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Vergessene Volksgruppe
Bundesrat gedenkt vor Weihnachten auch der Jenischen

Wie jedes Jahr vor Weihnachten gedenkt der Bundesrat der von den Nazis ermordeten Sinti und Roma. Auch einige Jenische werden am Freitag an der Feier teilnehmen - eine kaum bekannte Minderheit, die weder den Sinti noch den Roma zuzurechnen ist und doch zum "Fahrenden Volk" zählt.

Von Christiane Habermalz | 18.12.2015
    Der Bundesrat bei einer seiner Sitzungen.
    Die Jenischen dürfen in Berlin an der Gedenkstunde in der Länderkammer teilnehmen. (dpa / Bernd Settnik)
    Das Besondere an den Jenischen ist, dass eigentlich kaum jemand von ihnen je gehört hat – und doch haben alle sie schon einmal gesehen.
    "Also ein Jenischer ist eigentlich von dem reisenden Volk. Das war eigentlich das Wandervolk, wo man eigentlich zurückrechnen kann ins 14./15. Jahrhundert hinein. Das war das Volk, was eigentlich nie sesshaft war, wo immer rumgezogen ist und seine Dienste unterwegs angeboten hat."
    Alexander Flügler, genannt "Vadderle", ist Gebäudereiniger und mittelständischer Unternehmer. Doch aufgewachsen ist er in einer ehemaligen Zwangsarbeiter-Baracke, wo die Familie die Winter verbracht hat, im Sommer sind sie herumgezogen auf einem Pritschenauto mit Plane.
    Unter den Nazis als "Asoziale" ausgegrenzt und verfolgt
    Die Jenische sind traditionell Bürstenmacher und Kesselflicker, Gaukler, Schausteller und fliegende Händler gewesen. Zur NS-Zeit wurden sie als "Deutschblütige" zwar nicht systematisch ermordet, wie die Sinti und Roma, aber als "Asoziale" verfolgt, enteignet, interniert, und zwangssterilisiert. Ausgegrenzt, sagt Flügler, werden sie bis heute. Viele leben am unteren Ende der Gesellschaft, haben kaum Zugang zu Bildung erhalten.
    "Die sind schulerisch nicht so richtig reingekommen, weil es immer geheißen hat, das sind Jenische, da muss man vorsichtig sein. Sie wurden nach dem Krieg genauso nicht akzeptiert wie vor dem Krieg. Isch eigentlich ein vergessenes Volk. Ich sag einfach, wir sind in dieser Zeit, wo man einfach sagen: Das jenische Volk möchte sich irgendwo outen. Wir möchten uns irgendwo in die Geschichte hineinbringen, weil wir gehören zu Deutschland. Wir sind auch ein Stück von Deutschland!"
    Flügler selbst hat mit 14 angefangen, als Gebäudereiniger zu arbeiten, hat sich hochgearbeitet, jetzt hat er eine eigene Firma. Doch die meisten der 300.000 in Deutschland lebenden Jenischen haben es weiterhin schwer. Dabei seien sie doch in vielerlei Hinsicht kulturprägend gewesen, sagt Flügler – zum Beispiel beim Thema Mobilität.
    "Heute wenn Sie mal auf die Straße gucken, überall fahrt ein Campingwagen rum. Das waren die ersten Reisenden. Heute ist es so, kommen unsere Leute, wo noch im Handel sind, unterwegs, so 70 bis 80.000, kommen im Sommer auf den Campingplatz, aber als Fahrende darf man nicht rein. Und das mein ich, das ist doch nicht richtig!"
    Bis heute ist umstritten, ob die Jenischen tatsächlich eine eigene Volksgruppe sind. Für sie selbst ist das keine Frage. Es gibt eine gemeinsame Sprache, das Jenische, das sich aus dem Rotwelsch entwickelt hat, mit jiddischen und hebräischen Einflüssen. Sie klingt so:
    "Da kommt die Polizei!"
    Familienstammbäume reichen bis ins 14. Jahrhundert zurück
    Mit der jenischen Sprache verständigt man sich bis heute untereinander, und so gerne gibt man sie auch nicht preis. Etwas müssen wir ja auch für uns behalten, sagt Flügler. Ansonsten könnte Deutschland einiges von den Jenischen lernen, zum Beispiel Familiensinn.
    "Ich hab drei Kinder, und wenn ich sag, Leut, kommet, wir treffen uns heut abend alle zum Essen, sind alle da. Es wird keiner kommen und sagen, ich komm nicht. Und das ist halt irgendwo, was in Deutschland verloren gegangen ist. Haben wir Kinder, wenn die heute auf die Welt komme, sind sie drei Jahre, kommen sie in den Förderverein oder sonstwohin – das entfremdet sich doch alles! Unsere Kinder wurden von meiner Frau aufgezogen. Meine Tochter hat zwei Kinder, die sind von ihre aufgezogen und nicht von anderen, und ich denk einfach, wir haben nix anderes auf der Welt außer der Familie. Und ich denk, diese Geschichte, da sind wir a weng im Vorteil von euch."
    Die Familienstammbäume reichen vielfach bis ins 14. Jahrhundert zurück, erzählt stolz Gabriel Peter, der Ahnenforscher der Sippe. Im Schwarzwald wurde sogar ein Tal nach einem Jenischen benannt, das Pfausertal. Gabriel faltet ein riesiges Blatt auseinander.
    "Diese Ahnentafel, ist mein Arbeitsblatt momentan, wo wir jetzt schon ausgedruckt haben auf Leinen, mit Bildern natürlich, und das ist nur ein Drittel der Familie."
    Die Jenischen haben alle Spitznamen, sagt der Ahnenforscher.
    "Schauen Sie mal, hier in Klammern ist der Spitzname festgehalten. Die sich sonst nicht kennen würden. Liedale, Schorschi, Bua, Schatz, Kessler."
    "Was ham wa vergessen?"
    Erst seit ein paar Jahren gibt es einen Dachverband, den "Bundesrat der Jenischen" – lange wurde er als Vertretung nicht akzeptiert. Dass die Jenischen jetzt in Berlin an der Gedenkstunde in der Länderkammer teilnehmen dürfen, bedeutet Flügler viel.
    In Singen hat er vor Jahren einen Verein gegründet – doch erst seit der neue CDU-Bürgermeister Bernd Häusler den Jenischen seine Unterstützung zugesagt hat, geht es politisch voran. Nun soll in Singen ein Kulturzentrum gegründet werden, um als Volk für die Mehrheitsgesellschaft sichtbar zu werden, sagt Flügler und für die Jüngeren - damit die jenische Tradition und Kultur nicht verloren geht. Es wird Zeit, dass Deutschland sich seines Fahrenden Volkes erinnert, sagt Flügler, jetzt, wo Integration gerade in aller Munde ist.
    "Deutschland präsentiert sich auf der ganzen Welt mit dieser Geschichte. Ich finds toll, dass man Menschen helfen tut. Aber ich denk einfach irgendwo sollte man auch mal finden: Was ham wa vergessen?"