein in Triest aufgewachsener Mediziner und Musiker, ist in "Heldenfriedhof" gleichzeitig der fiktive Chronist der "Aktion Reinhardt" und fiktiver Autor des Romans, dessen eigenes Entstehen so gespiegelt werden soll. Weil die Spuren seiner Mutter sich 1944 im Lager von San Sabba verloren haben, ist er jahrzehntelang auf der Suche nach ihr und hält dabei Stück für Stück die weiteren Lebensspuren der Angehörigen der "Aktion Reinhardt" fest: da sich Odilo Globocnik 1945 tötete, sind das die Viten etwa von Rudolf Fumy, 1952 bereits wieder Abteilungsleiter im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz oder von August Dietrich Allers, seit 1951 Syndikus der bundeseigenen Deutschen Werft AG in Hamburg, der dort auch eine Reihe seiner einstigen Gefolgsleute aus dem Vernichtungskommando unterbrachte.

    Es ist das beschämendste Kapitel der sogenannten Vergangenheitsbewältigung, das Harlan in diesem Roman zu fokussieren versucht hat, und das nicht etwa anhand von Mitläufern des NS-Regimes, sondern am innersten Zirkel derer, die den Holocaust durchführten. Und damit nicht genug. Seinen Romanhelden hat Harlan außerdem in zwei rechtspolitisch markante Ereignisse der bundesrepublikanischen Vergangenheitspolitik eintauchen lassen. Da ist einerseits die Gestalt Fritz Bauers, des hessischen Generalstaatsanwalts und Anklägers im Frankfurter Auschwitz-Prozess, der 1968 Selbstmord beging, und zwar nur wenige Wochen, nachdem der Bundestag mit dem auf den ersten Blick nur auf den Straßenverkehr bezogenen "Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeiten-Gesetz" einstimmig und ohne Debatte etwas verabschiedet hatte, was sich auf den zweiten Blick als eine "kalte Amnestie" erwies, wie es der damalige Botschafter Israels dann nannte.

    Harlan lässt Cosulich eine Reihe von Indizien aufspüren, wie beide Ereignisse miteinander zu tun gehabt haben können - und vor allem: Wer es gewesen ist, der dieses Gesetz, das an juristischem Zynismus schwer zu überbieten ist, eingefädelt hat. Und auch hier werden in dem Roman wieder die Namen genannt.

    So imposant nun dieser erste und einzige Versuch ist, das planmäßige Versagen der bundesdeutschen Justiz und Politik angesichts von Taten, denen schließlich die Täter abhanden kamen, in einem Roman darzustellen - es gehört auch ein dickes "Aber" hinter den Roman. Thomas Harlan, 1929 geboren, der Sohn Veit Harlans und nahe der inneren Macht-Zirkel des NS-Regimes aufgewachsen, hat seitdem als Theaterautor, Filmemacher und Schriftsteller versucht, die Schatten der NS-Zeit zu durchdringen.

    "Heldenfriedhof" ist zweifellos die Summe eines lebenslänglichen Konflikts. Allerdings macht der radikale Kunstanspruch von Harlans Prosa und Erzählweisen es zu einer ziemlichen Herausforderung, diesem Roman durch die Verstiegenheiten der literarischen Fiktionen zur Fülle seiner Fakten zu folgen. Trotzdem gehört er, weil er einen Komplex berührt, an den bis heute nur selten offen gerührt wird, nicht nur zu den überfälligsten, sondern auch bedeutendsten Romanen über den Umgang mit der Vergangenheit in der Bundesrepublik.

    Thomas Harlan, Heldenfriedhof. Roman. Eichborn Berlin, Frankfurt a. M.
    2006, 577 Seiten, Euro 24,90