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Vergessenes Volk auf dem Dach der Welt

Nördlich des Potala-Palastes, in dem früher der Dalai Lama residiert hat, erleben Besucher der tibetischen Hauptstadt Lhasa Szenen wie aus einem historischen Film. Männer und Frauen mit Gebetsmühlen und langen, abgetragenen Ledermänteln pilgern entlang einer Asphaltstraße. Trotz der Breite lässt die Straße kaum Platz für die Pilger, die sich immer wieder niederwerfen. Der Autoverkehr beherrscht das Bild, mit Zäunen abgetrennte Fahrradwege schaffen Ordnung; an den Häuserzeilen dahinter die Symbole der globalisierten Welt: Toyota, Mitsubishi und VW. Wirtschaftsmacht China könnte man denken.

Von Klemens Ludwig | 04.05.2004
    Nur die Pilger passen nicht in das Bild. Wie Relikte einer vergangenen Zeit gehen sie ihren Weg, der sie zum Jokhang-Tempel im Zentrum von Lhasa führt. Auch dort ist nichts mehr wie es noch vor wenigen Jahren war. Alte tibetische Häuser werden abgerissen und durch Betonblöcke ersetzt. Was vordergründig wie eine Renovierungsmaßnahme aussieht, erregt jedoch den Zorn vieler Tibeter. So äußert ein Einheimischer:

    Die Regierung baut die Häuser für die chinesischen Zuwanderer. Ganze Straßenzüge sind bereits den Baggern zum Opfer gefallen. Dort stehen jetzt mehrstöckige Einkaufszentren und Wohnblocks, deren Mieten wir uns nicht leisten können.
    Etwa 400 von 600 historischen Gebäuden sind seit der Besetzung Tibets durch China abgerissen worden. Unter ihnen befindet sich der Tromsikhang-Palast, der vom 6. Dalai Lama vor 300 Jahren errichtet worden war. Obwohl seine Bausubstanz noch sehr gut war und er von der UNESCO als besonders schützenswert klassifiziert worden ist, kannten die Behörden kein Pardon.

    Auch die Umgebung unterhalb des Potala-Palastes ist nicht wiederzuerkennen. Auf seiner Südseite befand sich bis Anfang der neunziger Jahre das Dorf Shöl. Es war zur gleichen Zeit wie der Tromsikhang-Palast angelegt worden, um den Potala vor Eindringlingen zu schützen. Shöl erfreute ich aufgrund seiner günstigen Lage für den Handel großer Beliebtheit. Heute ist es nur noch Erinnerung. Vor zehn Jahren mussten die über 1.000 Einwohner einem Touristenpark weichen.

    Insgesamt machen die tibetischen Siedlungen nur noch zwei Prozent der Fläche von Lhasa aus; das dokumentiert eine von den Vereinten Nationen geförderte Studie.

    Ohnmächtig verfolgt der Dalai Lama vom indischen Exil aus, wie sich seine Heimat immer mehr in eine chinesische Provinz verwandelt.

    Die Zeit läuft uns davon, weil die chinesische Führung nicht nachlässt, Chinesen im tibetischen Kulturraum anzusiedeln und den Städten ein einheitliches Gesicht zu geben. Zwar gibt es noch Gebiete, in denen die Tibeter keine Minderheit sind, aber in vielen sind sie es schon geworden, und Tag für Tag geht die Entwicklung weiter. Ich habe den Eindruck, dass die Chinesen gezielt beabsichtigen, die Tibetfrage durch den Bevölkerungstransfer zu lösen. Das kann ihnen gelingen, wenn sie die Tibeter in ihrem eigenen Land zur Bedeutungslosigkeit verdammen.

    Die UNESCO schlug zu Beginn der neunziger Jahre vor, mehrere Gebäude Lhasas zum Weltkulturerbe zu erklären. Das bedeutet einen gewissen öffentlichen Schutz vor weiterer Zerstörung. Auf der Liste befanden sich der Potala-Palast und der Jokhang-Tempel. Peking stimmte allein dem Potala-Palast zu. Wäre auch der Jokhang-Tempel zum Weltkulturerbe erklärt worden, hätte dies die Häuser seiner Umgebung vor weiterem Abriss bewahrt. Das lag jedoch offenbar nicht im Interesse der Regierung. Gegen den auf einem Hügel außerhalb des Stadtkerns thronenden Potala-Palast hatte Peking keine Einwände. Im Dezember 1994 wurde der Potala-Palast offiziell in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen.

