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Litauens Verhältnis zu Russland
Die Sorge vor weiterer Eskalation ist groß

Durch den russischen Angriff auf die Ukraine sieht Litauen einen Wendepunkt für die europäische und internationale Politik erreicht: Endgültig auf Abstand zu gehen von Russland. Litauen verfolgt dieses Ziel schon seit Jahren. Ein kritischer Blick geht nach Deutschland.

Von Katharina Peetz und David Ehl |
Litauens Präsident Gitanas Nauseda bei einem Truppenbesuch im Mai
Die Sorge vor Russland ist groß: Der litauische Präsident Gitanas Nauseda fordert schon länger eine Aufstockung der NATO-Truppen im Land. (Deutschlandradio/David Ehl)
Das Wasser des Nemunas glitzert in der Sonne. Der Fluss, der auf Deutsch Memel heißt, trennt Litauen von der russischen Exklave Kaliningrad. Am anderen Ufer weht eine riesige russische Fahne vor den Häusern von Sowetsk, der zweitgrößten Stadt des Gebiets. Die Königin-Luise-Brücke ist in Sichtweite – selbst die wichtigste Straßenverbindung zwischen Litauen und Kaliningrad wird kaum noch befahren. Eineinhalb Kilometer weiter flussabwärts überspannt eine Stahlkonstruktion den Nemunas – die Eisenbahnbrücke, über die russische Züge ihren Transit durch das EU- und NATO-Mitgliedsland Litauen antreten.

Bahntransit nach Kaliningrad eingeschränkt

Der Bahntransit steht seit vergangener Woche im Fokus der Weltöffentlichkeit, weil Litauen die vereinbarten EU-Sanktionen in Kraft gesetzt hat: Bestimmte russische Waren wie Stahl und Baumaterialien dürfen nicht mehr über litauische Bahngleise nach Kaliningrad transportiert werden. Moskau bezeichnete das als Blockade und drohte Vilnius mit ernsten Konsequenzen.
Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis erklärte die Vorgehensweise beim EU-Außenministertreffen in Luxemburg Anfang vergangener Woche (20. Juni): „Erst einmal hat Litauen gar nichts gemacht. Es sind EU-Sanktionen, die am 17. Juni in Kraft getreten sind. Die litauische Eisenbahn ist dazu verpflichtet, diese Sanktionen umzusetzen, also informierten sie ihre Kunden darüber, dass ab dem 17. Juni sanktionierte Güter wie Stahl und Eisenprodukte nicht länger durch Litauen hindurch transportiert werden dürfen. Das geschieht im Einvernehmen mit der EU-Kommission und unter deren Richtlinien.“
Güterbahnhof in der russischen Exklave Kaliningrad. Der Zugverkehr für kriegsrelevante Waren ist nach der Umsetzung von EU-Regeln nicht mehr erlaubt.
Güterbahnhof in der russischen Exklave Kaliningrad. Der Zugverkehr für kriegsrelevante Waren ist nach der Umsetzung von EU-Regeln nicht mehr erlaubt. (imago / Mikhail Golenkov)

