Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind blind, wollen die Straße überqueren, hören aufmerksam nach links und rechts – nichts – und gehen los. Dabei ist wenige Meter entfernt ein Elektroauto unterwegs. Es kommt zum Unfall mit tödlichem Ausgang. So häufig passiert in den USA. Um das zu vermeiden, müssen neue Stromer und Hybridfahrzeuge künftig ein AVAS an Bord haben, ein akustisches Fahrzeugwarnsystem – auch in Europa und Deutschland.
"Für uns, die sich seit vielen Jahren mit der Geräuschentwicklung von Fahrzeugen beschäftigen, ist das natürlich schon ein Paradoxon, dass wir viele Jahre die Dinge leiser gemacht haben. Und jetzt sind sie offenbar zu leise. Nun gibt es die Vorschrift – und die soll ab Mitte dieses Jahres umgesetzt werden –, dass die neuen Fahrzeuge alle was abstrahlen müssen."
Das sagt Hugo Fastl. Der Psychoakustik-Professor forscht an der Technischen Universität München. Das AVAS besteht aus Lautsprechern, die am Auto eine Sound-Datei abspielen. Aktiviert werden soll das System nur bei niedrigen Geschwindigkeiten: in Amerika bis 30 und in Europa und Deutschland bis 20 Kilometer pro Stunde. Bei höherem Tempo reichen die Reifengeräusche auf der Fahrbahn. Als Klang ist im Prinzip alles möglich, von Musik über das bekannte Rangiergeräusch von Lkws bis hin zum Dieseltuckern.
Allerdings hat die EU bestimmte Regeln vorgegeben, damit der Klang auch ein "Achtung" bei anderen Verkehrsteilnehmern auslöst. Beim Anfahren muss sich der Ton eines Stromers von einer tiefen zu einer höheren Frequenz verändern. Die Tonhöhe muss dabei dreimal nach oben moduliert werden. Im Ergebnis könnte das so klingen (Ton AVAS).
Dieser mittlere Frequenzbereich zwischen 1.600 und 5.000 Hertz ist Hugo Fastl zufolge sinnvoll. Und das aus zwei Gründen:
"Bei den Wiedergabeeinrichtungen geht es um die Physik. Und da ist es so, wenn sie tiefe Signale abstrahlen möchten, dann ist das in der Regel mit großen Abmessungen verbunden. Das heißt, das wird gar nicht so einfach sein, ganz tieffrequente Signale mit Lautsprechern abzustrahlen. Und die ganz hohen Frequenzen wird man auch nicht verwenden, weil insbesondere ältere Menschen die nicht mehr wahrnehmen können."
Rauer Klang oder harmonische Obertöne?
Außerdem schwebt den Verantwortlichen in Brüssel eine bestimmte Lautstärke vor: mindestens 56 Dezibel, also in etwa so laut wie eine Diskussionsrunde, und maximal 75 Dezibel. Das entspricht einem vorbeifahrenden Pkw. Weitere "Zutaten" sind erlaubt, etwa schnell schwankende Lautstärken, die einen rauen Klang vermitteln sollen, oder harmonische Obertöne. An dieser Stelle wird es interessant für die Autobauer, und für Klangdesigner wie Angelo D‘Angelico. Er entwickelt solche Klänge mit seiner Firma Soundspeed.
Angelo D’Angelico: "Es gibt Automobilhersteller, die schon immer einen sportlichen Klang hatten. Und die erwarten sich natürlich weiterhin Energie, Sportlichkeit, Kommunikation. Und es gibt andere Hersteller, für die geht es eher um das Barocke, ein bisschen Gemütliche, das Verweilen. In der ersten Runde wurde da schon einiges probiert, vor allem aus Ingenieurssicht. Das war aber gestalterisch suboptimal, das heißt: Man kann unmöglich eine Marke damit kommunizieren."
Wie "sportlich" klingen könnte, hat Audi im Jahr 2012 demonstriert. Nämlich so (Ton Audi). Wer eine teure Geländelimousine fährt, in diesem Fall einen elektrisch getriebener SUV von Jaguar, ist mit folgendem Sound unterwegs (Ton Jaguar ). Repräsentativ ist auch der Ton eines BMW i3. Der bayerische Autohersteller bietet seit 2013 als Sonderausstattung einen, wie er das nennt, akustischen Fußgängerschutz an. Das System ist aktiv, wenn das Auto Fußgänger passiert. Für neue Fahrzeuge wurde dieser Klang weiterentwickelt. Als weniger gelungen empfindet Angelo D‘Angelico diesen frühen Versuch: Er kommt von Lotus und erinnert ein wenig an das Gurgeln einer Kaffeemaschine (Ton Lotus).
Geheime Klangentwicklung
Wie die Beispiele zeigen, könnte jedes E-Auto künftig anders klingen. Wo die Reise endet, kann auch der Sounddesigner nicht genau sagen. Denn der Markenklang unterliegt der Geheimhaltung und kommt womöglich erst 2020 oder 2021 zum Einsatz. Dass das AVAS in der geplanten Form von Dauer sein wird, glaubt er nicht.
"Im Augenblick sind unsere Überlegungen alle auf eine Welt gemünzt, in der Autos gefahren werden von menschlichen Fahrern. Das ist ja auch nicht absehbar die Zukunft. Also, wenn vier, fünf Autos in der Kolonne vernetzt fahren, wie kommuniziere ich das dem Fußgänger. Das ist eine völlig andere Herausforderung."
Hugo Fastl von der Technischen Universität München hat da schon eine Idee. Er glaubt, dass autonome Fahrzeuge nur dann einen Ton abspielen werden, wenn sie einen Verkehrsteilnehmer via Sensoren detektieren. In dieser Form würde ein AVAS dann nach dem alten Prinzip der Fahrradklingel funktionieren. Egal wie, ob die Geräusche geeignet sind, die Verkehrssicherheit zu erhöhen, wird sich ab dem Sommer zeigen.