    Gleichzeitig investierte China viel Geld in eine grundlegende Renovierung. Zu der feierlichen Wiedereröffnung waren eigens hohe Funktionäre aus Peking sowie Vertreter der Tourismusindustrie aus Hong Kong angereist. Die Offiziellen betonten, bei der Renovierung sei viel Wert darauf gelegt worden, sich streng der religiösen Tradition anzupassen. Damit sollte dem Respekt vor dem tibetischen Erbe Ausdruck verliehen werden.

    Die Veränderungen unterhalb des Potala-Palastes konnte die UNESCO nicht verhindern. Auf seiner Südseite lockt der Touristenpark Devisenbringer an. Nicht weit entfernt: ein Rotlichtviertel mit Bars, Karaoke-Discos und Bordellen. Auf der einen Seite der Straße warten die chinesischen, auf der anderen die tibetischen Prostituierten auf Kunden. Die Möglichkeit, in jedem nur denkbaren Bereich Geld zu verdienen, zählt zu den großen Freiheiten im chinesischen Machtbereich seit Deng Xiaoping.

    Im Sinne des Dalai Lama ist diese Art der Freiheit ganz und gar nicht. Er hält dagegen:

    Solange es Tibeter gibt, wird es auch Widerstand gegen diese Entwicklung geben.

    Die grundlegende Umgestaltung beschränkt sich nicht auf die Hauptstadt Tibets. Shigatse, die zweitgrößte Stadt, ist streng zweigeteilt. Unterhalb des Klosters Tashi Lhunpo liegen tibetische Siedlungen, zumeist ärmliche Häuser entlang enger, staubiger Gassen. Die Bewohner sind wirtschaftlich an den Rand gedrängt; vom chinesischen Wirtschaftsboom bleiben ihnen nur Reste. Abgetrennt durch eine breite Straße beginnt der chinesische Teil der Stadt. Dort sind die meisten Geschäfte angesiedelt. Neue Häuser und Straßenzüge zeigen den Reichtum.

    Extrem sind die Veränderungen in Batang, einem ehemals rein tibetischen Ort im Tal des Yangtse. Luft und Klima sind dort angenehm, denn die Höhe beträgt nur 2.800 Meter. Batang wurde deshalb zu einer Hochburg der chinesischen Besiedlung. Noch vor fünfzehn Jahren bestimmten enge Gassen, weißgekachelte Häuser und ein großer Tempelbezirk das Bild. Dann kamen die Abrissbagger. Kein Straßenzug, kein Haus blieb verschont.

    Heute prägt ein großer Platz mit einem Heldendenkmal die Stadtmitte. Es zeigt einen überdimensionalen Adler, der im Sturzflug zur Landung auf seine Beute ansetzt – vielleicht unbewusst ein Symbol, wie China Tibet an sich gerissen hat? Um den Platz herum stehen chinesische Gebäude im pseudo-tibetischen Stil, darunter das Rathaus, ein Jugendzentrum, Billardhallen sowie Wohn- und Geschäftshäuser. Von der chinesischen Bevölkerung stammt kaum jemand aus Batang. Die meisten Chinesen sind im letzten Jahrzehnt aus Sichuan zugezogen, während die Tibeter in Siedlungen am Rande abgedrängt wurden.

    Doch nicht nur in den tibetischen Städten vollzieht sich ein rasanter Wandel. Auch andere Orte in China wurden in den letzten Jahrzehnten grundlegend umgestaltet, allen voran die Metropole Shanghai. Wirtschaftlicher Fortschritt und Moderne, die selten Rücksicht auf alte Traditionen nehmen, bestimmen das Denken und die Politik im Reich der Mitte.

    Allerdings verändert sich in Tibet nicht nur das äußere Erscheinungsbild der Städte, sondern auch deren Bewohner. Zwar ist es den Tibetern nicht grundsätzlich verboten, weiterhin im Zentrum von Lhasa oder Batang zu leben, doch sie können sich die hohen Mieten in der Regel nicht leisten. So ziehen dort Chinesen hin, die zumeist wirtschaftlich besser situiert sind.