Russland hat Reaktionen angekündigt

Der Kreml verwies derweil auf das Partnerschaftsabkommen von 1994 zwischen EU und Russland, das einen freien Warentransport vorsehe. Die Transitbeschränkungen würden „den grundlegenden Dokumenten“ der Partnerschaft widersprechen. Der Chef der russischen Raumfahrtagentur stellte im Staatsfernsehen sogar die Rechtmäßigkeit der litauischen Grenze in Frage – der ungehinderte Transit sei Bedingung dafür, dass Russland diese anerkenne.
Moskau hat zudem dezidiert Reaktionen angekündigt, die der litauischen Bevölkerung schaden sollten. Und zwar nicht nur diplomatische, sondern auch ganz "praktische", stellte eine Sprecherin des russischen Außenministeriums klar.
Die Politikwissenschaftlerin Dovilė Jakniūnaitė von der Universität Vilnius sagt, die Anspannung in der Bevölkerung sei spürbar: „Ich glaube nicht, dass militärische Handlungen ein gangbarer und plausibler Weg für Russland sind, das ergibt zu diesem Zeitpunkt und im Kontext mit Kaliningrad keinen Sinn. Doch wir sollten uns auf wirtschaftliche und diplomatische Schritte einstellen. Die werden sicher kommen. Das Gute in dieser Situation ist, dass Litauen schon jetzt keine starken diplomatischen Beziehungen mit Russland mehr hat. Sie existieren nur noch auf Ebene eines Geschäftsträgers – also zwei Stufen unterhalb eines Botschafters.“
Diplomatisch bleibt Russland also wenig Spielraum für Strafmaßnahmen. Und auch mit Energielieferungen nicht: Während in Westeuropa die gedrosselte russische Gasversorgung den Regierungen derzeit große Sorgen bereitet, haben die baltischen Staaten sich von dieser Abhängigkeit bereits gelöst: Nach jahrelanger Vorarbeit konnten sie den Import russischen Gas und Öls im Frühjahr komplett auf Null absenken, auch Strom wird keiner mehr zugekauft.
Trotzdem ist die Elektrizität die einzige verbliebene Schwachstelle, weil die baltischen Staaten noch dem sogenannten BRELL-Ring angehören, einem gemeinsam synchronisierten Stromnetz mit Belarus und dem westlichen Russland. An der Eingliederung in den europäischen Verbund wird seit Jahren gearbeitet, die meisten dafür erforderlichen Trassen stehen bereits. 2024 soll der Wechsel vollzogen werden.
Das Stromnetz gilt als einzig verbliebene Energie-Schwachstelle gegenüber Russland
Das Stromnetz gilt als einzig verbliebene Energie-Schwachstelle gegenüber Russland (Deutschlandradio/David Ehl)
Doch im Notfall könnte das, zu höheren Betriebskosten, auch schon heute passieren, sagt Rokas Masiulis, Geschäftsführer des staatlichen Stromnetz-Betreibers LitGrid und früherer Energieminister, dem Deutschlandfunk Mitte Mai: „Wenn Russland uns jetzt den Stecker zieht, synchronisieren wir das Stromnetz einfach mit Europa. Aber der Betrieb wird etwas teurer. Jetzt geht es letztendlich also nur noch darum, dass es wirtschaftlich und damit bequemer für uns wird.“ Auch Präsident Gitanas Nauseda erklärte in der vergangenen Woche, Litauen sei auf einen Ausschluss aus dem BRELL-Stromnetz als Vergeltungsmaßnahme vorbereitet.

Cyberangriffe aus Russland

An diesem Montag (27. Juni) meldeten mehrere staatliche litauische Stellen Cyberangriffe auf ihre digitale Infrastruktur, unter anderem waren die Webseiten der Steuerbehörde und des Außenministeriums zeitweise nicht erreichbar. Die kremlnahe russische Hackergruppe Killnet bekannte sich in einem Video zu der Attacke und forderte die litauische Regierung auf, die Einschränkungen für den Warenverkehr nach Kaliningrad binnen zwei Tagen zurückzunehmen.
Litauen gehört in der EU seit Längerem zu den Ländern, die regelmäßig einen schärferen Kurs gegen Russland einfordern. Lange haben einflussreiche Länder wie Deutschland, Frankreich oder Italien diesen nicht mitgetragen. Doch seit Kriegsbeginn gibt es ein regelrechtes Momentum für Mahner: In Litauen gibt es einerseits eine gewisse Genugtuung darüber, dass die EU nun auf einen härteren Russlandkurs folgt. Andererseits ist die Sorge vor weiterer Eskalation groß, weil das Land dem großen Nachbarn in besonderer Weise ausgeliefert ist.

