Was in den Medien fehlt
Die "Vergessenen Nachrichten“ des Jahres

Tag für Tag kommt Wichtiges in den Medien zu kurz. Die „Initiative Nachrichtenaufklärung“ und die Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion haben dazu wieder ihre Rangliste der „Vergessenen Nachrichten“ veröffentlicht. Diesmal mit dabei internationale Themen, bei denen auch unser Land Verantwortung trägt. Stark vertreten sind auch gesellschaftliche Fragen wie die wachsende Obdachlosigkeit in deutschen Städten.

    Zu sehen ist mit weißer Schrift auf blauem Hintergrund: "Die Nachrichten".
    Die Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion veröffentlicht gemeinsam mit der Initiative Nachrichtenaufklärung eine Liste der "Vergessenen Nachrichten". (Deutschlandfunk )
    Wenn Nachrichten "vergessen" werden, liegt das häufig an Großthemen, die andere Inhalte verdrängen. Es hat aber auch mit den Strukturen im Mediengeschäft zu tun: Berichterstattung wird häufig an Tagesaktualität, besondere Ereignissen oder Prominenz der Akteure geknüpft. Hier ziehen immer wieder Themen den Kürzeren, trotz aller Relevanz.

    Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V. veröffentlicht einmal im Jahr in Kooperation mit der Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks eine Liste mit zehn Themen und Geschichten, die im vergangenen Jahr keine oder kaum Erwähnung gefunden haben. Diese Liste wird von einer Jury aus Wissenschaft und Journalismus zusammengestellt. Sie ist nicht als abschließend gedacht. Die Themen stehen stellvertretend für viele andere vergessene Inhalte.

    Im Folgenden dokumentieren wir die Rangliste, die die Initiative Nachrichtenaufklärung am 27.3.2025 gemeinsam mit der Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion veröffentlicht hat.

    Thema Nummer eins: Kindersoldaten kämpfen mit deutschen Kleinwaffen


    Weltweit werden über 250.000 Kinder und Jugendliche in militärischen Konflikten und kriegerischen Handlungen eingesetzt, wobei Kleinwaffen eine zentrale Rolle spielen. Deutschland, als zweitgrößter Exporteur von Kleinwaffen, hat aus Sicht der Jury trotz internationaler Abkommen seine Rüstungspolitik nicht ausreichend angepasst. Exportgenehmigungen für Kleinwaffen erfolgen oft ohne strenge Kontrollen, so dass der Endverbleib der Waffen unklar bleibt. NATO-, EU- und gleichgestellte Staaten werden bei Exporten bevorzugt, was den Waffenfluss in Länder mit Kinderrechtsverletzungen erleichtert. Kontrolle und Durchsetzung der Exportregeln sind nach Einschätzung der Jury mangelhaft. Ein Umdenken in der Rüstungspolitik der deutschen Bundesregierung ist bislang nicht in Sicht. In deutschen Medien wird darüber praktisch nicht berichtet.

    Thema Nummer zwei: Flüchtlingslager auf Samos ist menschenunwürdig

    Nach dem medialen Aufschrei über der Zerstörung des Flüchtlingslagers Moria im Jahr 2020 wurde auf der griechischen Insel Samos ein neues "Closed Controlled Access Centre" (CCAC) errichtet, das angeblich die Lebensbedingungen der Geflüchteten verbessern sollte. Allerdings gibt es Kritik an weiterhin menschenunwürdigen Zuständen, mangelnder Versorgung und an der Perspektivlosigkeit der Flüchtlinge. Doch die mediale Aufmerksamkeit für die Missstände in den Lagern ist stark zurückgegangen – die drängenden Probleme sind aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Die Thematik ist auch für Deutschland relevant. Denn die Situation auf Samos spiegelt die europäische Flüchtlingspolitik wider - und die Integration von Geflüchteten, insbesondere als Arbeitskräfte zur Bekämpfung des Fachkräftemangels, spielt eine entscheidende Rolle in der politischen Debatte über Asylrecht und Arbeitsmarkt.