    Es gibt aber auch Zeichen der Annäherung zwischen der chinesischen Führung und den Tibetern. Immerhin reden beide Seiten wieder miteinander. Zweimal in den vergangenen achtzehn Monaten wurden offizielle Gesandte des Dalai Lama auf mittlerer Ebene in China empfangen. Sie durften auch Tibet besuchen. Das hatte es seit über zwanzig Jahren nicht mehr gegeben und es könnte eine Kehrtwende der chinesischen Tibet-Politik signalisieren. Die Gesandten selbst gaben dem Optimismus Nahrung. Sie attestierten ihren chinesischen Gesprächspartnern, sie hätten "ein großes Interesse", "Offenheit für einen spontanen Gedankenaustausch" sowie eine "herzliche Atmosphäre" vorgefunden. Über das, was besprochen wurde, ist allerdings nichts nach außen gedrungen.

    Die Bewegung in Peking war möglich, weil der Dalai Lama bereit ist, auf die Unabhängigkeit Tibets zu verzichten. Dies wird von der chinesischen Führung seit langem als Vorbedingung für Verhandlungen gefordert. Die Umgebung des Dalai Lama verweist darauf, dass er diesen Standpunkt schon lange vertritt. Bereits 1988 hatte das tibetische Oberhaupt in einer vielbeachteten Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg erstmals auf die Unabhängigkeit verzichtet.

    Auf den Vorschlag von Straßburg gab es zunächst keine Resonanz von chinesischer Seite. Dabei basierte dieser Vorschlag doch auf dem, was Deng Xiaoping bereits in den siebziger Jahren verkündet hat. Er hat gesagt, wir könnten über alles diskutieren, außer über die Unabhängigkeit...

    ... so Chungdak Koren, langjährige Vertreterin des Dalai Lama in Genf.

    Auch wenn es fünfzehn Jahre gedauert hat; jetzt scheint das Eis gebrochen. Niemand kann indes absehen, welche konkreten Folgen die diplomatische Offensive haben wird.

    Für Peking steht außer Frage, dass Tibet schon immer ein Teil Chinas gewesen ist. Das ist nicht nur die Linie der Kommunistischen Partei. Auch die Nationalchinesen erheben Anspruch auf Tibet und der demokratischen Opposition im Exil schwebt ein föderalistisches China vor, in dem die Tibeter echte Autonomie erhalten.

    Tatsächlich gab es schon im 7. Jahrhundert enge Kontakte zwischen dem chinesischen und tibetischen Königshaus, und auch später hat Peking immer wieder versucht, Einfluß auf die Politik in Tibet nehmen. Ob es sich dabei um eine wirkliche Herrschaft über das Land oder nur um eine Repräsentanz gehandelt hat, ist heute eher eine akademische Frage. Auf jeden Fall trägt der Dalai Lama einem tief verwurzelten Empfinden der Chinesen Rechnung, wenn er nicht länger auf ein unabhängiges Tibet besteht. Und er ist Pragmatiker genug, um zu wissen, dass beide Völker miteinander auskommen müssen.

    Dieser Pragmatismus stimmt Chungdak Koren optimistisch. Und sie sieht auch für die chinesische Führung handfeste Vorteile, wenn es zu einer Lösung der Tibetfrage käme:
    Eine Lösung für Tibet dient nicht nur den Tibetern, sie dient auch den Chinesen, ja sie dient der Stabilität und dem Frieden der gesamten Region. China hat viele ethnische Probleme, in Xinjian, in der Inneren Mongolei und auch das Grenzproblem mit Indien. Wenn es eine friedliche Lösung mit China gibt, dann wird das auch den Grenzkonflikt zwischen China und Indien lösen. Warum hat Indien wohl Nukleartests unternommen? Nicht nur wegen Pakistan, sondern auch wegen China. Und China wäre obendrein in der internationalen Gemeinschaft mehr akzeptiert und einflussreicher. Deshalb muss dieses Problem gelöst werden.