Partisanenkrieg gegen die Sowjetunion

Im Zweiten Weltkrieg besetzte die Rote Armee - nachdem sie 1940 die drei Länder schon einmal im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes annektiert hatte - 1944 das Baltikum erneut. Nach Kriegsende wurden die vormals eigenständigen Gebiete kurzerhand in die Sowjetunion eingegliedert (*). Dagegen leisteten Partisanen nach 1945 jahrelang bewaffneten Widerstand. Viele der Freiheitskämpfer wurden ermordet oder nach Sibirien verschleppt.
Für Litauen ging der Krieg nahtlos über in die Repressionen durch Moskau, sagt die Historikerin Violeta Davoliūtė von der Universität Vilnius: „Die Sowjetherrschaft zeichnete sich von Beginn an durch Unterdrückung aus. 1941 gab es Massendeportationen und dann Repressionen nach dem Zweiten Weltkrieg. Und viele andere Leiden. Ich denke, deshalb gibt es in Litauen keine oder kaum Wehmut nach der Sowjetzeit.“

Russland stellt die litauische Unabhängigkeit wieder in Frage

Ende der 1980er-Jahre keimte – wie in weiten Teilen des damaligen Ostblocks – in den drei baltischen Staaten eine übergreifende Freiheitsbewegung auf, die "Singende Revolution". In Litauen beschloss ein demokratisch gewähltes Parlament am 11. März 1990 die Wiederherstellung seiner staatlichen Unabhängigkeit – als erste Sowjetrepublik überhaupt. Aktuell wird in Russland die litauische Unabhängigkeit wieder in Frage gestellt: Im Herbst soll über die Resolution eines Duma-Abgeordneten abgestimmt werden. Darin wird vorgeschlagen, die Unabhängigkeit Litauens im Nachhinein wieder aufzuheben.
Anfang der 1990er-Jahre antwortete Moskau auf die Unabhängigkeitserklärung mit einer Energieblockade und schickte schließlich im Januar 1991 Panzer nach Vilnius, bevor die Sowjetunion endgültig zerfiel. Diese Ereignisse wirken in Litauen bis heute nach, erklärt Historikerin Davoliūtė: „Russland wird als bedrohlicher Fremder wahrgenommen. Vor dem aktuellen Regime haben die Leute wirklich Angst! Die Unsicherheit ist spürbar, besonders jetzt, seit der russischen Aggressionen in der Ukraine und der Rhetorik, die dabei mitschwingt und die Teil der militärischen Anstrengungen ist.“

Litauer sorgen sich um Wohlergehen

Eine Ende März durchgeführte Umfrage ergab, dass 96 Prozent der Befragten in Litauen sich Sorgen um ihr eigenes Wohlergehen machen. Zu dieser Gefühlslage hat auch die russische Interventionspolitik der vergangenen 20 Jahre unter Putin beigetragen. Als Russland 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektierte und den Krieg in der Ostukraine anzettelte, war im gesamten Baltikum die Sorge groß, dass dort Ähnliches drohen könnte.
„2014 löste das Thema Sicherheit hier eine tiefe Besorgnis aus. Damit verbunden ist die Idee des bewaffneten zivilen Widerstands, der auf dem Widerstand gegen die Sowjets nach dem Zweiten Weltkrieg aufbaut. Das Narrativ und die Erfahrungen des Widerstands gegen Russland rückten in den Fokus. Das führte zu einer Stärkung der paramilitärischen Bewegungen – also in Litauen der Schützenunion.“
Die Schützenunion ist ein Verein, der mit Spenden und Mitteln des Verteidigungsministeriums finanziert wird. Die Mitglieder werden auf vielfältige Weise im Katastrophenschutz eingesetzt – aber eben auch an der Waffe trainiert, um im Verteidigungsfall der Armee helfen zu können. Zu Jahresbeginn gab es 10.400 Mitglieder, erklärt ein Sprecher auf Deutschlandfunk-Anfrage – seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine habe es mehr als 4.000 neue Bewerbungen gegeben.
Zu den prominenten Neuzugängen bei der Schützenunion gehört die litauische Parlamentspräsidentin Viktorija Čmilytė-Nielsen. Die liberale Politikerin trat dem paramilitärischen Verein am 11. März dieses Jahres bei - dem Jahrestag, an dem Litauen die Unabhängigkeit von Moskau wiederlangte.
Parlamentspräsidentin Viktorija Cmilyte-Nielsen
Parlamentspräsidentin Viktorija Cmilyte-Nielsen (picture alliance / Photoshot/ Yuliia Ovsiannikova )
„Es war eine symbolische Geste, aber auch etwas, das sich anfühlte, als ob ich es tun musste. Jeden hier in Litauen berührt der Krieg in der Ukraine. Und wir müssen sicherstellen, dass jede Person in dem ihr möglichen Maße auf eine schlimmere Lage vorbereitet ist.“

