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Vergangenheitsbewältigung per Dekret

Frankreichs Nationalversamlung hat ein Gesetz beschlossen, das die Leugnung jeder Art von Genozid unter Strafe stellt. Kritiker sehen diese Art von Vergangenheitsbewältigung mit gemischten Gefühlen und vermuten hinter dem neuen Gesetz eine Maßnnahme für den französischen Wahlkampf.

Jürgen Ritte im Gespräch mit Karin Fischer |
    Karin Fischer: "1915 bis 2011, mir scheint, als Zeit des Nachdenkens ist das lang genug gewesen", befand der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Oktober und forderte die türkische Regierung auf, den Völkermord an den Armeniern 1915 nicht länger zu leugnen. Er ist damit in Frankreich nicht allein. Charles Aznavour, berühmter französischer Chansonnier armenischer Abstammung, handelt in vielen Liedern von Not, Vertreibung, Gewalt, denn: Damals flohen viele Armenier nach Frankreich, etwa nach Marseille. Der Beschluss der französischen Nationalversammlung heute, die die Leugnung des Völkermords – und zwar jeden Völkermords – unter Strafe stellt, hat deshalb auch einen längeren Vorlauf, das Gesetz wurde heute mit großer Mehrheit gebilligt. - Vor der Sendung habe ich meinen Kollegen Jürgen Ritte gefragt: Was genau sagt es und was genau meint es?

    Jürgen Ritte: Das Gesetz lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen. Es soll das Leugnen von Genoziden – das ist der Begriff, der auftaucht -, Genocide, jeder Art, darunter auch den an den Armeniern, unter Strafe stellen. Die Strafe beläuft sich auf ein Jahr Haft, oder 45.000 Euro für alle die, die den Genozid an den Armeniern leugnen. Das ist der ganze Inhalt des Gesetzes, über den heute Morgen in der Nationalversammlung lange debattiert wurde, und damit wird ein anderes Gesetz, das schon vor zehn Jahren verabschiedet worden ist, in dem Frankreich beziehungsweise die Nationalversammlung feierlich den Genozid an den Armeniern anerkannt hat, zu einem effektiven Gesetz.

    Fischer: Die Franzosen gehen nicht immer nur freundlich mit ihren Minderheiten um. Die Entschuldigung für den Algerien-Krieg ließ Jahrzehnte auf sich warten. Vor nicht allzu langer Zeit schlug dem Präsidenten eine Welle der Empörung entgegen, als es um die Expedierung Tausender von Roma aus Frankreich ging. Was ist nun der historische Hallraum, in dem diese Entscheidung heute stattfindet?

    Ritte: Kritiker des Gesetzes sehen das sehr bodenständig und sagen, das ist eine ganz besondere Wahlkampfmaßnahme - im nächsten Jahr, im Mai, haben wir Präsidentschaftswahlen in Frankreich -, eine Wahlkampfmaßnahme, die sich an die nicht unbedeutende Minderheit der Armenier in Frankreich richtet …

    Fischer: 500.000 Menschen armenischer Abstammung leben heute in Frankreich.

    Ritte: Das ist sehr viel im Vergleich zu den türkischstämmigen Franzosen. Da sind die Zahlen sehr schwankend, aber man geht aus von 250.000, 300.000. Also die einen sagen, es ist sozusagen ein Geschenk an die armenischstämmige Bevölkerung in Frankreich, die – Sie sagten es eben – mit Aznavour sehr prominente Fürsprecher hat. Das ist eine Minderheit, die sehr gut integriert ist und auch Fürsprecher auf politischer Ebene hat, so zum Beispiel den Schlussredner heute im Parlament, Philip de Villejean. Das ist einer der etwas größeren Kräfte in der konservativen Regierungspartei, ehemals auch Minister gewesen, Jurist, der so weit ging, heute in der Nationalversammlung zu behaupten, dass der Genozid an den Armeniern mehr historische Beweise und Dokumente aufweisen könne als der Holocaust, was etwas starker Tobak ist.

    Fischer: In der Tat. – Ich möchte noch mal auf die französische Erinnerungspolitik allgemein zu sprechen kommen. Finden Sie das kontingent, was da nun gerade stattfindet, mit dieser Entscheidung?

    Ritte: Es ist in gewisser Weise kontingent, denn die französische Politik versucht seit ungefähr zehn Jahren, qua Gesetz eine gewisse Erinnerungspolitik zu verankern. Man kann sozusagen schon von einem Erinnerungsrecht sprechen …

    Fischer: Auch in Bezug auf die anderen Minderheiten?

    Ritte: Auch in Bezug auf andere Minderheiten, wie überhaupt in Bezug auf die französische Vergangenheit. Das nennt man die "Loi Mémorielle", ich würde das mit Erinnerungsgesetze übersetzen. Es fing damit an, dass man zunächst unter Strafe stellte das Leugnen des Genozids allgemein und Äußerungen rassistischer, xenophober und so weiter Art. Es kamen andere Gesetze dazu, die unter Strafe stellten, die Sklaverei als harmloses Kapitel in der französischen Geschichte darzustellen, und es kam im Jahre 2005 ein dritter Schritt dazu. Da waren konservative Abgeordnete so weit gegangen und wollten, dass in französischen Schulbüchern die "global positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee" dargestellt wird, das heißt, die positive Rolle des französischen Kolonialismus. Da ging es einmal in die andere Richtung. Aber in Frankreich gibt es eben diese Tendenz seit über zehn Jahren, dass Politiker sich anheischig machen, über die Domäne der Historiker zu herrschen, was von den französischen Historikern mit sehr unguten Gefühlen kommentiert wird.

    Fischer: Dann wäre meine letzte Frage, Jürgen Ritte, jetzt die, ob es in Frankreich noch Hausaufgaben zu machen gibt in der Richtung Erinnerungspolitik, oder ob damit das Kapitel einen Abschluss gefunden hat?

    Ritte: Ich glaube, es hat keinen Abschluss gefunden. Die Debatte ist lebhaft, viele französische prominente intellektuelle Historiker haben sich wiederholt gegen die Einmischung des Politischen ins Historische ausgesprochen. Und diese Tendenz, sozusagen qua Dekret, qua Gesetz festzulegen, was Geschichte ist und wie Erinnerung auszusehen hat, das ist sehr bedenklich. Das kann der Hinweis darauf sein, dass Frankreich in der Tat ein Problem hat mit seiner Vergangenheitsbewältigung, wie wir in Deutschland sagen würden, mit dem Umgang ganz einfach mit seiner eigenen Vergangenheit.

    Fischer: Jürgen Ritte war das mit Einschätzungen über den Gesetzesbeschluss zur Leugnung des Genozids in Frankreich.