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Verkappte Anthologie von sozialgeschichtlichen Essays

Als junger Historiker beschäftigte er sich intensiv mit dem amerikanischen Imperialismus. Vier Jahrzehnte später formulierte er Thesen gegen einen Beitritt der Türkei zur EU. Hans-Ulrich Wehler scheute nie die Auseinandersetzung , engagierte sich im Historikerstreit, schlägt immer wieder auch polemische Töne an. Entsprechend kritisch die Resonanz auf Wehlers "Deutsche Gesellschaftsgeschichte". Band 5 behandelt die beiden deutschen Teilstaaten BRD und DDR von ihrer Gründung 1949 bis zum Untergang der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1990. Eine Rezension von Holger Afflerbach.

Eine Rezension von Holger Afflerbach |
    Hans-Ulrich Wehlers abschließender, fünfter Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte hat schon ein umfassendes Medienecho hervorgerufen - und dabei nicht gut abgeschnitten. Das Buch wurde wegen seiner Unlesbarkeit und der Autor wegen seiner polemischen Arroganz scharf kritisiert.

    Die Kritiker haben in vielen Punkten Recht. Trotzdem ist dies ein wichtiges Buch, das seine Fehler, aber auch seine Meriten hat.
    Wehler verweigert sich dem Erzählen; das gilt zumindest für den großen Rahmen seiner Gesellschaftsgeschichte. Er teilt den Stoff in vier große Bereiche auf, in die von Max Weber inspirierte Gliederung von Wirtschaft, sozialer Ungleichheit, politischer Herrschaft und Kultur. In der Praxis führt das zu einer geradezu hoffnungslosen Fraktionierung, einem thematischen Durcheinander, einem Doppelterzählen, einem Zerhacken von Zusammenhängen, einem pausenlosen Querverweisen, das das Lesen des gesamten Buches nur dem selbstdisziplinierten Asketen möglich macht.
    Wehlers Gesellschaftsgeschichte ist theorie- und thesenorientiert. Dies war schon bei den Vorgängerbänden so. Beispielsweise hat er in Band IV Hitler und dessen politische Erfolge mit dem Charisma-Modell Max Webers zu erklären versucht. Der neue Band über die Nachkriegszeit hat zwar kein allumspannendes Erklärungsmodell, dafür aber einige deftig gehaltene Kernaussagen.

    Eine von ihnen ist seine gnadenlose Abrechnung mit der Geschichte der DDR, die für ihn eine Fußnote der Weltgeschichte ist.
    Der DDR verleiht er Attribute, neben denen das altvertraute "SBZ" fast wie ein Kompliment klingt. Er nennt sie "sowjetische Satrapie", spricht vom "DDR Sultanismus" oder vom alles regulieren wollenden Polizei- und "Krakenstaat".

    Das gerontokratische, aus der NS-Vergangenheit "pathologisch lernende" und innerlich unsichere Regime versuchte, so Wehler, sich durch die Bespitzelung und Überwachung seiner Bürger durch eine maßlos aufgeblähte Geheimpolizei an der Macht zu halten.

    "In einem Land mit gut 16 Millionen Einwohnern entfielen auf je 60 von ihnen ein staatlicher Bewacher oder getarnter Spitzel. In der Honecker-Ära berichteten insgesamt 500.000 IM über ihre Berufskollegen, Nachbarn und Ehepartner.."."

    Die SED-Führung versuchte gleichzeitig, um ihre Legitimation zu verbessern, den Bürgern dürftige und trotzdem nicht finanzierbare patriarchalische Wohlfahrtsleistungen anzubieten. Rücksichtslose Ausbeutung der Bevölkerung, Zerstörung der Umwelt und hoffnungslose Verschuldung waren die Folgen des wirtschaftlichen und politischen Versagens. Nicht einmal die Bürgerrechtler von 1989 kommen bei Wehler gut weg. Er lobt zwar ihre Courage, bemängelt aber die Welt- und Machtfremdheit, mit der sie etwa die Eigenstaatlichkeit einer reformierten DDR beibehalten oder später ein nicht finanzierbares Recht auf Arbeit in die Zukunft des vereinten Deutschland hinüberretten wollten.

    Anders, zwar nicht unkritisch, aber doch mit spürbarer Zustimmung und fast mit Stolz, widmet sich Wehler der Bundesrepublik.

    ",,Insofern hebt sich die erstaunliche Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik vor dieser Folie (der DDR Geschichte) um so heller ab. (Ihr Aufstieg) demonstriert überdies, dass sich selbst die Folgen des fatalen Absturzes nach einem Zivilisationsbruch ( ... ) korrigieren, in mancher Hinsicht sogar überwinden ließen."

