Volker Finthammer: Herr Verheugen, morgen wollen die EU-Außenminister darüber beraten, wie es mit den Beitrittsverhandlungen der Türkei weitergehen soll. Die EU-Kommission hatte ja die Aussetzung der acht von 35 Verhandlungskapitel vorgeschlagen, sollte sich die Türkei in der Zypernfrage nicht bewegen. Nun hat die türkische Regierung quasi in letzter Minute Entgegenkommen gezeigt und bietet dem Vernehmen nach die Öffnung eines Hafens und eines Flughafens für zyprische Schiffe und Flugzeuge an. Ist das in Ihren Augen ein ernstzunehmendes Angebot, und wäre damit die Kuh vom Eis, also die Gründe hinfällig, die Verhandlungen einzufrieren?
Günter Verheugen: Es scheint in der Tat, dass jetzt doch noch eine gewisse Bewegung in diese sehr schwierige Frage gekommen ist. Das muss man begrüßen, und man muss auch anerkennen, dass ein solcher Schritt für die türkische Regierung, die sich ja in der Vorbereitung auf eine Wahl befindet, nicht ganz einfach ist. Es ist also ein Schritt, den man nicht unterschätzen sollte. Aber das ändert nichts daran: Die Türkei muss die Verpflichtungen, die ihr aus der Zollunion mit der Europäischen Union erwachsen, vollständig erfüllen. Es wird sich hier zeigen, wie ernsthaft dieses Angebot der Türkei ist und ob es die Entscheidung der Minister morgen beeinflussen kann.
Die Kommission hat die türkische Absicht begrüßt, erste Schritte zur Vermöglichung der Zollunion auch mit Zypern zu tun, aber die Kommission hat bisher nicht gesagt, dass sie ihren Vorschlag ändern will. Und damit rechne ich auch nicht. Der Vorschlag bleibt also bestehen, die Verhandlungskapitel erst einmal einzufrieren, die mit der Zollunion verbunden sind. Und ich glaube, dass das eine vernünftige Reaktion auf die Situation ist, die wir haben.
Finthammer: Nun ist noch nicht ganz klar, ob die Türkei ihrerseits konkrete Bedingungen an ihren Vorstoß knüpft. Sie hat ja schon immer verlangt, dass auch Häfen in Nordzypern, im türkisch besetzten Nordzypern, geöffnet werden sollen, damit auch dort der internationale Verkehr stattfinden kann. Andererseits verlangt die EU-Kommission nach wie vor das bedingungslose Entgegenkommen der Türkei. Sehen Sie da eine Kompromisslinie?
Verheugen: Es gibt keine rechtliche Verbindung zwischen diesen beiden Fragen, und die Türkei kann also nicht ein rechtliches Junktim herstellen. Da besteht ja eine politische Verbindung, und dazu muss man die Vorgeschichte kennen. Und die Vorgeschichte ist eben so, dass nach dem Scheitern des Volksentscheides über den Friedensplan der Vereinten Nationen, der zur Wiedervereinigung Zyperns hätte führen sollen, die Europäische Union der türkisch-zyprischen Gemeinschaft eine Zusage gemacht hat. Denn die Türken hatten ja dem Friedensplan von Kofi Annan zugestimmt, die griechischen Zyprioten hatten ihn abgelehnt. Und die EU hat damals gesagt: "Darunter sollen die türkischen Zyprioten jetzt nicht leiden und wir wollen die ökonomische Integration des türkisch-zypriotischen Teils der Insel jetzt vorantreiben." Und entsprechende Vorschläge sind gemacht worden, aber sie konnten nicht realisiert werden, weil sie im Rat keine Einstimmigkeit gefunden haben. Das ist der politische Zusammenhang.
Aber ich möchte noch einmal sagen, einen rechtlichen Zusammenhang gibt es nicht. Jeder vernünftige Mensch würde eine Paketlösung hier bevorzugen. Das ist ja auch versucht worden, aber bis jetzt leider ohne Erfolg. Und ich kann nur zusammenfassend feststellen: Eine rechtliche Verbindung dieser beiden Fragen kann nicht hergestellt werden.
Finthammer: Nun dürfte es ja für die Staats- und Regierungschefs ziemlich schwierig sein, am kommenden Donnerstag und Freitag da eine klare Entscheidung zu treffen. Sollte die Türkei bei diesem Angebot bleiben, jeweils einen Hafen und einen Flughafen für zyprische Schiffe und Flugzeuge zu öffnen, dann wäre das nur ein geringes Entgegenkommen. Auf der anderen Seite hatten wir in der vergangenen Woche eine scharfe Diskussion über eine mögliche Revisionsklausel oder eine Überprüfungsklausel, angestoßen von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die den ganzen Prozess - ja, sagen wir - bis ins Jahr 2008 verschieben wollte, um dann noch einmal zu sehen, wie weit die Türkei bis dahin in ihren politischen Bemühungen gekommen ist. Ist diesem Vorstoß mit dem möglichen diplomatischen Kompromiss das Wasser entzogen?
Verheugen: Also, die Dinge sind jetzt so sehr in Fluss, dass man sich davor hüten sollte, irgendwelche Spekulationen anzustellen. Wie die Staats- und Regierungschefs am Ende dieser Woche dann tatsächlich entscheiden werden, kann man erst im Lichte der Entwicklung in den nächsten Tagen wirklich sehen. Es kann ja durchaus sein, dass diplomatische Bemühungen noch Erfolge zeitigen. Heute kann ich nur sagen: Der Vorschlag der Kommission ist ein vernünftiger Vorschlag, auf den sich alle sollten einigen können, zumal der Vorschlag der Kommission ja eine politische Tatsache voll in Rechnung stellt: Niemand in der Europäischen Union ist bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen, den Verhandlungsprozess mit der Türkei jetzt abzubrechen oder zum Scheitern zu bringen. Niemand will das. Ich sehe niemanden, der sagt: "Wir machen jetzt Schluss!" Also muss ein Weg gefunden werden, wie wir den Prozess lebendig halten, aber gleichzeitig der Türkei auch klarmachen, dass wir von ihr erwarten, die eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen.
Ganz langfristig betrachtet, ist eines klar: Es wird und kann keinen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geben - niemals, zu keiner Zeit - ohne eine gleichzeitige Lösung der Zypernfrage. Das ist auch jedermann in der Türkei bewusst, dass diese Fragen untrennbar miteinander zusammenhängen, weil eben - leider - die Türkei in den entscheidenden Jahren zwischen 1999 und 2003 den richtigen Zeitpunkt verpasst hat, die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen, die nachträglich unterstützt worden sind von der Europäischen Union, mitzutragen.