    Es wird immer gesagt, Seine Heiligkeit sei das Problem. In Wirklichkeit ist er aber die Lösung. Wenn heute, zu seinen Lebenszeiten, das Problem nicht gelöst wird, dann wird es nach ihm nur noch schwieriger. Wir machen uns Sorgen darum, und die Chinesen sollten das auch. Nach Seiner Heiligkeit wird es mehr Gewalt geben, mehr terroristische Gruppen und ähnliche Probleme. Bisher hat er es geschafft, den Kampf in friedlichen Bahnen zu halten, aber ohne ihn wird er nicht mehr so friedfertig sein. Das wissen die Chinesen auch.


    Am meisten fürchten die Tibeter ein 2001 begonnenes Großprojekt: den Bau einer Eisenbahn von Golmud in der Provinz Qinghai über 1.118 Km durch das tibetische Hochland nach Lhasa. Wenn es Peking gelänge, das Projekt fertigzustellen, wäre dies ein Meilenstein bei der weiteren Erschließung und Integration Tibets als Teil der Volksrepublik China. Etwa 2,5 Milliarden Dollar soll der Bau der Eisenbahnstrecke nach dem jetzigen Stand kosten. Der ehemalige Staatspräsident Jiang Zemin hat unverblümt zugegeben, dass wirtschaftliche Gesichtspunkte dabei zweitrangig sind. Die Eisenbahn soll gebaut werden, auch wenn sie sich finanziell nicht rentiert.

    Vor 17 Jahren hatte Peking schon einmal versucht, eine Eisenbahntrasse in die tibetische Hauptstadt zu bauen. Das Projekt scheiterte an der Natur. Diesmal, so versichern die Verantwortlichen, seien sie technisch besser gerüstet. 2007 soll der erste Zug rollen. Das wäre ein enormer Prestigeerfolg gerade rechtzeitig vor den Olympischen Spielen.

    Die technischen Herausforderungen sind indes gewaltig. Der höchste zu überwindende Punkt liegt bei 5.072 Metern. Beton trocknet auf dieser Höhe langsamer, bricht aber schneller. Wenn die Oberfläche der Böden im Sommer auftaut, drohen die Gleise abzusacken. Auf der Autostraße durch das gleiche Gebiet sind Erosionsschäden eine häufige Erscheinung.

    Mit der Bahn verbinden die Chinesen die Hoffnung, acht Millionen Tonnen Güter im Jahr nach Tibet befördern zu können. 29 Bahnhöfe sind unterwegs vorgesehen, die zu Zentren der chinesischen Besiedlung in Tibet würden. Gleichzeitig liessen sich Rohstoffe wie Kohle, Gas, Uran und Öl leichter aus Tibet abtransportieren.

    Xizang lautet die offizielle chinesische Bezeichnung für Tibet. Das bedeutet "Schatzhaus des Westens". Neben der Eisenbahn ist der Bau neuer Flughäfen, Straßen, Pipelines und Kraftwerke vorgesehen.

    Inzwischen hat die Entwicklung auch den Westen Tibets erreicht, die Region um den Kailash, den heiligen Berg für Buddhisten, Hindus und andere asiatische Religionen. Um den Kailash herum soll eine Straße gebaut werden. Vordergründig gibt es dafür keine Notwendigkeit, denn der Kailash überragt eine unwegsame Einöde, in der weder Bodenschätze vermutet werden, noch eine nennenswerte Besiedlung anzutreffen ist. Dagegen besitzt der 6.741 Meter hohe Berg eine besondere Bedeutung für die Religion, aber auch die Ökologie.

    Zu seinen Füßen entspringen einige der wichtigsten Flüsse Asiens, darunter der Ganges, der Indus und der Brahmaputra. Südlich davon liegt der Manasarovar-See, dem ebenfalls eine besondere Bedeutung in der Mythologie zukommt.

    Seit Jahrtausenden wird der Kailash von Pilgern verschiedener Religionen zu Fuß umrundet, denn das bedeutet Verdienste für zukünftige Leben, eine Begegnung mit dem eigenen Selbst, und nicht zuletzt mit einer großartigen Landschaft.

    Einig sind sich alle Religionen darin, dass die chinesischen Straßenbaupläne für den Kailash und die damit verbundenen spirituellen Traditionen abträglich sind, geht es doch den Pilgern darum, den Berg zu Fuß und nicht mit dem Jeep zu umrunden.

