"Mir fiel, als ich ihm gegenüber saß, ein Satz von Thomas Mann ein, den er während der nationalsozialistischen Zeit in der Emigration gesagt hat: Wenn das deutsche Volk nach dem Hitler-Regime zusammengebrochen ist, dann wird es ein Jude sein, der zuerst seine Stimme für Deutschland erhebt. Jetzt saß ich ihm gegenüber: Victor Gollancz, der erste, der seine Stimme für Deutschland erhebt, ist Jude."
So heißt es in den Erinnerungen Heinrich Grübers: Doch wer war dieser Mensch, dem der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer gegen Hitler im Frühjahr 1946 in London begegnet war? Victor Gollancz, 1893 in London geboren, stammte aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, seine Vorfahren waren aus Polen nach Großbritannien eingewandert. Er selbst verlegte Bücher, in denen es nicht um Religion, sondern um Sozialismus und Pazifismus ging. 1936 gründete er den Left Book Club. Die zeitweise über 50.000 Mitglieder erhielten Bücher von Arthur Köstler oder George Orwell, aber auch seine eigenen Schriften, in denen er über den Holocaust aufklären wollte. So schrieb er bereits Ende 1942:
"Wir wissen jetzt, dass ein Viertel der gesamten jüdischen Bevölkerung der Erde mit allen Mitteln des Schreckens schändlich ausgerottet ist. Wer wissen will, wie das vor sich ging, der lese diese Stelle aus dem Brief eines polnischen Kindes: 'Nun muss ich euch Lebwohl sagen, morgen kommt Mutter in die Gaskammer, und ich werde in einen Schacht herunter geworfen.'"
Und Gollancz fährt fort und wendet sich damit an die britischen Leser:
"Nein, niemand kann behaupten, er habe nichts gewusst. Und nun frage ich dich selbst: Leser, was hast du dagegen unternommen? Nichts? Warum? Weil du dich nicht genug gekümmert hast! Weil es dich nichts anging!"
Tilman Zülch ist Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker. Die Menschenrechtsorganisation vergibt seit 15 Jahren den Victor-Gollancz-Preis. Er erinnert an die Bedingungslosigkeit, mit der Gollancz seine humanistische Haltung vertrat. Hatte er bis Kriegsende die Verbrechen der Nationalsozialisten angeprangert, so kritisierte er danach die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten in scharfen Worten.
"Da hat er dann gesagt: Sofern das Gewissen der Menschheit jemals wieder empfindlich werden sollte, werden diese Vertreibungen als die unsterbliche Schande aller derer im Gedächtnis bleiben, die sie veranlasst haben oder sich damit abgefunden haben. Die Deutschen wurden vertrieben mit dem denkbar höchsten Maß von Brutalität. Und das im Jahre 1945, wo man diese Vertreibung der Deutschen eigentlich in vielen Kreisen gar nicht so zur Kenntnis genommen hatte."
Bereits kurz nach Kriegsende reiste Gollancz nach Deutschland und war entsetzt über das Ausmaß an Armut und Zerstörung. In einer Rundfunkansprache formulierte er seine Eindrücke auf Deutsch:
"Nichts hat mich mehr betrübt als die Kinder und Jugendlichen, die ich in den Straßen herumwandern und um die Bahnhofsbunker herumsitzen sah."
Einsatz für die leidende Bevölkerung
Zurück in London startete er die Kampagne "Save Europe Now", in deren Rahmen Tausende britischer Bürger Lebensmittelpakete nach Deutschland schickten – zunächst gegen den Willen der Regierung. In der Bundesrepublik erhielt Gollancz viel Anerkennung für seine "prodeutsche Haltung", doch genau darum ging es ihm nicht, machte er in einem Interview 1953 deutlich.
"Ich war niemals mehr prodeutsch als ich profranzösisch, projüdisch, proarabisch oder sonst was war. Ich hasse alles, was pro und anti ist. Ich bin nur eins: Ich bin pro Menschheit."
1960 wurde Gollancz in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In seiner Dankesrede machte er deutlich, dass Hitler der Motor für seinen unermüdlichen Einsatz für die Menschenrechte gewesen sei. Doch die Rede endete mit einem erstaunlichen Bekenntnis:
"Hätte es mehr Güte und Liebe in der Welt gegeben, wäre Hitler vielleicht nicht Hitler geworden; er wurde, was das Leben und die Welt aus ihm gemacht hatten. Ich konnte Hitler nicht hassen. Und deswegen sage ich aus der Tiefe meines Herzens, hier in dieser Halle, die einst eine Kirche war: 'Möge seine gequälte Seele in Frieden ruhen'."
Am 8. Februar 1967 starb Victor Gollancz in London an den Folgen eines Schlaganfalls. In Deutschland verweisen zwar einige Straßennamen auf den britisch-jüdischen Verleger, doch ansonsten sind Denken und Handeln dieses radikalen Menschenfreundes weitgehend in Vergessenheit geraten.