Finthammer: Aber es waren die griechischen Zyprioten, die damals in einem Votum das abgelehnt haben.
Verheugen: Am Ende, das war im Jahr 2004. Und es hätte natürlich viel früher zu einer Verständigung kommen müssen. Ich bin hier, wie ich hoffe, ein unverdächtiger Zeuge, ich habe mit diesen Fragen ja jahrelang zu tun gehabt. Es ist eben so gewesen, dass auf der türkisch-zypriotischen Seite und auf der türkischen Seite jahrelang keine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft bestand. Und dadurch ist der richtige Zeitpunkt verpasst worden.
Finthammer: War es vor diesem Hintergrund nicht ein strategischer Fehler, den Beitritt Zyperns so früh einzuleiten und quasi damit auch eine Quelle für die jetzigen Schwierigkeiten zu legen?
Verheugen: Ja, das ist eine wirklich spannende Frage. Zunächst muss man wissen, dass Zypern als Beitrittskandidat bereits im Jahre 1995 anerkannt worden ist, also lange, bevor die jetzige große Erweiterungsrunde überhaupt in Gang kam. Und das war die Konzession, die damals verlangt wurde, um die Zollunion mit der Türkei zustande zu bringen, die so dringend gewünscht war. Also, Zypern war bereits ein Beitrittskandidat, als der große Erweiterungsprozess überhaupt begann. Das ist doch vollkommen unmöglich, eine Beitrittsrunde zu starten, ohne dass Zypern dabei war. Es wäre auch niemals ein Beitrittsvertrag mit den mittel- und osteuropäischen Staaten ratifiziert worden - jedenfalls nicht in allen Mitgliedsländern -, wenn nicht Zypern in der ersten Runde mit dabei gewesen wäre.
Also denke ich, war die Entscheidung richtig, die Optionen offen zu halten und die Frage der Zukunft der mittel- und osteuropäischen Staaten nicht abhängig zu machen von der Lösung der Zypernfrage. Wenn wir damals die Politik nicht geändert hätten, hätte das Schicksal Polens, Ungarns der Tschechischen Republik und aller dieser anderen Länder in den Händen von Herrn Denktasch gelegen. Und das konnte ja niemand ernsthaft wollen.
Finthammer: Trotz aller gegenwärtigen Unübersichtlichkeiten - mit welcher Entscheidung rechnen Sie im Laufe dieser Woche?
Verheugen: Ich kann mich jetzt in diesem Augenblick, weil so viel noch im Fluss ist, nicht einlassen auf eine konkrete Prognose, wie viele Kapitel und wie lange und was auch immer. Was ich aber glaube mit Sicherheit sagen zu können ist, dass der Europäische Rat eine Lösung finden wird, die einerseits ein deutliches Signal ist an die Türkei: Ihr müsst eure eingegangenen Verpflichtungen erfüllen, andererseits aber auch klar macht: Wir wollen diesen Prozess weiter führen und ihn nicht abbrechen.
Finthammer: Herr Verheugen, schauen wir mal auf ein anderes Thema. In drei Wochen übernimmt die deutsche Bundesregierung das Ruder in der Europäischen Union. Welche Erwartungen haben Sie an die deutsche Präsidentschaft?
Verheugen: Wie jedermann in Brüssel und offenbar in ganz Europa habe auch ich sehr hohe Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft. Im Grunde erwartet jeder, dass Deutschland wieder frischen Wind in den Prozess der europäischen Einigung bringt und dass die steckengebliebenen Prozesse wieder in Gang kommen. Ich habe die Hoffnung, dass es Deutschland gelingen wird, die Frage der Reform der Europäischen Union, also die Verfassungsfrage, wieder in Gang zu setzen. Ich bin sicher, dass Deutschland eine Menge tun wird, um die Wachstums- und Beschäftigungspolitik der Europäischen Union voran zu bringen und bin sicher, dass unter der deutschen Präsidentschaft wichtige Schritte getan werden, um zu einer gemeinsamen europäischen Politik gegen den Klimawandel und zur Vermeidung der globalen Umweltrisiken zu kommen. Und das heißt eben in diesem Zusammenhang, die Frage unserer künftigen Energiepolitik zu behandeln. Das wird alles geschehen und mein besonderes Leib- und Magenthema, der Bürokratieabbau in Europa, wird durch die deutsche Präsidentschaft mit Sicherheit stark gefördert werden, weil es ja auch eine Priorität der deutschen Regierung ist.
Finthammer: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ja die Wiederbelebung der europäischen Verfassungsfrage zu einem zentralen Thema erhoben. Sie haben es gerade auch an erster Stelle genannt. Was kann denn die deutsche Präsidentschaft da überhaupt im Hinblick auf die Verfassung bewegen? Da bleibt ja ob der Wahl in Frankreich nur ein wirklich kleines Zeitfenster. Viel Zeit, um wirklich grundsätzliche Pflöcke einzurammen, bleibt doch wirklich nicht.
Verheugen: Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die politischen Voraussetzungen, den Prozess wieder in Gang zu bringen, sogar günstig sind. Denn wer auch immer der nächste französische Präsident oder die nächste französische Präsidentin sein wird, muss ein ganz starkes Interesse haben, Frankreich wieder in das Zentrum der europäischen Politik zu bringen und aus der Randlage heraus zu führen, in die Frankreich geraten ist durch das Scheitern des Volksentscheids über die Verfassung. Also, ich glaube, dass es ein massives französisches Interesse gibt, zusammen mit Deutschland wieder in die Lage zu kommen, Kurs und Richtung der europäischen Politik entscheidend mit zu gestalten. Das ist die eine Seite.
Und was Deutschland tun kann: Deutschland kann nicht in den wenigen Wochen, die dafür zur Verfügung stehen, einen neuen Text erarbeiten und verabschieden lassen. Das erwartet auch niemand. Aber was erreichbar ist, ist eine Verständigung zwischen den Beteiligten darüber, was man jetzt regeln will, wie man es regeln will und wann man es regeln will. Denn ganz wichtig ist ja, dass die notwendigen institutionellen Reformen der Europäischen Union so in Kraft treten, dass sie im Jahre 2009 wirksam sind.
