Ein Arbeitsbesuch des russischen Präsidenten sei dies, hieß es aus dem Élysée - um den Kontakt zu pflegen, um in Ruhe und weitgehend abgeschottet von der Öffentlichkeit die anstehenden Probleme besprechen zu können. Gerade vor dem Hintergrund des bevorstehenden G7-Gipfels sei es wichtig, diese Initiative Russland gegenüber zu ergreifen, ließ Macrons Beraterkreis verlauten – man sei "nicht naiv", man befürworte die EU-Sanktionen gegenüber Russland, gleichwohl müsse man aber die Tür Russland gegenüber offenhalten: Russland sei "ein Nachbar" - und ein überaus wichtiger.
Regelmäßige Kontakte und klare Worte
Das war schon immer die Haltung Emmanuel Macrons. Von Beginn seiner Präsidentschaft an pflegte er regelmäßige Kontakte zu Wladimir Putin und hielt sich dabei mit klaren Worten nie zurück – wie etwa bei Putins Besuch im Schloss von Versailles im Mai 2017. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz sagte Emmanuel Macron:
"Ich habe den russischen Präsidenten Putin an einige Themen erinnert, die auf besondere Weise unsere Wertvorstellungen berühren. Der Respekt gegenüber Minderheiten gehört unbedingt dazu, ebenso die Meinungen der Zivilgesellschaft. Wir haben das Thema der LGBT in Tschetschenien angesprochen wie auch den Fall einiger Nichtregierungsorganisationen in Russland."
Dass ein russischer Präsident von einem Amtskollegen öffentlich und unumwunden an die Rechte von Lesben und Schwulen, Bisexuellen und Transgender in seinem Land erinnert wird, empfanden nicht wenige der russischen Medienvertreter in Frankreich als ungeheuerlich. Umgekehrt wurde es in Russland als diplomatischer Erfolg Wladimir Putins gefeiert, dass Emmanuel Macron 2018 einer Einladung zum "Sankt Petersburger Dialog" folgte, einem Wirtschaftsforum, an dem seit 2014, dem Jahr der russischen Annexion der Krim, kein westlicher Staats- oder Regierungschef mehr teilgenommen hatte. Mit französischen Vertretern von über 50 bilateralen Wirtschaftsabkommen war Emmanuel Macron nach Sankt Petersburg gereist; Wladimir Putin würdigte seinen Gast, unterstrich die engen Handelsbeziehungen:
"Frankreich ist unser traditioneller Partner, mit dem wir gegenseitig gewinnbringende Beziehungen schätzen. Wir versuchen sie weiterzuentwickeln, unterstützen gemeinsam mit Präsident Macron einen intensiven Dialog und tauschen oft unsere Gedanken und Meinungen telefonisch aus. Französische Unternehmen beteiligen sich aktiv an der Förderung von Flüssigerdgas und an anderen Großprojekten; der Atomkonzern Rosatom deckt seinerseits 25 Prozent des französischen Bedarfs an Uranbrennstoff."
Mit öffentlicher Kritik hielt Emmanuel Macron sich in Sankt Petersburg zurück - und setzte doch einen deutlichen Akzent, als er, nachdem Wladimir Putin auf der abschließenden Pressekonferenz 18 Minuten lang gesprochen hatte, seinerseits 36 Minuten lang redete, was auf russischer Seite zunehmend ungläubiges Stirnrunzeln und Nervosität hervorrief.
Austausch über außenpolitische Konflikte
Selbstbewusst tritt Emmanuel Macron auf; und er dürfte es auch heute im Fort Brégançon tun: dürfte etwa Präsident Wladimir Putin dazu drängen, auf die Dialogangebote des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj einzugehen und die Gespräche nach dem "Normandieformat" neu zu beleben. Den bestehenden Atomvertrag mit dem Iran wollen Frankreich wie Russland beibehalten, wollen im Moment vor allem den Konflikt zwischen dem Iran und den USA eindämmen. Im Syrienkrieg akzeptiert Frankreich die Führungsrolle, die Russland eingenommen hat, erwartet im Gegenzug aber, dass Russland auch die Interessen Europas und seiner Partner berücksichtigt. Auch die Handelspolitik des Donald Trump und die Vorgänge in Hongkong dürften angesprochen werden wie auch - die Demonstrationen in Moskau. Man führe "un dialogue très clair", heißt es immer wieder aus dem Élysée, Klartext werde geredet. Und auch Putin bezeichnete die Gespräche mit Emmanuel Macron mehrfach ausdrücklich als "sehr offen" - was in der Sprache der Diplomaten auch heißen kann, dass es offen ausgetragenen Streit gegeben hat.