Dina Netz: Werner Heiduczek wuchs in einer katholischen schlesischen Bergarbeiterfamilie auf, Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er als Flakhelfer und zur Wehrmacht eingezogen, geriet in russische Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg arbeitete er als Lehrer, bevor er sich Mitte der 60er-Jahre zu einem Leben als freier Schriftsteller entschloss. Heiduczeks Werk ist umfangreich, umfasst Kinderbücher, Romane, Theaterstücke. 1977 erschien der Roman "Tod am Meer" über die skeptische Lebensbilanz eines Schriftstellers. Das Buch wurde auf Drängen des russischen Botschafters verboten. Und wie so viele Bücher, die man verbietet, wurde auch "Tod am Meer" zum Kultbuch. Bis zum Ende der DDR verlegte sich Heiduczek dann aber auf die Veröffentlichung von Märchen, Sagen und Kinderbüchern. Hören wir Werner Heiduczek, wie er sich 1984 über die Substanz des Schreibens äußerte:
"Meine Beschäftigung mit Eschenbachs ‚Parzival‘ und und Ferdausis ‚Schahname' hat mir deutlich gemacht, woran es vielen unserer Bücher und Theaterstücke mangelt: Alles ästhetische Bemühen ist für den Wind, wo die Substanz fehlt. Denn wo nichts gesagt wird, fehlt letztendlich auch die Sprache."
Werner Heiduczek, 1984. Der Schriftsteller ist jetzt 92-jährig gestorben. Einige Bücher von Heiduczek sind im Verlag Faber und Faber erschienen, nach der Wende gegründet von Elmar und Michael Faber, der in diesem Herbst von Michael Faber wieder aufgelegt wird. Herr Faber, was war denn in Heiduczeks Augen die "Substanz" des Schreibens?
Michael Faber: Ich glaube, dass er sich sehr zeitig von einer literarischen Form distanzieren wollte, einer Selbstverliebtheit in formale, ästhetische Spiele, und dass ihn, den ja auch das Leben sehr gebeutelt hatte, nach der existenziellen Frage des Menschen, nach dem, was uns auszeichnet und was uns aber auch an Hässlichkeiten im Leben wiederfährt, dass er sich darin spiegeln wollte und dass sein ganzes literarisches Schaffen auch unentwegt eine Retrospektive, Verinnerlichung unserer Sünden und Verfehlungen war. Ich glaube, man kann das auch in seiner Autobiografie "Die Schatten meiner Toten" sehr gut nachvollziehen, dass das der eigentliche Schreibimpuls von Werner Heiduczek war.
Die Infektion durch die Naziideologie
Netz: Das heißt, diese Kriegserfahrungen als Jugendlicher, die russische Kriegsgefangenschaft, die haben sein ganzes Leben und Werk geprägt?
Faber: Ja, auch der Neubeginn im Deutschland nach '45, seine kurze Phase als Neulehrer, die Konfrontation mit jungen Menschen, die, durch ihre Eltern, oder durch ihr soziales Umfeld verursacht, immer noch deutlich infiziert waren von Naziideologie und so weiter. Das sind Dinge, die haben ihn ein Leben lang nicht verlassen als grundlegende Eindrücke. Und damit hat er sich dann in unterschiedlichen Stofflagen, zum Teil exemplarisch wie auch additiv, mit unterschiedlichen Erzählsträngen immer wieder beschäftigt.
Netz: Dann lassen Sie uns auf das eine Buch kommen, das heute alle als das Kultbuch von Werner Heiduczek bezeichnen: "Tod am Meer", der Roman, der 1977 erschien. Clemens Meyer, der Schriftsteller, hat das Buch "Weltliteratur" genannt. Was macht den Roman dazu?
Faber: Er hat natürlich grundsätzlich erst mal einen Topos, den wir aus der Weltliteratur kennen: die Reflexion eines künstlerischen, kreativ tätigen Menschen, der in einen Konflikt gerät - ob er sich nicht verdingt hat, ob er sich nicht angepasst hat, um zum Erfolg zu kommen, oder ob es nicht gescheiter gewesen wäre, ohne diese Anpassungsorgien seinen Maximen nachzugehen, um ehrlich zu den entsprechenden Ergebnissen zu kommen. Diese Konflikte beschreibt er anhand dieses Jablonskis, dieses Schriftstellers, der durch eine persönliche oder gesundheitliche Krise in dieses Nachdenken gerät, und reflektiert damit natürlich in einer gewissen Weise auch die innere Beschaffenheit der europäischen Menschen am Ende eines zweiten verheerenden Weltkrieges. Auch wenn das Buch erst in den 70er-Jahren geschrieben ist, ist es trotzdem auch als Reflex auf diese große bedeutende Zäsur in der europäischen oder Weltgeschichte zu lesen. Dass Clemens Meyer, der ihn ja relativ spät erst entdeckt hat – aber das ist natürlich zu seinem eigenen Lebensalter geschuldet –,
Netz: Er ist Anfang 40.