Ich will ein einziges Beispiel sagen: Wir können keinen Tag länger mehr warten, ohne das in der Europäischen Verfassung vorgesehene Instrument der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen. Wir brauchen diesen europäischen Außenminister dringender denn je. Die Erwartungen an Europa, die aus der ganzen Welt an uns gerichtet werden, werden praktisch von Tag zu Tag größer, und wir haben keine angemessene Möglichkeit, darauf zu reagieren.
Finthammer: Letztlich geht es ja darum, ob die Ratifizierung weiter fortgesetzt werden sollte, das finnische Parlament hat es gerade in dieser Woche erst getan und die Verfassung angenommen, oder ob ein neuer Vertrag, etwa ein Mini-Vertrag, entwickelt werden sollte. Welches Szenario halten Sie denn da für wahrscheinlich? Wird die Ratifizierung weiter gehen oder wird man sich - der Vorschlag des französischen Innenministers Sarkozy liegt ja auf dem Tisch - möglicherweise auf einen neuen Mini-Vertrag konzentrieren?
Verheugen: Die Frage lässt sich jetzt wirklich nicht beantworten. Das ist ja genau das, was während der deutschen Präsidentschaft geklärt werden muss. Und deshalb lässt sich jetzt auch nicht die Frage beantworten, ob gegebenenfalls der gesamte Ratifizierungsprozess noch einmal neu anfangen muss. Ich kann hier nur eine Mindestanforderung stellen, und die Mindestanforderung lautet: Wir brauchen einen neuen Vertrag. Wir brauchen einen besseren Vertrag, und dieser Vertrag muss das enthalten, was in dem Verfassungsentwurf an neuen Elementen der Vertiefung der europäischen Integration vorgesehen war. Wir können auf nichts verzichten, was dort vorgesehen war. Also, wir sollten nicht in die Situation kommen, in der wir über Verfassungsminus reden, sondern allenfalls Verfassungsplus. Nun weiß ich allerdings, dass das eine sehr weitgehende Forderung ist und vielleicht im Augenblick nicht besonders realistisch, aber festhalten an dem, was bereits vereinbart war, das sollte man in jedem Fall.
Finthammer: Kommissionspräsident Manuel Barroso und mit ihm andere hoffen ja auf die Berliner Erklärung im März zur 50-Jahr-Feier der Römischen Verträge. Berlin soll quasi ein Symbol sein für das neue Europa, für die Vereinigung und Erweiterung nach dem Fall der Mauer. Diese Feierlichkeiten sollen ja auch ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl demonstrieren und ein Weckruf für den Verfassungsprozess sein. Ist das nicht eher die Autosuggestion, mit der sich Politiker motivieren?
Verheugen: Nein, das glaube ich nicht. Also, ich halte diesen politischen Aufbau für sehr elegant und auch sehr erfolgversprechend. Es hängt natürlich davon ab, wie inhaltsreich diese Berliner Erklärung wird. Also nur eine Sammlung von Worthülsen, das ist nicht geplant. Das will die Bundeskanzlerin ganz bestimmt nicht, sondern sie will eine Erklärung mit Substanz, eine Selbstverpflichtung der europäischen Staats- und Regierungschefs, der Kommission und des Parlamentes, für weitere Fortschritte in der europäischen Integration zu sorgen. Und das ist dann, wie ich finde, ein sehr guter Anknüpfungspunkt für das, was im Juni geschehen muss, nämlich die Verständigung über den Fahrplan für diese Reformen.
Finthammer: Aber ist es nicht ein wenig überhöht, auch angesichts der vielen "lame ducks" im europäischen politischen Geschäft - in Frankreich wird gewählt, Großbritanniens Regierungschef steht vor dem Regierungswechsel, vor dem Rücktritt, in elf Ländern in der Europäischen Union wird im kommenden Jahr gewählt. Wer soll denn da diese Positionen stark machen und präzisieren? Nur Angela Merkel?
Verheugen: Also, wir werden uns daran gewöhnen müssen, bei einer Union mit 27 Mitgliedern und vielleicht eines Tages noch mehr, dass immer irgendwo gewählt wird. Das wird ein Normalzustand sein, und der darf die europäischen Prozesse nicht aufhalten. Und ich nehme ohnehin war, mit großem Interesse und mit Befriedigung, dass es viel leichter ist auf der europäischen Ebene, langfristige Strategien und eine langfristige Politik durchzuhalten, als auf der nationalen. Ich glaube nicht, dass für die Regierungschefs, die Sie gerade angesprochen haben, ein Problem darin besteht, sich noch einmal klar und deutlich für ihr Land zur europäischen Einigung zu bekennen.
Finthammer: Am kommenden 1. Januar bekommt die Gemeinschaft zwei neue Mitglieder, Rumänien und Bulgarien. Ihr Kollegenkreis wird dann insgesamt 27 Kommissare umfassen. Kann man da eigentlich überhaupt noch von einer handlungsfähigen Kommission sprechen?
Verheugen: Es hat sich herausgestellt nach der Erweiterung des Jahres 2004, dass die Handlungsfähigkeit der Kommission durch die Vergrößerung nicht beeinträchtigt wird. Sicher sind die Verfahren jetzt manchmal etwas komplizierter und dauern etwas länger, aber das ist politisch handhabbar. Grundsätzlich gilt aber, dass mit dem 27. Beitritt, und der wird am 1. Januar erfolgen, die Kommissionen verkleinert werden sollen. Das ist ja im jetzt gültigen Vertrag enthalten. Da muss man sich aber noch drüber verständigen, wie das geschehen soll. Wenn die Bestimmungen aus dem Verfassungsentwurf in Kraft treten sollten, wenn man darauf zurückgreift, dann würde es heißen, dass wir ab 2009 eine Kommission hätten, deren Mitgliederzahl zwei Drittel der Zahl der Mitgliedsstaaten ist. Also bei 27 Mitgliedsstaaten hätten wir dann 18 Kommissare, und das nach dem Grundsatz einer gleichberechtigten Rotation.
Damit das jeder versteht, das heißt, dass jedes Mitgliedsland in jeder dritten Kommission nicht vertreten wäre, auch Deutschland. Das ist die Regelung, die in der Verfassung gefunden wurde. Ob die in Kraft tritt, hängt jetzt davon ab, auf was man sich im Juni einigt und was das Ergebnis dieser Gespräche ist. Ich selber muss sagen, dass ich an dieser Stelle eine gewisse Skepsis habe. Ich frage mich wirklich, ob wir sicher sein können, dass die Politik und die Entscheidungen der Kommission wirklich die Autorität und die Legitimität überall in Europa haben werden, wenn in jeder Kommission zwei große Mitgliedsländer nicht vertreten sind. Es sind ja immer zwei große, die da nicht vertreten werden. Ich mache an dieser Stelle ein Fragezeichen, wenigstens das.