Nachfrage nach Waffen und militärischer Ausrüstung ist hoch

Viele Litauerinnen und Litauer rüsten privat regelrecht auf: Die Nachfrage nach Waffen und anderer militärischer Ausrüstung wie Nachtsichtgeräten war zwischenzeitlich sehr hoch. Zugleich ist auch die Solidarität der litauischen Bevölkerung mit der Ukraine hoch - und äußert sich in teils unkonventionellen Formen der Unterstützung: Für eine Kampfdrohne für die Ukraine wurden in einer litauischen TV-Sendung per Crowdfunding fünf Millionen Euro eingesammelt.
Auch die litauische Armee wird zunehmend ertüchtigt. Der Militäretat wurde auf rund 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angehoben, im nächsten Jahr könnten es drei Prozent sein. Das Geld fließt in modernere Ausrüstung, besonders aber auch in die Unterbringung der NATO-Truppen. Als Reaktion auf die Annexion der Krim wurde die Wehrpflicht teilweise wieder eingeführt.
In Litauen habe man kaum Illusionen in Bezug auf Russland und zu was es fähig sei, so Parlamentspräsidentin Čmilytė-Nielsen. „Ich denke es ist offensichtlich, dass Russland nicht nur Gebiete in der Ukraine gewinnen oder besetzen will. Russland strebt nach Größerem. Dazu gehört die Schwächung der NATO, ihren Zusammenhalt und den der EU zu zerbrechen.“
Genau auf diesen Zusammenhalt von EU und vor allem NATO baut Litauen. Im Falle eines russischen Angriffs im Baltikum würde nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags der sogenannte Bündnisfall eintreten - ein Angriff auf ein NATO-Mitglied gilt als Angriff auf die gesamte NATO. Schon jetzt verlaufe eine "kalte Front" an den Außengrenzen des Bündnisgebiets im Osten, sagt Čmilytė-Nielsen dem Deutschlandfunk Anfang Mai: „Wir müssen einerseits die Ukraine unterstützen und andererseits gleichzeitig unsere Verteidigung an der Ostflanke deutlich stärken, damit aus dieser kalten Front keine heiße Front wird.“

Rund 1.600 NATO-Soldatinnen und Soldaten in Litauen stationiert

Diese Ostflanke sichern seit fünf Jahren die Battlegroups der so genannten Enhanced Forward Presence. In Litauen stehen die NATO-Truppen unter der Leitung der Bundeswehr. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden die Truppen im Februar aufgestockt. Inzwischen sind rund 1.600 Soldatinnen und Soldaten in Litauen stationiert.
Unterwegs auf dem Truppenübungsplatz in Pabrade im Osten von Litauen. Der in dunklem Flecktarn lackierte Gelände-Wagen der Bundeswehr ruckelt über die unebene sandige Fläche. Am Rand des Kiefernwalds warten schon mehrere Lkw in Tarnfarben und die strahlend weiße Drohne Luna. Das Fluggerät mit einer Spannweite von gut vier Metern wird neben Bodentruppen bei der Aufklärung der Umgebung eingesetzt. Die Kamerabilder der Drohne werden direkt an die sogenannte Bodenkontrollstation übertragen.
„Heute waren eigentlich zwei Flüge geplant. Aber wir müssen gucken wegen dem Wetter, weil wir sind sehr windabhängig mit unserem Fluggerät. Und da müssen wir die zweite Wettermeldung abwarten, ob wir den zweiten Start durchführen können.“
Oberfeldwebel Sascha - Nachnamen werden bei Soldaten im Einsatz nicht genannt - ist bei der Übung für Start und Landung der Luna verantwortlich. Die Aufklärungsdrohne ist bereits in Position gebracht und wartet darauf, abzuheben. „Wir haben jetzt ein GPS-Problem. Der Vorführeffekt.“
Die Aufklärungsdrohne Luna kurz vor dem Start
Die Aufklärungsdrohne Luna kurz vor dem Start (Deutschlandradio/David Ehl)
Major Andreas, Chef der Aufklärungskompanie, ist sichtlich unzufrieden über die Startschwierigkeiten der Luna. Schließlich wird hier in Pabrade für den Ernstfall trainiert. In so einem müsste der Kommandeur der Battlegroup in Litauen, Oberstleutnant Daniel Andrä, wissen, was ihn erwarte. „Es ist unbefriedigend, als militärischer Führer nicht zu wissen, was auf einen zukommt. Gerade wenn ich mir vorstelle, Oberstleutnant Andrä würde jetzt wirklich die russischen Verbände erwarten. Und er weiß es erst, wenn er im Feuerkampf steht, dann ist das natürlich sehr unbefriedigend. Aber deswegen sind wir relativ redundant aufgestellt. Normalerweise hätten die die Drohne einfach runtergeworfen, die nächste draufgesetzt. Und dann wäre es gleich deutlich schneller vonstatten gegangen. Aber wie anfangs schon mal gesagt Friedensregeln hier. Hier geht die Flugsicherheit vor, und entsprechend machen wir das alles per Checkliste und so wie es in Deutschland auch wäre.“