    Den westdeutschen Erfolg sieht Wehler in engem Zusammenhang mit einem gewaltigen Wirtschaftsaufschwung, der spätestens mit dem Koreakrieg begann und 1973 endete. Er trommelt auf der Tatsache herum, dass auch die Bundesrepublik immer noch eine Klassengesellschaft sei, und kann dies mit einer Flut von Zahlen untermauern. Soziale Ungleichheit und ihre Folgen sind für ihn in allen Bänden dieser Gesellschaftsgeschichte ein Motor der geschichtlichen Entwicklung. Auch in der Bundesrepublik sieht er Ungleichheit und Klassenschranken. Der gewaltig gestiegene Wohlstand habe sich zwar auch auf die unteren Klassen ausgewirkt, aber deren Abstand zur Oberschicht sei dadurch nicht verringert worden. Den Sozialstaat sieht Wehler kritisch, zumindest in seiner Übersteigerung.

    Überspitzt gesagt, könnte man Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte als verkappte Anthologie von sozialgeschichtlichen Essays zur west- und ostdeutschen Zeitgeschichte bezeichnen, die irgendwie lose miteinander zusammenhängen. Wie sind sie geschrieben? Wehler hat einen kraftvollen polemischen Stil, ist aber kein Sprachartist.

    Normalerweise versuchen Historiker, Tacitus Motto des sine ira et studio ernst zu nehmen und sich um möglichst große Objektivität zu bemühen, um Verstehen und Ausgewogenheit. Nicht so Wehler, der ein durch und durch polemischer Geist ist, wie diese Kostprobe belegt:

    "Seit dem Sklavenhandel früherer Zeiten hatte man ein derart zynisches und geldgieriges Verhalten, wie es die deutschen Kommunisten jahrelang praktizierten, nicht mehr erlebt."

    Auch in anderem Zusammenhang formuliert Wehler nicht eben zurückhaltend, so etwa, wenn er muslimischen Radikalismus geißelt:

    "Seit den 1990er Jahren verkörpert der militante Islamismus eine "politische Pest", wie sie das kurze 20 Jahrhundert in der Gestalt des Nationalsozialismus und des Bolschewismus erlebt hat."

    Unabhängig von der Frage, ob diese Formulierungen sachlich den Kern treffen: Dieser Stil erinnert an die Historiker des 19. Jahrhunderts, etwa Treitschke, die mit kaum zu überbietender Verächtlichkeit über Figuren der Vergangenheit richteten. Wehler schreibt mit leidenschaftlicher Arroganz - und er ist ein Überzeugungstäter. Und darin liegt das, was man an Wehler, neben seinem besessenen Fleiß, bewundernswert finden kann. Wehler ist nicht ein mumifizierter Historiker, für den Geschichte eine antiquarische Pflicht darstellt, sondern er hält Geschichtsdeutung für gegenwartsrelevant.

    Ein letzter Punkt: Wehler ist ein Wissenschaftsdarwinist. Eine seiner Lieblingswendungen ist es festzustellen, dass ein System oder Ansatz "überlegen" sei und sich deshalb durchsetze. Gleichzeitig hält Wehler über zwanzig Jahre, fünf Bände und 3.000 Seiten an seiner eigenen Struktur fest, obwohl die Kritik daran von Band zu Band zugenommen hat. Zuletzt wurde übermächtig kritisiert, dass die Kulturinhalte hoffnungslos zu kurz kommen. Wehler zählt Verlage, Zeitungen und Rotationsmaschinen auf; analysiert, wie viele Studenten und Universitäten es gab; aber was dort gedruckt, über was da diskutiert wurde; was die Zeitgenossen bewegte, erfährt man nur im Ausnahmefall.

    Ihm sei zugutezuhalten, dass er sicherlich nicht, im letzten von fünf Bänden, seine Methode vollständig umwerfen kann. Aber es spricht doch von einer gewissen Unflexibilität, derart sklavisch an seinem althergebrachten Weber-Wehler-Schema zu kleben.

    Dabei liegt das Gegenmodell seit Jahrzehnten vor. Die Herangehensweise und Struktur, die Thomas Nipperdey entwickelt hatte, um seine beiden Bände über das Kaiserreich zu schreiben, sind in der Lage, alle Fragen zu beantworten, mit denen Wehler sich in seiner Gesellschaftsgeschichte beschäftigte, und darüber hinaus auch jene, die wir bei ihm vermissen. Das ist der Maßstab, dem sich Wehler hätte stellen müssen.

    Allerdings heißt dies, zwei Titanen der Geschichtsschreibung miteinander zu vergleichen. Denn Wehler ist mit all seinen ärgerlichen Schwächen immer noch anregender und gedankenreicher als fast alle anderen seiner Zunft. Nichts zeigt dies besser als die lebhafte öffentliche Debatte über sein letztes Buch.