Finthammer: Aktuell hat die Kommission ein großes Imageproblem. Einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach unter Unternehmensführern zufolge haben sieben von zehn Befragten kein großes oder gar kein Vertrauen in die Arbeit der Kommission, ein Defizit, das sich, glaube ich, schwer aufholen lässt.
Verheugen: Das überrascht mich aber jetzt wirklich sehr, denn meine Erfahrung ist eigentlich ganz anders. Meine Aufgabe bringt es ja mit sich, dass ich sehr intensive Kontakte gerade mit europäischen Unternehmen und Unternehmern habe, und da nehme ich eher wahr, dass sie größere Hoffnungen setzen auf die Kommission als auf nationale Regierungen. Das Imageproblem ist nicht eines der Kommission allein. Das kann ich nicht bestreiten, dass es existiert. Es ist ein Imageproblem der europäischen Einigung insgesamt, die, glaube ich, in den Augen vieler Menschen zu technisch, zu kalt und zu bürokratisch geworden ist. Und das ist ja einer der Gründe, warum ich mit so großem Nachdruck dafür kämpfe, dass Bürokratieabbau und Rechtsvereinfachung ein Hauptthema der europäischen Politik bleibt.
Finthammer: Es ist ja noch nicht allzu lange her, da haben Sie mit Ihrer Beamtenschelte für große Unruhe in der Kommission gesorgt. Hat Ihnen der Vorstoß irgend etwas gebracht? Vom geforderten Paradigmenwechsel ist ja doch weit und breit noch nicht viel zu spüren. Und nach der Aufregung im Oktober wird das Thema jetzt doch geradezu totgeschwiegen.
Verheugen: Nein, ganz im Gegenteil. Also, seit diesem Paukenschlag weiß jeder in der Kommission, dass der Bürokratieabbau und die Rechtsvereinfachung ein zentrales Projekt der Barroso-Kommission sind und ich sehe seitdem auch, dass die von mir beklagten Verzögerungen abgearbeitet werden. Die Kommission hat erst vor wenigen Tagen ganz weitreichende Beschlüsse gefasst, was den Bürokratieabbau und die Rechtsvereinfachung angeht, bis hin zu dem Ziel, innerhalb der nächsten Jahre die auf europäischen Unternehmen lastenden Bürokratiekosten um 25 Prozent zu senken. Ich habe alles erreicht, was ich erreichen wollte in dieser Frage. Das politische Design des Projekts Bürokratieabbau in Europa ist fertig, und wir befinden uns jetzt bereits im Stadium der Verwirklichung.
Hier muss ich allerdings sagen, dass ich große Erwartungen und Hoffnungen setze auf die deutsche Präsidentschaft, denn das Ganze kann ja nur funktionieren, wenn es im Zusammenwirken der europäischen Institutionen mit den Mitgliedsstaaten geschieht. Denn die Bürokratie entsteht ja nicht allein durch die Brüsseler Regelungen. Die Bürokratie entsteht ja durch die Kombination. Nein, ich kann wirklich sagen, dass der ganze Prozess jetzt Schwung gewonnen hat und dass es jetzt wirklich gut voran geht.
Finthammer: Aber da möchte ich Sie auch mit einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach konfrontieren, die genau dieses Konzept des Bürokratieabbaus unter Unternehmensführern abgefragt haben. Und danach halten das zumindest in Deutschland neun von zehn Unternehmensführern für ein leeres Versprechen.
Verheugen: Wenn diese Umfrage wirklich realistisch sein sollte, dann ist sie für mich nur ein weiterer Ansporn, die Anstrengungen zu verstärken und die deutschen Unternehmen und Unternehmer davon zu überzeugen, dass es diesmal nicht ein Projekt ist, das irgendwelchen Beamten überlassen wird, sondern dass es ein Projekt ist, das unter politischer Führung und politischer Kontrolle wirklich voran getrieben wird. Also, ich würde mal vorschlagen, dass wir eine Bilanz ziehen am Ende des Jahres 2009. Und ich sage Ihnen heute voraus, diese Bilanz wird gut sein.
Finthammer: Sie haben jüngst in einem Interview gesagt, die Kommission müsse wieder mehr über Verordnungen regieren, die anders als die üblichen Rahmenrichtlinien in der ganzen EU sofortige Rechtskraft erlangen. Das wäre doch eine Rückkehr zum Brüsseler Zentralismus, den viele in den letzten Jahren so fürchterlich fürchten.
Verheugen: Ich habe das bezogen auf die Regelungen, die den Binnenmarkt betreffen. Es geht hier nur um den Binnenmarkt. Wir müssen feststellen, dass das Instrument einer Richtlinie, was Binnenmarktregelungen angeht, Probleme schafft, weil wir nicht sicherstellen können, dass in der jeweiligen nationalen Umsetzung nicht unterschiedliche Regelungen getroffen werden, die Handelshemmnisse schaffen. Wir haben Tausende solcher Handelshemmnisse, und deshalb glaube ich, dass in Bezug auf den Binnenmarkt die direktwirksame Verordnung der bessere Weg ist - übrigens auch ein großer Beitrag zur Vereinfachung, weil dadurch eine große Zahl von nationalen Regelungen überflüssig wird.
Finthammer: Ist da in diesem Jahr noch etwas zu erwarten von Ihnen?
Verheugen: Wir brauchen, was die Neuordnung des Binnenmarktes angeht, zwei Regelungen, an denen ich arbeite und die in den nächsten Wochen noch vorgelegt werden. Es geht einmal darum, immer noch bestehende und nach unserer Überzeugung vertragswidrige Hindernisse im harmonisierten Bereich abzubauen, und zum anderen geht es darum, im nichtharmonisierten Bereich ein Verfahren zu finden, das es den Mitgliedsländern nicht erlaubt, durch die Hintertür ihren nationalen Interessen gegenüber anderen Vorrang zu geben.
Finthammer: Herr Verheugen, in der deutschen Presse sind in den letzten Tagen wieder Meldungen aufgetaucht von neuen kompromittierenden Fotos, die Sie mit Ihrer Kabinettsleiterin Frau Erler zeigen würden, und es gibt die Kritik, dass Sie als Kommissar den Ehrenkodex des Kommissars verletzt hätten. Was sagen Sie dazu?