Faber: – ihn zur Weltliteratur erklärt, ist sehr löblich und kann man auch nachvollziehen. Tatsache ist, dass diesem Buch natürlich nicht die große europäische Rezeption beschieden war, sondern dass der Autor zu einigen gehörte, die in Ostdeutschland zu ihrem schriftstellerischen Leben gefunden haben, die aber auf der anderen Seite, anders als meinetwegen Günter Kunert oder Jurek Becker oder Sarah Kirsch, eine völlig andere Lesegemeinde gefunden haben als er selbst. Ich glaube auch, dass Clemens Meyer mit diesem Satz eines wollte: Achtung, liebe Leser, bitte blättert noch mal zurück und kommt auf das Werk von Werner Heiduczek zurück!
Netz: Warum sollte man das tun? Welche Rolle hat Werner Heiduczek im literarischen Leben der DDR gespielt? Warum war er zumindest da, wenn auch nicht international, so wichtig?
Vielfältiges Werk
Faber: Sein Werk ist ja vielfältig. Wir haben es ja bei ihm auch mit einer Reihe von Kinderbüchern zu tun, wo er sich im Übrigen immer auch mit großen gesellschaftlichen Zusammenhängen beschäftigt. Die Nacherzählung des "Parzival" ist eben auch so ein Fall oder auch die eher für kleinere Kinder geschriebenen Erzählungen, "Der kleine hässliche Vogel" oder "Vom Hahn, der auszog, ein Hofmarschall zu werden". Da reflektiert er einfach größere, tatsächlich Weltzusammenhänge. Warum er es nicht geschafft hat, in diesen Kanon aufgenommen zu werden, den wir heute als Weltliteratur bezeichnen, hat natürlich auch objektive Gründe. Er ist zeitlebens nicht im Wesentlichen in westdeutschen oder auch westeuropäischen Verlagen in Lizenz genommen worden. Man hat ihn in einer gewissen Weise überlesen oder übersehen. Und anders wie Kollegen seines Alters, die – meinetwegen Christa Wolf oder Irmtraud Morgner – sehr zeitig damals im Luchterhand-Verlag entsprechende Meinungskolporteure gefunden haben, die sie dann auch für die westeuropäische Welt interessant gemacht haben, das ist Werner Heiduczek versagt geblieben. Damit ist er heute ein nicht vergessener, aber doch weitgehend eher in der ostdeutschen Landschaft bekannter und bedeutender Autor.
Netz: Die Hauptfigur von "Tod am Meer", die reflektiert ja auch ein Dilemma, das Heiduczek wahrscheinlich selbst hatte: Er war SED-Mitglied, wurde aber andererseits jahrelang bespitzelt. Wie war denn eigentlich seine politische Haltung?
Faber: Ich kann natürlich nur die Zeit reflektieren, die ich selbst mit ihm verbracht habe, die er wiederum aber auch dazu benutzt hat, seine eigene Vergangenheit zu reflektieren. Und dort kann ich, glaube ich, mit Fug und Recht behaupten: ein absolut integerer Charakter, einer, der sehr zeitig in die kritische Distanz zu seiner selbstgewählten Partei, der SED, ihn geführt hat, in der er aber glaubte, durch kritischen Widerspruch durchaus Reformen einleiten zu können, was ihm aber absolut natürlich nicht gelungen ist, um sich dann später eher aus dem politischen Alltag zurückzulehnen und sich dann ganz auf das Schreiben zu kaprizieren. In den Übergangszeiten von '89 bis weit in die 90er-Jahre hinein hat er mit ähnlichem kritischen Verstand auch die Transformationsprozesse reflektiert, auch da nie einseitig, sondern immer versucht, unter unterschiedlichen Gesichtspunkten die Dinge zu bewerten.
Also ich bin sehr, sehr froh, dass ich so viele Jahrzehnte mit ihm den Dialog suchen konnte und denke, er hat mich auch sehr bereichert in seinen schriftstellerischen, seinen ästhetischen wie auch in seinen politischen Ansichten.
Reich an einzelnen Geschichten
Netz: Werner Heiduczecks Autobiografie "Die Schatten meiner Toten" ist 2005 bei Faber und Faber erschienen. Welche Bilanz seines Lebens zog er denn darin selbst?
Faber: Er ist ein besonderer Fall. Man muss wissen: Er hat nach der Veröffentlichung der Autobiografie ja tatsächlich kein neues Buch mehr geschrieben. Er hatte mir damals gesagt, er sei ausgeschrieben, er war 80, er konnte sich das leisten, das zu sagen. Und er ist sich auch nicht untreu geworden. Insofern ist diese Autobiografie tatsächlich die wirkliche finale Bilanz seines Lebens. Und er hat sehr viel Zeit darauf verwandt.
Wenn ich das richtig reflektiere, sind es bestimmt elf oder zwölf Jahre, die er an diesem Manuskript geschrieben hat. Wir haben auch unterschiedliche Lesekapitel zwischendrin mal bekommen, wo er selbst unsicher war, wo es auch natürlich um Persönlichkeitsschutz dort genannter Personen ging. Aber es ist tatsächlich eine finale Lebensbilanz, die sowohl sein Schicksal als Aussiedler aus Oberschlesien reflektiert, wie diese Vorgänge einer Entnazifizierung in Deutschland nach '45 bis hin zu den Wendeereignissen in Ostdeutschland und der Wiedervereinigung. Es ist reich an einzelnen Geschichten wie auch komplex in der Gesamtbetrachtung.
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