"Einige Philosophen behaupten, dass es unmöglich ist, dass Affen einen Gerechtigkeitssinn haben, weil die Gerechtigkeit erst während der Französischen Revolution erfunden wurde. Sie glauben, dass wir moralische Grundsätze durch logisches Schlussfolgern entwickeln. Ich glaube, es ist genau anders herum: Wir entwickeln unsere Moral aus unseren grundlegenden Neigungen. Diese Neigungen und Emotionen bestimmen unser Verhalten."
Frans de Waal ist Primatenforscher und Professor an der Emory University in Atlanta.
Er experimentierte vor zehn Jahren mit Kapuzineraffen. Zwei Affen saßen in benachbarten Käfigen. Durch eine runde Öffnung reichten sie einen Stein heraus, um ihn gegen ein Stück Gurke zu tauschen. Dutzende Male habe man das wiederholen können, sagt de Waal, weil Gurke eine Leckerei für die Tiere sei. Noch lieber als Gurken mögen Kapuziner Affen allerdings Weintrauben. Im Versuch gab de Waal einem der Affen nun statt des Gurkenstücks eine Traube für seinen Stein. Der andere musste weiterhin Gurke essen. Ziemlich schnell schmeckte die ihm dann nicht mehr. Er schleuderte die einstige Leckerei durch die Öffnung dem Forscher entgegen und begann erbost am Käfig zu rütteln. Er fühlte sich ungerecht behandelt. Allerdings sei diese eine sehr egozentrische Spielart des Gerechtigkeitssinns, meint de Waal.
"Sie kümmern sich bloß darum, ob sie mehr oder weniger bekommen als jemand anderes. Der, der die Weintraube bekommt, hat kein Problem damit. Das ist nicht wirklich der Gerechtigkeitssinn, den wir Menschen haben. Aber bei Schimpansen haben wir erst vor Kurzem Beweise für einen wesentlich ausgeprägteren Gerechtigkeitssinn beobachtet. Schimpansen weigern sich manchmal die Weintraube zu essen, bis der andere auch eine Weintraube bekommt."
Das ist sehr nah an dem, was man über den menschlichen Gerechtigkeitssinn weiß. Denn Menschen bemerken nicht nur, dass sie selbst ungerecht behandelt wurden. Sie können sich auch in andere hinein versetzen. Sie erkennen nicht nur Unrecht, das ihnen selbst widerfährt, sondern eben auch die ungerechte Behandlung ihrer Mitmenschen. Bei Menschen wie bei Affen sorgt dieses Verständnis dafür, dass ihre sozialen Beziehungen funktionieren. Für Lebewesen, die in sozialen Verbänden leben und wie Schimpansen beispielsweise gemeinsam jagen, um zu überleben, ist das immens wichtig.
De Waals Experimente legen also nahe, dass auch der menschliche Sinn für Gerechtigkeit nicht erst während der Französische Revolution durch philosophisch aufklärerische Ideen und Überlegungen kognitiv entwickelt wurde. Er wäre vielmehr eine Grundkonstante menschlichen Verhaltens, die einen biologischen Ursprung hat. Doch Menschen leben in wesentlich komplexeren Gesellschaften als Affen. Deswegen lässt sich im Einzelfall gerecht und ungerecht nur schwer bestimmen, sagt der Direktor der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Professor Harald Müller.
"Es gibt eine interkulturelle Definition davon, das ist 'jedem das seine'. Die Idee ist, dass es Dinge gibt, die einem Menschen zustehen - aus welchen Gründen auch immer - und diese Idee ist überall vorhanden. Das Problem fängt an, wen man darüber redet, welchem jeden welches seine. Und da gehen dann die Meinungen ganz extrem auseinander.“
"Jedem das Seine": Von den Nationalsozialisten pervertiert
Die Meinungen gehen sogar so weit auseinander, dass selbst die Nationalsozialisten das Motto benutzten - und pervertierten - indem sie es über die Innenseite des Tors zum Konzentrationslager Buchenwald schrieben. „Jedem das Seine“ ist eigentlich ein Ausspruch des Römischen Rechtsgelehrten Ulpian. Dabei geht es um die Frage, wer nach welchen Regeln wie viel von was bekommt. Und wer welche Rechte und welche Pflichten hat. Hierin zeigt sich eindeutig, was Menschen von Affen unterscheidet: Menschliche Gerechtigkeit ist kein schlichtes Naturprogramm. Sondern wird auch in Gesellschaften ausgehandelt. Den ultimativen Grund dafür, dass Menschen das tun, sieht der Freiburger Neurobiologe Joachim Bauer im menschlichen Gehirn.