Verheugen: Ich werde den deutschen Boulevardmedien nicht den Gefallen tun, zu einer rein privaten Angelegenheit öffentlich auch nur ein einziges Wort zu sagen.
Günter Verheugen: Es scheint in der Tat, dass jetzt doch noch eine gewisse Bewegung in diese sehr schwierige Frage gekommen ist. Das muss man begrüßen, und man muss auch anerkennen, dass ein solcher Schritt für die türkische Regierung, die sich ja in der Vorbereitung auf eine Wahl befindet, nicht ganz einfach ist. Es ist also ein Schritt, den man nicht unterschätzen sollte. Aber das ändert nichts daran: Die Türkei muss die Verpflichtungen, die ihr aus der Zollunion mit der Europäischen Union erwachsen, vollständig erfüllen. Es wird sich hier zeigen, wie ernsthaft dieses Angebot der Türkei ist und ob es die Entscheidung der Minister morgen beeinflussen kann.
Die Kommission hat die türkische Absicht begrüßt, erste Schritte zur Vermöglichung der Zollunion auch mit Zypern zu tun, aber die Kommission hat bisher nicht gesagt, dass sie ihren Vorschlag ändern will. Und damit rechne ich auch nicht. Der Vorschlag bleibt also bestehen, die Verhandlungskapitel erst einmal einzufrieren, die mit der Zollunion verbunden sind. Und ich glaube, dass das eine vernünftige Reaktion auf die Situation ist, die wir haben.
Finthammer: Nun ist noch nicht ganz klar, ob die Türkei ihrerseits konkrete Bedingungen an ihren Vorstoß knüpft. Sie hat ja schon immer verlangt, dass auch Häfen in Nordzypern, im türkisch besetzten Nordzypern, geöffnet werden sollen, damit auch dort der internationale Verkehr stattfinden kann. Andererseits verlangt die EU-Kommission nach wie vor das bedingungslose Entgegenkommen der Türkei. Sehen Sie da eine Kompromisslinie?
Verheugen: Es gibt keine rechtliche Verbindung zwischen diesen beiden Fragen, und die Türkei kann also nicht ein rechtliches Junktim herstellen. Da besteht ja eine politische Verbindung, und dazu muss man die Vorgeschichte kennen. Und die Vorgeschichte ist eben so, dass nach dem Scheitern des Volksentscheides über den Friedensplan der Vereinten Nationen, der zur Wiedervereinigung Zyperns hätte führen sollen, die Europäische Union der türkisch-zyprischen Gemeinschaft eine Zusage gemacht hat. Denn die Türken hatten ja dem Friedensplan von Kofi Annan zugestimmt, die griechischen Zyprioten hatten ihn abgelehnt. Und die EU hat damals gesagt: "Darunter sollen die türkischen Zyprioten jetzt nicht leiden und wir wollen die ökonomische Integration des türkisch-zypriotischen Teils der Insel jetzt vorantreiben." Und entsprechende Vorschläge sind gemacht worden, aber sie konnten nicht realisiert werden, weil sie im Rat keine Einstimmigkeit gefunden haben. Das ist der politische Zusammenhang.
Aber ich möchte noch einmal sagen, einen rechtlichen Zusammenhang gibt es nicht. Jeder vernünftige Mensch würde eine Paketlösung hier bevorzugen. Das ist ja auch versucht worden, aber bis jetzt leider ohne Erfolg. Und ich kann nur zusammenfassend feststellen: Eine rechtliche Verbindung dieser beiden Fragen kann nicht hergestellt werden.
Finthammer: Nun dürfte es ja für die Staats- und Regierungschefs ziemlich schwierig sein, am kommenden Donnerstag und Freitag da eine klare Entscheidung zu treffen. Sollte die Türkei bei diesem Angebot bleiben, jeweils einen Hafen und einen Flughafen für zyprische Schiffe und Flugzeuge zu öffnen, dann wäre das nur ein geringes Entgegenkommen. Auf der anderen Seite hatten wir in der vergangenen Woche eine scharfe Diskussion über eine mögliche Revisionsklausel oder eine Überprüfungsklausel, angestoßen von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die den ganzen Prozess - ja, sagen wir - bis ins Jahr 2008 verschieben wollte, um dann noch einmal zu sehen, wie weit die Türkei bis dahin in ihren politischen Bemühungen gekommen ist. Ist diesem Vorstoß mit dem möglichen diplomatischen Kompromiss das Wasser entzogen?
Verheugen: Also, die Dinge sind jetzt so sehr in Fluss, dass man sich davor hüten sollte, irgendwelche Spekulationen anzustellen. Wie die Staats- und Regierungschefs am Ende dieser Woche dann tatsächlich entscheiden werden, kann man erst im Lichte der Entwicklung in den nächsten Tagen wirklich sehen. Es kann ja durchaus sein, dass diplomatische Bemühungen noch Erfolge zeitigen. Heute kann ich nur sagen: Der Vorschlag der Kommission ist ein vernünftiger Vorschlag, auf den sich alle sollten einigen können, zumal der Vorschlag der Kommission ja eine politische Tatsache voll in Rechnung stellt: Niemand in der Europäischen Union ist bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen, den Verhandlungsprozess mit der Türkei jetzt abzubrechen oder zum Scheitern zu bringen. Niemand will das. Ich sehe niemanden, der sagt: "Wir machen jetzt Schluss!" Also muss ein Weg gefunden werden, wie wir den Prozess lebendig halten, aber gleichzeitig der Türkei auch klarmachen, dass wir von ihr erwarten, die eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen.
Ganz langfristig betrachtet, ist eines klar: Es wird und kann keinen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geben - niemals, zu keiner Zeit - ohne eine gleichzeitige Lösung der Zypernfrage. Das ist auch jedermann in der Türkei bewusst, dass diese Fragen untrennbar miteinander zusammenhängen, weil eben - leider - die Türkei in den entscheidenden Jahren zwischen 1999 und 2003 den richtigen Zeitpunkt verpasst hat, die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen, die nachträglich unterstützt worden sind von der Europäischen Union, mitzutragen.
Finthammer: Aber es waren die griechischen Zyprioten, die damals in einem Votum das abgelehnt haben.