    Thema Nummer drei: Verbot von Menschenrechtsorganisationen in Äthiopien

    In Äthiopien verschärft die Regierung die Repression. Mehrere Menschenrechtsorganisationen wurden im November 2024 verboten. Die Jury findet, dass Deutschland als Mitglied des UN-Menschenrechtsrates durch seine Enthaltung bei wichtigen Abstimmungen internationale Kontrollmechanismen geschwächt hat, was die Straflosigkeit im Land begünstigt. Angesichts der geopolitischen Bedeutung Äthiopiens und der anstehenden Wahlen 2026 ist verstärkter internationaler Druck notwendig, um Menschenrechte zu schützen und langfristige Stabilität zu sichern. In den deutschen und internationalen Medien aber ist Äthiopien weitgehend kein Thema mehr nach dem Ende des großen Krieges, der mit dem Einmarsch der Zentralregierung in Tigray begann und zwischenzeitlich weite Teile Äthiopiens erfasste. Über die Verbote der Menschenrechtsorganisationen wurde praktisch nicht berichtet.

    Die weiteren Themen in Schlagzeilen:

    • Thema Nummer vier: Obdachlos trotz Job
    • Thema Nummer fünf: Disziplinierung von Beamten - Schnellere Entlassung durch Änderung des Beamtenrechts
    • Thema Nummer sechs: Bildungsgerechtigkeit für Heim- und Pflegekinder?
    • Thema Nummer sieben: Deutlich weniger Arbeitsunfälle
    • Thema Nummer acht: Morbus Mediterraneus –Wenn kulturelle Vorurteile die Diagnose beeinflussen
    • Thema Nummer neun: Betrug an Vertragsarbeitern aus Mosambik - Deutschland stiehlt sich aus der Verantwortung
    • Thema Nummer zehn: Die sogenannten Erdrosselungsgrenzen – Wenn steuerliche Belastungen die Existenz gefährden

    Erläuterungen zu diesen Themen finden Sie auf der Seite der Initiative Nachrichtenaufklärung.

    Einschätzungen zur Liste der „Vergessenen Nachrichten“ 2024:

    „Wir sehen aktuell eine echte Nachrichtenschwemme in den Sozialen Medien und gleichzeitig eine starke Themenverengung. Beispielhaft dafür ist der jüngste Wahlkampf, in dem es fast ausschließlich um Migration, Inflation und Verteidigung ging, weil davon zunächst die sozialen Medien geflutet wurden und der überwiegende Teil der Medien auf genau diesen Zug aufgesprungen ist“, sagt Prof. Dr. Hektor Haarkötter, INA-Vorsitzender und Professor für politische Kommunikation an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. „Wir möchten dafür werben, dieser Entwicklung entschlossen entgegenzutreten und den Blick wieder zu weiten.“
    Deutschlandfunk-Nachrichtenchef Marco Bertolaso sieht die Suche nach den "Vergessenen Nachrichten" als redaktionelle Herausforderung und Pflicht zugleich. "In den vergangenen Jahren haben Großthemen in enger Abfolge die mediale Aufmerksamkeit beherrscht und journalistische Ressourcen gebunden." Doch auch die Reichweitenlogik der Plattformen gebe vielen wichtigen Themen kaum noch Raum. Es sei wichtiger denn je, sich dem kraftvoll entgegenzustellen und ein vielfältiges informationelles Ökosystem zu bewahren.

    Zum Hintergrund:

    Die Themen hat auch in diesem Jahr wieder eine Jury aus Medienwissenschaftlern, Journalisten und Experten ausgewählt. Ausgangspunkt sind Vorschläge aus der Bevölkerung. Per E-Mail, Post oder Webformular können bei der Initiative Nachrichtenaufklärung auch jetzt bereits wieder vernachlässigte Nachrichten für das kommende Jahr vorgeschlagen werden. Studentinnen und Studenten an mehreren deutschen Hochschulen überprüfen dann, ob die Themen und Nachrichten zutreffend sind und ob sie tatsächlich von den Medien vernachlässigt wurden. Alle Themen, die diese Kriterien erfüllen, werden der Jury vorgelegt. Diese entscheidet dann, welche der Themen sie für besonders relevant hält.