Vorsicht auch vor Belarus

Üben in Zeiten eines brüchigen Friedens heißt auch: Russland nicht mit einem unbeabsichtigten Zwischenfall zu brüskieren. Im Südosten von Litauen liegt Russlands Vasallenstaat Belarus, den Moskau nun mit atomwaffenfähigen Iskander-Raketen ausstatten will - vom Truppenübungsplatz in Pabrade ist die Grenze nur rund zehn Kilometer entfernt.
„Wir halten natürlich eine gewisse Distanz ein zur Grenze. Also wir werden jetzt nicht bis auf 100 Meter an die Grenze rangehen. Also haben wir uns so ja zehn Kilometer Abstand eingeräumt, dass wir gesagt haben, wir werden nicht näher in die Richtung fahren. Auch die Luna wird nicht in diesen Bereich reinfliegen, um auch einfach gar keinen Grund zu geben, der Gegenseite zu sagen, hey, sie waren in meinem Luftraum oder dergleichen.“

Regelmäßig Zwischenfälle mit Russland

Inzwischen ist die Flugdrohne Luna ein zweites Mal startklar. Etwa zwei Stunden bleibt die Drohne in der Luft und kundschaftet die Umgebung aus. Abseits solcher Übungen ist die NATO für die Überwachung des Luftraums über den drei baltischen Staaten zuständig. Regelmäßig kommt es zu Zwischenfällen mit Russland. Vor gut einer Woche etwa drang ein russischer Hubschrauber unerlaubt in den estnischen Luftraum ein. Estland bestellte daraufhin den russischen Botschafter ein.

Mit Blick auf den NATO-Gipfel in dieser Woche (28.-30. Juni) erklärte der litauische Präsident Gitanas Nauseda bei einem Truppenbesuch Mitte Mai: "Wir müssen von der reinen Luftraumüberwachung zur Luftraumverteidigung kommen. Alle Entscheidungen sollten dahingehend getroffen werden, denn die Kontrolle des Luftraums ist entscheidend - das sehen wir in der Ukraine.“
Bundeskanzler Olaf Scholz zu Besuch beim litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda. Die beiden schreiten Seite an Seite durch den Präsidentenpalast in Vilnius.
Bundeskanzler Olaf Scholz zu Besuch beim litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda im Präsidentenpalast in Vilnius. (picture alliance/dpa/Michael Kappeler)