Verheugen: Am Ende, das war im Jahr 2004. Und es hätte natürlich viel früher zu einer Verständigung kommen müssen. Ich bin hier, wie ich hoffe, ein unverdächtiger Zeuge, ich habe mit diesen Fragen ja jahrelang zu tun gehabt. Es ist eben so gewesen, dass auf der türkisch-zypriotischen Seite und auf der türkischen Seite jahrelang keine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft bestand. Und dadurch ist der richtige Zeitpunkt verpasst worden.
Finthammer: War es vor diesem Hintergrund nicht ein strategischer Fehler, den Beitritt Zyperns so früh einzuleiten und quasi damit auch eine Quelle für die jetzigen Schwierigkeiten zu legen?
Verheugen: Ja, das ist eine wirklich spannende Frage. Zunächst muss man wissen, dass Zypern als Beitrittskandidat bereits im Jahre 1995 anerkannt worden ist, also lange, bevor die jetzige große Erweiterungsrunde überhaupt in Gang kam. Und das war die Konzession, die damals verlangt wurde, um die Zollunion mit der Türkei zustande zu bringen, die so dringend gewünscht war. Also, Zypern war bereits ein Beitrittskandidat, als der große Erweiterungsprozess überhaupt begann. Das ist doch vollkommen unmöglich, eine Beitrittsrunde zu starten, ohne dass Zypern dabei war. Es wäre auch niemals ein Beitrittsvertrag mit den mittel- und osteuropäischen Staaten ratifiziert worden - jedenfalls nicht in allen Mitgliedsländern -, wenn nicht Zypern in der ersten Runde mit dabei gewesen wäre.
Also denke ich, war die Entscheidung richtig, die Optionen offen zu halten und die Frage der Zukunft der mittel- und osteuropäischen Staaten nicht abhängig zu machen von der Lösung der Zypernfrage. Wenn wir damals die Politik nicht geändert hätten, hätte das Schicksal Polens, Ungarns der Tschechischen Republik und aller dieser anderen Länder in den Händen von Herrn Denktasch gelegen. Und das konnte ja niemand ernsthaft wollen.
Finthammer: Trotz aller gegenwärtigen Unübersichtlichkeiten - mit welcher Entscheidung rechnen Sie im Laufe dieser Woche?
Verheugen: Ich kann mich jetzt in diesem Augenblick, weil so viel noch im Fluss ist, nicht einlassen auf eine konkrete Prognose, wie viele Kapitel und wie lange und was auch immer. Was ich aber glaube mit Sicherheit sagen zu können ist, dass der Europäische Rat eine Lösung finden wird, die einerseits ein deutliches Signal ist an die Türkei: Ihr müsst eure eingegangenen Verpflichtungen erfüllen, andererseits aber auch klar macht: Wir wollen diesen Prozess weiter führen und ihn nicht abbrechen.
Finthammer: Herr Verheugen, schauen wir mal auf ein anderes Thema. In drei Wochen übernimmt die deutsche Bundesregierung das Ruder in der Europäischen Union. Welche Erwartungen haben Sie an die deutsche Präsidentschaft?
Verheugen: Wie jedermann in Brüssel und offenbar in ganz Europa habe auch ich sehr hohe Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft. Im Grunde erwartet jeder, dass Deutschland wieder frischen Wind in den Prozess der europäischen Einigung bringt und dass die steckengebliebenen Prozesse wieder in Gang kommen. Ich habe die Hoffnung, dass es Deutschland gelingen wird, die Frage der Reform der Europäischen Union, also die Verfassungsfrage, wieder in Gang zu setzen. Ich bin sicher, dass Deutschland eine Menge tun wird, um die Wachstums- und Beschäftigungspolitik der Europäischen Union voran zu bringen und bin sicher, dass unter der deutschen Präsidentschaft wichtige Schritte getan werden, um zu einer gemeinsamen europäischen Politik gegen den Klimawandel und zur Vermeidung der globalen Umweltrisiken zu kommen. Und das heißt eben in diesem Zusammenhang, die Frage unserer künftigen Energiepolitik zu behandeln. Das wird alles geschehen und mein besonderes Leib- und Magenthema, der Bürokratieabbau in Europa, wird durch die deutsche Präsidentschaft mit Sicherheit stark gefördert werden, weil es ja auch eine Priorität der deutschen Regierung ist.
Finthammer: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ja die Wiederbelebung der europäischen Verfassungsfrage zu einem zentralen Thema erhoben. Sie haben es gerade auch an erster Stelle genannt. Was kann denn die deutsche Präsidentschaft da überhaupt im Hinblick auf die Verfassung bewegen? Da bleibt ja ob der Wahl in Frankreich nur ein wirklich kleines Zeitfenster. Viel Zeit, um wirklich grundsätzliche Pflöcke einzurammen, bleibt doch wirklich nicht.
Verheugen: Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die politischen Voraussetzungen, den Prozess wieder in Gang zu bringen, sogar günstig sind. Denn wer auch immer der nächste französische Präsident oder die nächste französische Präsidentin sein wird, muss ein ganz starkes Interesse haben, Frankreich wieder in das Zentrum der europäischen Politik zu bringen und aus der Randlage heraus zu führen, in die Frankreich geraten ist durch das Scheitern des Volksentscheids über die Verfassung. Also, ich glaube, dass es ein massives französisches Interesse gibt, zusammen mit Deutschland wieder in die Lage zu kommen, Kurs und Richtung der europäischen Politik entscheidend mit zu gestalten. Das ist die eine Seite.
Und was Deutschland tun kann: Deutschland kann nicht in den wenigen Wochen, die dafür zur Verfügung stehen, einen neuen Text erarbeiten und verabschieden lassen. Das erwartet auch niemand. Aber was erreichbar ist, ist eine Verständigung zwischen den Beteiligten darüber, was man jetzt regeln will, wie man es regeln will und wann man es regeln will. Denn ganz wichtig ist ja, dass die notwendigen institutionellen Reformen der Europäischen Union so in Kraft treten, dass sie im Jahre 2009 wirksam sind.
Ich will ein einziges Beispiel sagen: Wir können keinen Tag länger mehr warten, ohne das in der Europäischen Verfassung vorgesehene Instrument der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen. Wir brauchen diesen europäischen Außenminister dringender denn je. Die Erwartungen an Europa, die aus der ganzen Welt an uns gerichtet werden, werden praktisch von Tag zu Tag größer, und wir haben keine angemessene Möglichkeit, darauf zu reagieren.
