Gedämpftes Licht, dunkle Anzüge, Musik in Moll. In Taipeh haben die diplomatischen Vertreter Deutschlands und Israels zum Internationalen Holocaust-Gedenktag geladen. Es spricht Taiwans Präsidentin. Tsai Ing-wen schlägt den Bogen zu ihrem Land:
"Deutschland hat sich entschuldigt und Entschädigungen gezahlt, Schulunterricht über den Holocaust in allen Altersgruppen eingeführt und Gesetze gegen Nazis erlassen. Als ein Land mit seiner eigenen Geschichte von Menschenrechtsverletzungen kann Taiwan viel lernen von Deutschlands Mut, sich seiner Geschichte zu stellen."
Taiwans historisches Trauma trägt eine Nummer: 2-2-8. Am 28. Februar 1947 begannen die Taiwaner einen Volksaufstand gegen die nationalchinesische Verwaltung. Sie begehrten auf gegen Misswirtschaft und Korruption. Die Nationalchinesen hatten die Insel erst eineinhalb Jahre zuvor von den im Zweiten Weltkrieg unterlegenen Japanern übernommen.
Chiang Kai-Shek hatte sich damals noch nicht nach Taiwan zurückgezogen, er kämpfte auf dem Festland im Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten. Als er von dem Aufstand der Taiwaner erfuhr, schickte er seine Truppen. Sie machten kurzen Prozess.
"Meine Eltern stammen beide aus der Stadt Keelung. Als Jugendliche haben sie die Toten auf der Straße liegen sehen. Viele Menschen in Keelung wurden ermordet oder sind verschwunden."
20.000 Menschen getötet
Wang Yu-juin gehört zu der Generation, die im Schatten des 228-Massakers aufwuchs. 20.000 Menschen, vielleicht auch mehr, töteten Chiang Kai-sheks Truppen innerhalb weniger Wochen. Anwälte, Akademiker, Studenten – gezielt löschten sie Taiwans gesellschaftliche Elite aus.
Nur zwei Jahre später, 1949, zogen sich die Nationalchinesen mit ihrem kompletten Staatsapparat auf die Insel zurück. Im Kalten Krieg galt Taiwan im Westen dann als freies China. Das 228-Massaker war ein Tabu.
"Meine Eltern haben nie zu uns Kindern darüber gesprochen. Wir wuchsen in einer Zeit voller Schweigen auf. Erinnerungen wurden unterdrückt."
Erst als Wang Yu-juin schon im Ausland Physik studierte, erfuhr sie durch Zufall, dass einige Jahre nach 228 auch ihr Vater verhaftet worden war. Zehn Jahre saß er im Gefängnis. Nie hatte er ihr davon erzählt. Taiwan war eine per Kriegsrecht regierte Einparteien-Diktatur, ein Polizeistaat.
Beginn der Vergangenheitsbewältigung
Heute sieht das ganz anders aus. Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre wandelte Taiwan sich zur asiatischen Vorzeigedemokratie. Freie Wahlen, Meinungsfreiheit - die Vergangenheit musste jetzt nicht mehr verdrängt werden. 1995 bat der Präsident erstmals im Namen der Regierung um Verzeihung für 228. 1997 wurde der 28. Februar ein nationaler Gedenktag. Doch irgendwo auf halbem Weg blieb die Aufarbeitung stecken. Viele Opfer wurden entschädigt, doch Täter weder benannt noch bestraft.
"Wir brauchen Zugriff auf die Dokumente, die noch in irgendwelchen Archiven liegen, als wären es Staatsgeheimnisse. Dahinter steckte doch ein System. Militär, Geheimpolizei und vielleicht Menschen, die ihre Freunde verraten haben. Das ist alles noch ungeklärt. Täter müssen sich öffentlich dafür verantworten, was sie getan haben. Erst dann ist es eine ehrliche Form der Vergangenheitsbewältigung."
"Vergangenheitsbewältigung" - ein deutsches Wort, das man in Taiwan häufiger hört. Wang, die lange in Deutschland lebte, hält Vorträge und zeigt deutsche Filme, in denen es um den Umgang mit der Geschichte geht, ob NS- oder DDR-Regime.
"Das gibt unseren Bürgern einen guten Eindruck. Sie sagen, was die Deutschen können, das können wir auch."
Taiwans Präsidentin verspricht nun "Transitional Justice", die rechtliche und gesellschaftliche Aufarbeitung der autoritären Vergangenheit.
"Ich möchte mehr Austausch zu diesem Thema mit Deutschland, damit Taiwan historisches Unrecht wieder gutmachen und auf Versöhnung und Einheit hinarbeiten kann."
Kommenden Dienstag redet Tsai Ing-wen bei der zentralen Gedenkveranstaltung "70 Jahre 228". Vermutlich wird sie dabei wieder auf Deutschland Bezug nehmen. Dass sie die Archive endlich öffnen will, hat sie schon angekündigt.