Litauen fordert Aufstockung der NATO-Truppen

Neben dem Luftraum steht bei den strategischen Überlegungen vor allem der so genannte Suwalki-Korridor im Fokus. Das polnisch-litauische Grenzgebiet ist nur 65 Kilometer breit. Westlich liegt die russische Exklave Kaliningrad, östlich Belarus. Würden Russland und Belarus diese dünn besiedelte Region besetzen, wäre das Baltikum vom restlichen NATO-Gebiet abgeschnitten und könnte nur schwer mit Nachschub in Form von Ausrüstung oder Truppen versorgt werden. Damit das nicht passiert, fordert Litauen bereits seit Längerem eine Aufstockung der NATO-Truppen im Land. Eine solche hat Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Litauen vor knapp drei Wochen (7. Juni) in Aussicht gestellt. „Wir sind bereit unser Engagement zu verstärken und es in Richtung einer robusten Kampfbrigade zu entwickeln.“
Litauen, Pabrade: Bundeskanzler Olaf Scholz spricht neben Daniel Andrä, Bundeswehr-Kommandeur der NATO Enhanced Forward Presence Battle Group (eFP-Bataillon, l) und Gitanas Nauseda, Präsident von Litauen (3.v.l), im Camp Adrian Rohn, in dem mehr als 1.000 Bundeswehr-Soldaten stationiert sind, mit Soldaten.
Litauen, Pabrade: Bundeskanzler Olaf Scholz spricht neben Daniel Andrä, Bundeswehr-Kommandeur der NATO Enhanced Forward Presence Battle Group (eFP-Bataillon, l) und Gitanas Nauseda, Präsident von Litauen (3.v.l), im Camp Adrian Rohn, in dem mehr als 1.000 Bundeswehr-Soldaten stationiert sind, mit Soldaten. (Michael Kappeler/dpa)
Eine Brigade besteht in der Regel aus 3.000 bis 5.000 Soldaten. Weitere Details werden voraussichtlich beim NATO-Gipfel bekannt. Es zeichnet sich bereits ab, dass die zusätzlichen Truppen zunächst nicht komplett nach Litauen entsandt werden sollen. Stattdessen soll ein großer Teil auf Abruf in den Truppenstellerstaaten wie Deutschland bereitstehen.
Das enttäusche möglicherweise manche in der litauischen Bevölkerung, sagt die Politikwissenschaftlerin Dovilė Jakniūnaitė. Zum jetzigen Zeitpunkt sei das aber nicht anders machbar: „Litauen ist auf die Unterbringung einer so großen Menge an Soldaten und der nötigen Infrastruktur nicht vorbereitet. Die wird nach und nach ausgebaut. Von offizieller Seite heißt es, optimistisch geschätzt dauert es fünf Jahre bis wir eine Brigade in Litauen stationieren könnten.“

Kritischer Blick auf Deutschland

Das Entscheidende sei aber ohnehin das Bekenntnis zur Unterstützung, glaubt die Politologin. Gerade mit Blick auf Deutschland fürchteten einige, dass die Abgrenzung von Russland nicht von Dauer sein könnte.
„Es gibt dieses Empfinden, dass wir das Momentum nicht verpassen dürfen. Besonders falls der Krieg endet. Es wird teilweise befürchtet, dass dann die europäischen Eliten wie Deutschland - die Deutschen werden hier kritisch gesehen - zur Tagesordnung zurückkehren werden.“
Auch für Parlamentspräsidentin Viktorija Čmilytė-Nielsen ist eine Rückkehr zum Status Quo undenkbar. Die EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist für sie deshalb wesentlich: „Es gibt, denke ich, keinen Zweifel daran, dass eine europäische Nachkriegsukraine der größtmögliche Sieg für die Ukraine wäre.“
Diesem Ziel ist die Ukraine am Donnerstag einen Schritt nähergekommen, als die EU-Mitgliedsstaaten sie auf ihrem Gipfeltreffen offiziell zum Beitrittskandidaten gekürt haben. Auch wenn sich die Verhandlungen noch Jahre hinziehen werden: Diese Entwicklung ist auch ein Erfolg für Länder wie Litauen, die den EU-Beitritt der Ukraine von Anfang an befürworteten. Und die vor Russland als Aggressor schon lange gewarnt haben.
(*) Anmerkung der Redaktion: Durch unsere auf den Hitler-Stalin-Pakt bezogene verkürzte Formulierung ist ein unvollständiges Bild entstanden.