Finthammer: Letztlich geht es ja darum, ob die Ratifizierung weiter fortgesetzt werden sollte, das finnische Parlament hat es gerade in dieser Woche erst getan und die Verfassung angenommen, oder ob ein neuer Vertrag, etwa ein Mini-Vertrag, entwickelt werden sollte. Welches Szenario halten Sie denn da für wahrscheinlich? Wird die Ratifizierung weiter gehen oder wird man sich - der Vorschlag des französischen Innenministers Sarkozy liegt ja auf dem Tisch - möglicherweise auf einen neuen Mini-Vertrag konzentrieren?
Verheugen: Die Frage lässt sich jetzt wirklich nicht beantworten. Das ist ja genau das, was während der deutschen Präsidentschaft geklärt werden muss. Und deshalb lässt sich jetzt auch nicht die Frage beantworten, ob gegebenenfalls der gesamte Ratifizierungsprozess noch einmal neu anfangen muss. Ich kann hier nur eine Mindestanforderung stellen, und die Mindestanforderung lautet: Wir brauchen einen neuen Vertrag. Wir brauchen einen besseren Vertrag, und dieser Vertrag muss das enthalten, was in dem Verfassungsentwurf an neuen Elementen der Vertiefung der europäischen Integration vorgesehen war. Wir können auf nichts verzichten, was dort vorgesehen war. Also, wir sollten nicht in die Situation kommen, in der wir über Verfassungsminus reden, sondern allenfalls Verfassungsplus. Nun weiß ich allerdings, dass das eine sehr weitgehende Forderung ist und vielleicht im Augenblick nicht besonders realistisch, aber festhalten an dem, was bereits vereinbart war, das sollte man in jedem Fall.
Finthammer: Kommissionspräsident Manuel Barroso und mit ihm andere hoffen ja auf die Berliner Erklärung im März zur 50-Jahr-Feier der Römischen Verträge. Berlin soll quasi ein Symbol sein für das neue Europa, für die Vereinigung und Erweiterung nach dem Fall der Mauer. Diese Feierlichkeiten sollen ja auch ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl demonstrieren und ein Weckruf für den Verfassungsprozess sein. Ist das nicht eher die Autosuggestion, mit der sich Politiker motivieren?
Verheugen: Nein, das glaube ich nicht. Also, ich halte diesen politischen Aufbau für sehr elegant und auch sehr erfolgversprechend. Es hängt natürlich davon ab, wie inhaltsreich diese Berliner Erklärung wird. Also nur eine Sammlung von Worthülsen, das ist nicht geplant. Das will die Bundeskanzlerin ganz bestimmt nicht, sondern sie will eine Erklärung mit Substanz, eine Selbstverpflichtung der europäischen Staats- und Regierungschefs, der Kommission und des Parlamentes, für weitere Fortschritte in der europäischen Integration zu sorgen. Und das ist dann, wie ich finde, ein sehr guter Anknüpfungspunkt für das, was im Juni geschehen muss, nämlich die Verständigung über den Fahrplan für diese Reformen.
Finthammer: Aber ist es nicht ein wenig überhöht, auch angesichts der vielen "lame ducks" im europäischen politischen Geschäft - in Frankreich wird gewählt, Großbritanniens Regierungschef steht vor dem Regierungswechsel, vor dem Rücktritt, in elf Ländern in der Europäischen Union wird im kommenden Jahr gewählt. Wer soll denn da diese Positionen stark machen und präzisieren? Nur Angela Merkel?
Verheugen: Also, wir werden uns daran gewöhnen müssen, bei einer Union mit 27 Mitgliedern und vielleicht eines Tages noch mehr, dass immer irgendwo gewählt wird. Das wird ein Normalzustand sein, und der darf die europäischen Prozesse nicht aufhalten. Und ich nehme ohnehin war, mit großem Interesse und mit Befriedigung, dass es viel leichter ist auf der europäischen Ebene, langfristige Strategien und eine langfristige Politik durchzuhalten, als auf der nationalen. Ich glaube nicht, dass für die Regierungschefs, die Sie gerade angesprochen haben, ein Problem darin besteht, sich noch einmal klar und deutlich für ihr Land zur europäischen Einigung zu bekennen.
Finthammer: Am kommenden 1. Januar bekommt die Gemeinschaft zwei neue Mitglieder, Rumänien und Bulgarien. Ihr Kollegenkreis wird dann insgesamt 27 Kommissare umfassen. Kann man da eigentlich überhaupt noch von einer handlungsfähigen Kommission sprechen?
Verheugen: Es hat sich herausgestellt nach der Erweiterung des Jahres 2004, dass die Handlungsfähigkeit der Kommission durch die Vergrößerung nicht beeinträchtigt wird. Sicher sind die Verfahren jetzt manchmal etwas komplizierter und dauern etwas länger, aber das ist politisch handhabbar. Grundsätzlich gilt aber, dass mit dem 27. Beitritt, und der wird am 1. Januar erfolgen, die Kommissionen verkleinert werden sollen. Das ist ja im jetzt gültigen Vertrag enthalten. Da muss man sich aber noch drüber verständigen, wie das geschehen soll. Wenn die Bestimmungen aus dem Verfassungsentwurf in Kraft treten sollten, wenn man darauf zurückgreift, dann würde es heißen, dass wir ab 2009 eine Kommission hätten, deren Mitgliederzahl zwei Drittel der Zahl der Mitgliedsstaaten ist. Also bei 27 Mitgliedsstaaten hätten wir dann 18 Kommissare, und das nach dem Grundsatz einer gleichberechtigten Rotation.
Damit das jeder versteht, das heißt, dass jedes Mitgliedsland in jeder dritten Kommission nicht vertreten wäre, auch Deutschland. Das ist die Regelung, die in der Verfassung gefunden wurde. Ob die in Kraft tritt, hängt jetzt davon ab, auf was man sich im Juni einigt und was das Ergebnis dieser Gespräche ist. Ich selber muss sagen, dass ich an dieser Stelle eine gewisse Skepsis habe. Ich frage mich wirklich, ob wir sicher sein können, dass die Politik und die Entscheidungen der Kommission wirklich die Autorität und die Legitimität überall in Europa haben werden, wenn in jeder Kommission zwei große Mitgliedsländer nicht vertreten sind. Es sind ja immer zwei große, die da nicht vertreten werden. Ich mache an dieser Stelle ein Fragezeichen, wenigstens das.
