Benedikt Schulz: In Bayern ist jetzt ein Verbot der Gesichtsverschleierung in Kraft getreten – landläufig als Burka-Verbot bezeichnet, obwohl das irreführend oder mindestens ungenau ist. In Teilen des öffentlichen Lebens, im öffentlichen Dienst, an Hochschulen, in Kindergärten und auch in Wahllokalen ist die Verschleierung des Gesichts in Bayern nun untersagt. Die kulturelle Praxis, dass Teile des Körpers, vor allem das Haar, verdeckt werden, ist alles andere als ein islamisches Phänomen. Das hat eine Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin eindrücklich gezeigt, "Cherchez la femme" heißt sie. Sie ist wegen des großen Andrangs noch einmal verlängert worden. Über Verschleierungsverbote oder Enthüllungsgebote spreche ich jetzt mit der Kuratorin der Ausstellung, Miriam Goldmann.
Ich habe ja gerade von einer kulturellen Praxis gesprochen – und darum handelt es sich ja ursprünglich, was für ein Sinn steckt hinter dieser Praxis? Welchen Ursprung hat sie?
Miriam Goldmann: Die Praxis geht zurück auf das zweite Jahrtausend vor der Zeitenwende und stammt aus den mittelassyrischen Gesetzen. Das ist das Zweistromland, das Gebiet des heutigen Irak. Dort wurde per Gesetz festgelegt, dass Frauen, wenn sie den öffentlichen Raum betreten – Straßen oder Plätze - , sich das Haupt zu bedecken haben, wenn sie einem bestimmten Stand angehören. Anderen Frauen, den Sklavinnen oder Prostituierten, war es gesetzlich untersagt, sich das Haupt zu bedecken. Das heißt, es handelt sich um eine soziale Kennzeichnung. Die Frauen, die diesen Schleier tragen könnnen, sind durch den erkennbaren Zusammenhang zu diesen Familien, die der Oberschicht angehörten, geschützt durch diese Familienzugehörigkeit, und die anderen Frauen waren ganz klar nicht geschützt vor Übergriffen.
"Diese Gesetze sind von Männern ausgelegt worden"
Schulz: Wie ist aus diesem kulturellen Phänomen, einem sozialen Distinktionsmerkmal, eine religiöse Praxis und auch eine religiöse Vorschrift geworden?
Goldmann: Das hat sich verbreitet. Man muss sich klar machen, dass im Mittelmeerraum um 500 nach Christus alle Frauen verhüllt waren. Das war Usus. Das war allgemein gültig, das haben alle gemacht. Natürlich hat das auch mit Wetter und Mode zu tun, aber es hat auch diesen sozialen Faktor. Dann haben es die Religionen nach und nach übernommen, wobei das Interessante ist, dass es in keiner Religion – weder im Judentum noch im Islam – zu den zwingend auszuführenden religiösen Gesetzen gehört. Es ist ein Brauch.
Schulz: Und dennoch hat sich gerade in einer Neuzeit eine Rigorosität in diesem Punkt entwickelt. Wie wurde daraus ein Zwang?
Goldmann: Das liegt an der Auslegung der Gesetze. Religionen entwickeln sich weiter. Es gibt sowohl im Judentum als auch im Islam eine Tradition der Rechtsgelehrten. Die diskutieren über die Gesetze und legen sie weiter aus. Da hat eine Festschreibung stattgefunden in beiden Religionen, dass das sehr wünschenswert ist, dass Frauen das machen. Diese Gesetze sind von Männern ausgelegt und festgeschrieben worden. Sie sind in beiden Religionen immer restriktiver geworden. Wichtig dabei zu bedenken ist, dass für die religiösen Menschen diese Auslegung der Rechtslehre als bindend empfunden wird. Es ist eine kulturelle Norm, die als Verpflichtung empfunden wird von religiösen Menschen.
Schulz: Wenn nun in westlichen Gesellschaften Enthüllungsgebote formuliert werden, welche psychologischen Wirkungen hat das auf Menschen, die bisher geglaubt haben, sie müssten sich verhüllen?