"Dass Menschen sich überhaupt an Normen orientieren und dass wir Lebewesen sind, die ein gutes soziales Zusammenleben wollen. Das ist biologisch in uns angelegt. Wie wir das im Einzelfall gestalten, das ist sozusagen die kulturelle Freiheit, die uns unser Gehirn auch lässt. Wir können uns verschiedene Regeln geben, Gesetze geben, wir können testen, wie bestimmte Regeln sich anfühlen und wenn wir merken, das funktioniert nicht gut, dann können wir andere Regeln machen. Das sind also große kulturelle Freiräume, die in verschiedenen Gesellschaften gegeben sind."
Und das bedeutet meistens, dass Gerechtigkeit nicht dasselbe ist wie Gleichheit. So halten es die meisten Deutschen beispielsweise für gerecht, dass Menschen mit unterschiedlichen Berufen auch verschiedene Einkommen haben. Das ist eine sogenannte „distributive Gerechtigkeit“. Demnach stehen Menschen unterschiedliche Dinge zu. Verteilt werden sie nach dem Maßstab von Begabung oder angenommener Leistung. Dass dieses Vorgehen als gerecht empfunden wird, liegt an gesellschaftliche Vereinbarungen, die in soziale Verfahrensregeln oder Normen gegossen sind. Für Menschen kann es - im Gegensatz zu Kapuzineraffen - also durchaus gerecht sein, wenn einer Weintrauben isst, während sich der andere von Gurken ernähren muss. Entscheidend ist, ob die Regel nach der die Nahrung verteilt wird, allgemein anerkannt ist, ist der Frankfurter Jurist und Rechtstheoretiker Professor Klaus Günther überzeugt.
"Im Vordergrund steht einfach die Überzeugung, dazu verpflichtet zu sein, die Regeln zu befolgen. Das hat zur Folge, dass wir unser Zusammenleben, unsere Kooperation dann eben auch so organisieren als einen permanenten Austausch, oft auch Streit über die Frage des richtigen Regelbefolgens. Wir haben Institutionen und Verfahren, in denen einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen ermächtigt sind, Regeln zu ändern, durchzusetzen, anzuwenden und das heißt, wir sind nicht nur in der Lage, nicht unser Verhalten am Maßstab von Regeln zu kritisieren, sondern wir können auch die Regeln selber manchmal kritisieren anhand von anderen Regeln - zum Beispiel den Menschenrechten. Und das ist sozusagen eine etwas höhere Stufe, als einfach nur einem vorgegebenen Regelsystem der Kooperation mehr oder weniger blind zu folgen."
Das ist einerseits eine Chance. Denn Menschen können theoretisch frei entscheiden, in welcher Welt sie leben wollen. Andererseits machen es ihnen ihre schiere Anzahl, bestehende Machtverhältnisse und begrenzte Ressourcen aber schwer, diese Entscheidung im Sinne aller fair zu treffen. Und nicht nur das. Es ist bereits für eine Gesellschaft ein Problem, innere Gerechtigkeit herzustellen. Also beispielsweise für alle die Teilhabe an Wohlstand, Politik, Kultur und Bildung zu garantieren. In einer globalisierten Welt ist Ungerechtigkeit allgegenwärtig. Zudem treffen aber auch noch unterschiedliche Gerechtigkeitssysteme, also unterschiedliche Vorstellungen davon, was gerecht und ungerecht ist, aufeinander. Ein virulentes Zeichen dafür ist das Schicksal afrikanischer Flüchtlinge, die zu Hunderten vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ertrinken. Der Europäische Gesetzgeber hält es für gerecht, dass sie nicht einreisen dürfen. Dass sie das anders sehen, liegt auf der Hand. Diese Diskrepanz führt zu verzweifelten Versuchen, Europa dennoch zu erreichen. Und so verwundert es nicht, dass Harald Müller eine dunkle Seite der Gerechtigkeit sieht: Sie ist ein Motor für Konflikte und Krieg.
"Die andere Seite wollen wir aber auch nicht vernachlässigen. Wenn wir nämlich eine Lösung finden, die alle Beteiligten für einigermaßen gerecht halten, dann hält diese Lösung wahrscheinlich sehr sehr lange."