    Möglicherweise hofft Peking, reiselustige Chinesen aus dem Tiefland, aber auch gutbetuchte Ausländer gegen entsprechende Devisen zu einem Besuch des Kailash motivieren zu können. In Ali, einer Stadt 250 km nordwestlich vom Kailash, soll ein Flughafen gebaut werden. Von dort aus könnte der heilige Berg in einer Tagesreise erreicht werden. Doch über diese Pläne kursieren unterschiedliche Informationen. Während sie vom chinesischen Außenministerium auf eine Anfrage der Deutschen Botschaft bestätigt wurden, heißt es aus der Region selbst, sie seien aufgegeben worden.

    Womöglich hat Indien diskret interveniert, denn die Straße würde auch die religiösen Gefühle von 800 Millionen Hindus verletzen. Sie betrachten den Kailash ebenfalls als Zentrum des Universums. Als vor zwei Jahren spanische Bergsteiger erstmals den noch jungfräulichen Gipfel erklimmen wollten, widerriefen die chinesischen Behörden die zuvor erteilte Erlaubnis aufgrund einer indischen Intervention.

    Zudem bemühen sich die Freunde Tibets in der Welt, die Kailash-Region zum Weltnaturerbe deklarieren zu lassen, was jedwede Erschließung verbieten würde. Die zuständige UNESCO hat ihr Interesse daran bekundet, jedoch gleichzeitig deutlich gemacht, dass China dem zustimmen müsste.

    Um den chinesischen Siedlern in Tibet eine langfristige Perspektive zu bieten, bemüht sich Peking um Entwicklungshilfe. Heute gibt es in Tibet knapp 500 Industriebetriebe. Sie überleben nur dank Subventionen aus China. Zu den größten unter ihnen zählt eine Lederfabrik in Lhasa, ein Projekt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.

    Mit einem Kredit der Weltbank wollte Peking Bewässerungssysteme für den Weizenanbau in Panam anlegen. Dieses Gebiet südwestlich der Hauptstadt ist eines der fruchtbarsten auf dem kargen Dach der Welt. Die Weltbank verweigerte am Ende jedoch das Geld, weil sie befürchtete, dass damit Voraussetzungen geschaffen würden, um weitere Chinesen in Tibet anzusiedeln. Auch viele Tibeter im Exil kritisieren die Entwicklungshilfe in ihrer Heimat, wie Tempa Tsering, ein langjähriger Minister der Exilregierung:

    Es gab schon Projekte ohne irgendeinen Nutzen für die Tibeter. Sie haben nur die Umsiedlung der Chinesen nach Tibet begünstigt. Institutionen und Regierungen, die derartige Projekte finanzieren, fördern nur die chinesische Politik, Tibet mit Chinesen zu bevölkern und damit endgültig alles zu zerstören, was Tibet ausmacht: die tibetische Kultur, die tibetische Bevölkerung und die tibetische Identität.

    Aber auch in der Frage der Entwicklungshilfe stehen sich die Fronten nicht mehr unversöhnlich gegenüber. Es gibt kleine, selbstverwaltete Projekte vor allem auf dem Land. Dabei handelt es sich um Schulen, Waisenhäuser oder Krankenstationen. Sie werden häufig von Tibetern aus dem Exil initiiert, benötigen jedoch die Zustimmung der chinesischen Behörden. Das zeigt, dass es auf lokaler Ebene durchaus zur einer Verständigung zwischen den Chinesen und traditionellen Tibetern kommen kann. Der Dalai Lama begrüßt derartige Initiativen ausdrücklich:

    Im Bereich der Erziehung, im Bereich des Gesundheitswesens ist jedes Hilfsprogramm in Tibet hochwillkommen. Die Hilfe sollte direkt in tibetische Hände gelangen und wenn möglich auf dem Land geleistet werden, wo der Bedarf am größten ist. Dort, wo es keine chinesischen Siedler gibt, gibt es auch keine Elektrizität, keine Schulen, keine Krankenhäuser, höchstens eine chinesische Polizeistation. In solchen Gebieten sind selbst kleine Schulen mit erster und zweiter Klasse sehr, sehr hilfreich.