Goldmann: Das kann man sich als jemand, der sich nicht verhüllt, nur ungefähr vorstellen. Es ist natürlich ein Zwang. Sie (die Betroffnen) empfinden es als Verlust ihrer Privatsphäre, wenn sie sich öffentlich anders zeigen müssen, als sie wollen, unbedeckter. Und es fehlt die Entscheidungsgewalt. Man möchte selbst entscheiden, was man anzieht oder nicht. Insofern wird das als unangenehm empfunden.
Großes Interesse an der Ausstellung
Schulz: Ihre Ausstellung wurde jetzt nochmal verlängert. Offenbar gibt es ein Interesse daran, an einer differenzierten Sichtweise zum Thema Verschleierung – angesichts der vielen auch so heftig geführten Debatten über das sogenannte Burkaverbot. Wundert Sie das?
Goldmann: Ich verstehe das Interesse an der Ausstellung insofern, als deutlich wird, dass wir ein aktuelles Thema gefunden haben, über das sich Besucher gern informieren. Wir beziehen uns zwar auf die Ursprünge, aber wir springen dann in die Gegenwart und zeigen das, was heute in Deutschland getragen wird. Wir müssen ein bisschen ausgreifen, sonst können wir dem Thema nicht gerecht werden. Nicht alles wird in Deutschland getragen. Wir zeigen auch einen Tschador, obwohl der in Deutschland sehr selten zu finden ist. Auch die Burka – weiß man ja – ist nicht sehr präsent. Wir zeigen sie, weil sie in dieses Diskussionsfeld gehört. Menschen informieren sich gern darüber und offensichtlich freuen sich Besucher darüber, etwas zu sehen, das so sehr gerade im Gespräch ist.
Schulz: Erreichen Sie auch Menschen, die ein Verschleierungsverbot fordern?
Goldmann: Doch, ja. Es gibt Besucher, die sich wünschen, dass wir noch dezidierter Stellung bezogen hätten gegen die religiöse Kopfbedeckung bei Musliminnen. Als kulturhistorisches Museum tragen wir natürlich das Verständnis für religiöse Bräuche anderer Kulturen in uns drin, das ist Teil unseres Systems. Das respektieren wir. Es ist sehr deutlich geworden bei dieser Arbeit: Man muss stark unterscheiden, für welche Region man spricht. Sprechen wir nur über Deutschland? Vergessen wir, dass in anderen Regionen der Welt Frauen überhaupt nicht die Wahl haben, sich gegen den Hijab, gegen eine religiöse Verschleierung zu entscheiden? In Deutschland haben wir dieses Luxusproblem, dass die meisten fragen: Dürfen sie sich verschleiern oder nicht? Es ist ganz anders gedreht. Wir versuchen in der Ausstellung darzustellen, wie schwierig es ist, eine Position zu finden. Aber erst einmal zeigen wir, wo diese Positionen sind.
"Wir sind daran gewöhnt, die Mimik des Gegenübers zu deuten"
Schulz: In Bayern wird das Verschleierungsverbot nur wenige Personen konkret betreffen. Aber trotzdem: Welches Signal sendet das aus?
Goldmann: Man muss bei diesen Kopfbedeckungen sehr unterscheiden. Wenn es um den Gesichtsschleier geht, das heißt, man sieht das Gesicht des Vis-a-Vis kaum oder nur schemenhaft oder nur die Augen wie beim Nikab, dann ist das etwas, was unserer Kultur sehr fremd ist. Wir sind im Diskurs gewohnt, die Mimik des Gesprächspartners zu sehen und zu deuten. Das fließt in den Gesprächsverlauf mit ein unbewusst. Wenn wir uns am Telefon unterhalten, dann ist es anders. Dann spitzt man die Ohren, dann kommt es mehr auf die Stimmlagen an. Das ist aber nicht das Gleiche wie eine Situation, in der man sich gegenübersteht. Das finde ich gehört zu unserer Kultur in Deutschland dazu. Ich finde es richtig, dass diese Möglichkeit erhalten bleibt, dass man sich sicher sein kann, das Vis-a-Vis immer zu sehen. Sprechen wir nur über das Bedecken der Haare, kann ich aber das Gesicht weiter sehen, kann ich das ganz anders bewerten.