Jakob Kellenberger ist kein Mann der großen Worte. Der kleine, drahtige Mann wirkt sachlich und bescheiden, zuweilen gar ungelenk und hölzern. Abseits des Scheinwerferlichts punktet der Diplomat jedoch genau mit diesen Attributen: Seinem Verhandlungsgeschick und seiner Hartnäckigkeit verdankte die Schweiz in den 90er-Jahren den Abschluss von neun bilateralen Verträgen, die ihr seither den Zutritt zum EU-Binnenmarkt erleichtern. Vier Jahre lang hatte Kellenberger für den Schweizer Sonderweg in Brüssel verhandelt.
"Dass es zäh würde, das hab' ich erwartet. Es ist dann aber vielleicht doch etwas länger gegangen als ich ursprünglich hoffte," sagte Kellenberger 1998, als die Verträge unter Dach und Fach waren. Das liegt 16 Jahre zurück. Jahre, in denen sich Jakob Kellenberger als Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK nicht mehr mit Europa, sondern mit der ganzen Welt beschäftigte. Dass er sich nun mit einem 250-seitigen Buch zur Schweizer Europa-Debatte zurückmeldet, hat mit seiner zunehmenden Besorgnis zu tun: Zu Denken gibt ihm, wie sehr sich die Debatte über das Verhältnis zur EU verengt hat. War ein EU-Beitritt vor 20 Jahren noch eine zu prüfende Option, so steht ein solcher heute nicht einmal mehr zur Diskussion.
"Das Buch will der Spur einer ungewöhnlichen Situation nachgehen. Ungewöhnlich ist die Situation, dass die Schweiz mit ihrer geografischen Lage und Geschichte nicht Mitglied der Europäischen Union ist. Wie konnte erreicht werden, dass sich im Bewusstsein vieler Köpfe der natürliche Weg als der ungewöhnliche, als der abenteuerliche, im Extremfall als der existenzgefährdende festsetzte?"
EU war für die Schweiz nie ein Friedensprojekt
Jakob Kellenberger blickt zunächst zurück: Er zeigt auf, dass die Schweiz schon nach dem Zweiten Weltkrieg darauf bedacht war, in Europa einen Sonderweg einzuschlagen.
"Schon in der Stellungnahme zum Marshallplan (...) fallen die positive Haltung zur Teilnahme am wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas einerseits und das Bedürfnis andererseits auf, keinerlei politische Bindungen einzugehen. Der Grundton ist für Jahrzehnte gegeben: Wirtschaft betreibt man zusammen, Politik allein."
Für die Schweizer, die im Zweiten Weltkrieg von Kriegshandlungen verschont blieben, sei die EU nie ein Friedensprojekt gewesen.
"In der Bevölkerung emotional verankert wurde die EU seit der Errichtung der ersten der drei Europäischen Gemeinschaften, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS im Jahr 1951, als drohender zentralistischer Superstaat oder Überstaat und interessantes wirtschaftliches Absatzgebiet. Die Vorstellung der EU als Geschäftsstraße und nicht als Friedensprojekt beherrschte die Köpfe (...). So viel hat sich bis heute gar nicht geändert."
Die Igel-Mentalität hat in der Schweiz also Tradition. Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei SVP konnte in den 90er-Jahren an bereits bestehende Denkmuster anknüpfen. Die Politik, so Kellenberger, habe das Feld den rechtsnationalen Kräften überlassen, denen es gelungen sei, die Europa-Debatte 20 Jahre lang zu beherrschen. Die Schweizerische Volks-Partei liefere seit Jahrzehnten auch die Begriffe, mit denen über das Verhältnis Schweiz - EU diskutiert wird. Diesen Begriffen widmet Kellenberger, der französische und spanische Literatur studiert hat, ein eigenes Kapitel. Kritisch unter die Lupe nimmt er etwa das Schlagwort "Souveränität", das die Schweizer Europa-Diskussion beherrscht. Dies, obwohl die Schweiz - wie alle Länder - längst abhängig ist von anderen Staaten. Vor allem aber stellt der ehemalige Staatssekretär kritisch fest, dass die Schweizer Souveränität nur solange unantastbar sei, wie es die wirtschaftlichen Interessen erlaubten:
"Der Souveränität als Wert kann nichts Schlimmeres passieren, als in den Wettbewerb mit wirtschaftlichen Interessen zu geraten. Eine Neuigkeit ist das nicht, doch bleibt es bemerkenswert, wie rasch die USA 2009 dem während Jahrzehnten unverhandelbaren 'integralen' Bankgeheimnis mit der bloßen Drohung ein Ende bereiteten, es würde ein strafrechtliches Verfahren gegen die UBS eingeleitet. (...) Wir sind in Souveränitätsbelangen also ungleich beweglicher, als die innenpolitische Rhetorik erahnen ließe. Das ist kein Urteil gegen Flexibilität in außergewöhnlichen Situationen, es ist aber eine dringende Einladung, die Souveränitäts-Rhetorik dem Verhalten anzupassen."
EU-Gegnern Wind aus den Segeln nehmen
Überfrachtet mit Schlagwörtern sei die Schweizer Europa-Debatte. Und weltfremd dazu. Kein Vergleich sei zu schief, um die Bedeutung der EU für die Schweiz herunterzuspielen und umgekehrt andere Weltgegenden wichtiger erscheinen zu lassen. Wo liegt die Schweiz? heißt Kellenbergers Buch. Mitten in Westeuropa, und nicht auf einer Pazifikinsel, lautet die Antwort des ehemaligen Diplomaten. Kellenberger befürwortet klar einen Beitritt der Schweiz zur EU. Nur als Mitglied könne die Schweiz die EU aktiv mitgestalten. Ein blinder EU-Fan ist Kellenberger allerdings nicht. Kritisch beurteilt er die Währungsunion, die zu früh umgesetzt worden sei und letztlich das Gemeinschaftsgefühl geschwächt habe. Angesichts des herrschenden Schweizer EU-Kollers sieht Jakob Kellenberger auch Alternativen zu einem EU-Beitritt: Er gibt dem eingeschlagenen, bilateralen Weg durchaus Chancen. Und er kann sich sogar vorstellen, dass das Verhältnis Schweiz - EU auf das geltende Freihandelsabkommen von 1972 reduziert wird. Kellenbergers wohl wichtigste Botschaft: Keine dieser Optionen ist für die Schweiz existenzgefährdend. Der Autor will die Europa-Debatte versachlichen, um so den radikalen EU-Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit seinem Buch macht er vor, wie über die Beziehung zur EU auch besonnen nachgedacht werden kann. Kellenbergers Werk hat auch Schwächen: Es beinhaltet unzählige redundante Passagen, wirkt eilig geschrieben und redigiert. Das ist schade und passt nicht zur Sorgfalt und Differenziertheit, die Kellenberger inhaltlich auszeichnen. Sein immer wieder durchschimmernder Sarkasmus vermag diesen formalen Mangel etwas aufzuwiegen: Zu Beispiel, wenn Kellenberger bitterbös zum hierzulande häufig verwendeten Unwort "Euro-Turbo" bemerkt:
"Als Euro-Turbo wird in der Schweiz eine Person bezeichnet, die sich MEHR ALS 60 JAHRE nach Gründung der EG (heute EU) für eine schweizerische EU-Mitgliedschaft ausspricht."
Jakob Kellenberger: Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis Schweiz - EU, 230 Seiten. Verlag Neue Zürcher Zeitung NZZ libro, 34 Euro.