Finthammer: Aktuell hat die Kommission ein großes Imageproblem. Einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach unter Unternehmensführern zufolge haben sieben von zehn Befragten kein großes oder gar kein Vertrauen in die Arbeit der Kommission, ein Defizit, das sich, glaube ich, schwer aufholen lässt.
Verheugen: Das überrascht mich aber jetzt wirklich sehr, denn meine Erfahrung ist eigentlich ganz anders. Meine Aufgabe bringt es ja mit sich, dass ich sehr intensive Kontakte gerade mit europäischen Unternehmen und Unternehmern habe, und da nehme ich eher wahr, dass sie größere Hoffnungen setzen auf die Kommission als auf nationale Regierungen. Das Imageproblem ist nicht eines der Kommission allein. Das kann ich nicht bestreiten, dass es existiert. Es ist ein Imageproblem der europäischen Einigung insgesamt, die, glaube ich, in den Augen vieler Menschen zu technisch, zu kalt und zu bürokratisch geworden ist. Und das ist ja einer der Gründe, warum ich mit so großem Nachdruck dafür kämpfe, dass Bürokratieabbau und Rechtsvereinfachung ein Hauptthema der europäischen Politik bleibt.
Finthammer: Es ist ja noch nicht allzu lange her, da haben Sie mit Ihrer Beamtenschelte für große Unruhe in der Kommission gesorgt. Hat Ihnen der Vorstoß irgend etwas gebracht? Vom geforderten Paradigmenwechsel ist ja doch weit und breit noch nicht viel zu spüren. Und nach der Aufregung im Oktober wird das Thema jetzt doch geradezu totgeschwiegen.
Verheugen: Nein, ganz im Gegenteil. Also, seit diesem Paukenschlag weiß jeder in der Kommission, dass der Bürokratieabbau und die Rechtsvereinfachung ein zentrales Projekt der Barroso-Kommission sind und ich sehe seitdem auch, dass die von mir beklagten Verzögerungen abgearbeitet werden. Die Kommission hat erst vor wenigen Tagen ganz weitreichende Beschlüsse gefasst, was den Bürokratieabbau und die Rechtsvereinfachung angeht, bis hin zu dem Ziel, innerhalb der nächsten Jahre die auf europäischen Unternehmen lastenden Bürokratiekosten um 25 Prozent zu senken. Ich habe alles erreicht, was ich erreichen wollte in dieser Frage. Das politische Design des Projekts Bürokratieabbau in Europa ist fertig, und wir befinden uns jetzt bereits im Stadium der Verwirklichung.
Hier muss ich allerdings sagen, dass ich große Erwartungen und Hoffnungen setze auf die deutsche Präsidentschaft, denn das Ganze kann ja nur funktionieren, wenn es im Zusammenwirken der europäischen Institutionen mit den Mitgliedsstaaten geschieht. Denn die Bürokratie entsteht ja nicht allein durch die Brüsseler Regelungen. Die Bürokratie entsteht ja durch die Kombination. Nein, ich kann wirklich sagen, dass der ganze Prozess jetzt Schwung gewonnen hat und dass es jetzt wirklich gut voran geht.
Finthammer: Aber da möchte ich Sie auch mit einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach konfrontieren, die genau dieses Konzept des Bürokratieabbaus unter Unternehmensführern abgefragt haben. Und danach halten das zumindest in Deutschland neun von zehn Unternehmensführern für ein leeres Versprechen.
Verheugen: Wenn diese Umfrage wirklich realistisch sein sollte, dann ist sie für mich nur ein weiterer Ansporn, die Anstrengungen zu verstärken und die deutschen Unternehmen und Unternehmer davon zu überzeugen, dass es diesmal nicht ein Projekt ist, das irgendwelchen Beamten überlassen wird, sondern dass es ein Projekt ist, das unter politischer Führung und politischer Kontrolle wirklich voran getrieben wird. Also, ich würde mal vorschlagen, dass wir eine Bilanz ziehen am Ende des Jahres 2009. Und ich sage Ihnen heute voraus, diese Bilanz wird gut sein.
Finthammer: Sie haben jüngst in einem Interview gesagt, die Kommission müsse wieder mehr über Verordnungen regieren, die anders als die üblichen Rahmenrichtlinien in der ganzen EU sofortige Rechtskraft erlangen. Das wäre doch eine Rückkehr zum Brüsseler Zentralismus, den viele in den letzten Jahren so fürchterlich fürchten.
Verheugen: Ich habe das bezogen auf die Regelungen, die den Binnenmarkt betreffen. Es geht hier nur um den Binnenmarkt. Wir müssen feststellen, dass das Instrument einer Richtlinie, was Binnenmarktregelungen angeht, Probleme schafft, weil wir nicht sicherstellen können, dass in der jeweiligen nationalen Umsetzung nicht unterschiedliche Regelungen getroffen werden, die Handelshemmnisse schaffen. Wir haben Tausende solcher Handelshemmnisse, und deshalb glaube ich, dass in Bezug auf den Binnenmarkt die direktwirksame Verordnung der bessere Weg ist - übrigens auch ein großer Beitrag zur Vereinfachung, weil dadurch eine große Zahl von nationalen Regelungen überflüssig wird.
Finthammer: Ist da in diesem Jahr noch etwas zu erwarten von Ihnen?
Verheugen: Wir brauchen, was die Neuordnung des Binnenmarktes angeht, zwei Regelungen, an denen ich arbeite und die in den nächsten Wochen noch vorgelegt werden. Es geht einmal darum, immer noch bestehende und nach unserer Überzeugung vertragswidrige Hindernisse im harmonisierten Bereich abzubauen, und zum anderen geht es darum, im nichtharmonisierten Bereich ein Verfahren zu finden, das es den Mitgliedsländern nicht erlaubt, durch die Hintertür ihren nationalen Interessen gegenüber anderen Vorrang zu geben.
Finthammer: Herr Verheugen, in der deutschen Presse sind in den letzten Tagen wieder Meldungen aufgetaucht von neuen kompromittierenden Fotos, die Sie mit Ihrer Kabinettsleiterin Frau Erler zeigen würden, und es gibt die Kritik, dass Sie als Kommissar den Ehrenkodex des Kommissars verletzt hätten. Was sagen Sie dazu?
Verheugen: Ich werde den deutschen Boulevardmedien nicht den Gefallen tun, zu einer rein privaten Angelegenheit öffentlich auch nur ein einziges Wort zu sagen.