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Verleihung des Büchner-Preises an Wilhelm Genazino

Schäfer-Noske: In diesen Minuten hat in Darmstadt die Verleihung des Büchner Preises an Wilhelm Genazino begonnen. Mein Kollege Joachim Güntner ist ebenfalls bei der Büchnerpreisverleihung. Wir haben gerade einen Teil der Laudatio gehört, die der Autor Helmut Böttiger hält, und da kamen immer wieder Vergleiche zu Kafka. Herr Güntner, warum hat denn Wilhelm Genazino den renommiertesten deutschen Literaturpreis verdient? Wie ist das vom Laudator begründet worden?

Moderation: Doris Schäfer-Noske |
    Joachim Güntner: Helmut Böttiger hat vor allem Genazino als gleichsam den Psycho-Historiker der Bundesrepublik bezeichnet, den literarischen Psycho-Historiker, der aus der Atmosphäre der beginnenden Bundesrepublik der 50er und der frühen 60er Jahre schöpft, aus einer Zeit, wie Böttiger sagt, in der die stickige Luft noch da ist, aber die Republik beginnt, lockerer zu werden. Er hat, wie auch die Jury der Akademie, natürlich Genazino vor allen Dingen für seinen präzisen Blick, für sein genaues Schauen, auch für seine Melancholie in der Betrachtung gerühmt, für seine Detailversessenheit. Das sind übereinstimmende Wertungen der Jury der Akademie, als auch von Helmut Böttiger.

    Schäfer-Noske: Dieses Durchdringen des scheinbar Nebensächlichen - bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Peter Esterhazy war die Atmosphäre dieses Jahr ungewöhnlich locker, da hat Laudator Michael Naumann sogar geflachst, der Preisträger habe den Preis eigentlich gar nicht verdient, weil seine Vorfahren nämlich eine demokratische Entwicklung behindert hätten - wie ist denn diesmal hier die Atmosphäre bei der Preisverleihung in Darmstadt?

    Güntner: Sehr freundlich. Man muss aber vielleicht doch eines dazu sagen: Er wird gekürt von der Akademie und das Publikum, das gestern Abend da war - es gibt die traditionelle Lesung des Preisträgers am Vorabend der Preisverleihung - war voller Freude. Es gab viel Gelächter, viel Beifall. Die Jury selbst, als sie im Juni entschied, hat Genazino aus einem Kreis von Kandidaten ohne ernsthaften Konkurrenten, so war damals zu hören, erwählt. Es gibt aber natürlich Leute, die sagen, guckt euch diese Bücher an. Das sind immer nur 150 Seiten. Ist er nicht eigentlich doch ein literarisches Leichtgewicht? Aber wenn man dann weiterfragt, dann heißt es, ja auf wen hätte man sonst zeigen können? Man wusste im Grunde auch keine Alternative. Von daher ist es ein ganz unumstrittener Preisträger.

    Schäfer-Noske: Die Verleihung des Büchnerpreises bildet ja traditionell den Höhepunkt und Abschluss der Herbsttagung der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Aber diese Tagung ist bisher eigentlich in der öffentlichen Wahrnehmung eher etwas untergegangen. Warum ist es denn dieses Jahr anders?

    Güntner: Es gibt wohl mehrere Gründe. Der eine Grund könnte vielleicht sein, dass die Akademie unter dem Präsidenten Klaus Reichert, der das jetzt seit zwei Jahren macht und auch einen neuen Generalsekretär die sie hat, einen ganz anderen Auftritt hat. Sie ist durch Plakate - sie hat sich offenbar eine typographische und eine Reklameberatung genommen - im Stadtbild ganz anders wahrnehmbar und sie segelt jetzt, aber das meine ich gar nicht abschätzig, dicht an den Themen des Kulturbetriebes. Spiritus Rektor der diesjährigen Tagung, die unter dem Titel stand "Wohin treibt das Theater?", war Karl-Heinz Braun, Mitglied der Akademie und schon einmal Lektor bei Suhrkamp, Theaterverlag, dann Gründer, oder Mitbegründer des Verlages der Autoren, einen der renommiertesten Theaterverlage heute. Man muss einfach auch sagen, die Wahl dieses Themas, "Wohin treibt das Theater?" war ausgezeichnet. Es gab drei zweieinhalb Stunden lange Podiumsdiskussionen, Donnerstag, Freitag und heute und die waren stark besucht und voller lebhafter Diskussionen. Die Wahl des Themas war ausgezeichnet und es zog.

    Schäfer-Noske: Mich hat dieser Titel ja etwas gewundert, weil dieses "Wohin treibt das Theater?" hört sich ja so an, als sei das eine Entwicklung, die so ganz ohne Beteiligung von Theatermachern passiert. Hält man sich denn da für so machtlos?

    Güntner: Es ist natürlich eine gewisses Bangen in diesem Titel angelegt. Das Treiben bedeutet schon - das sehen Sie richtig, das hat auch Andrea Breth in ihrer Eröffnungsrede so gefasst - den Anschein des steuerungslosen oder des steuerlosen, das hat es ja schon. Es ist auch etwas Abschätziges darin. Die Akademie hat das immer bestritten, aber es ist die Akademie für Sprache und Dichtung und der Umstand, der sie dazu verführt hat, dieses Thema sich zu erwählen, dass sie ein Gefühl einer ungute Erfahrung hat, dass nämlich eine Entliterarisierung des Theaters stattfindet, dass wir zunehmend sehen, dass die literarischen Stoffe, die Dramen nicht mehr in der originalen Fassung angeboten werden, weit entfernt - wobei es nicht nur darum geht, etwas gegen den Strich zu inszenieren - gleichsam geplündert, so hat Klaus Reichert, der Präsident, das mal gesagt, freigegeben zur Plünderung durch die Theatermacher, also in dem Fall in erster Linie durch die Regisseure, die teils auch Intendanten sind.

    Schäfer-Noske: Man hatte sogar gesagt, man wolle eine Spaltung der Theaterszene verhindern, die sich eben aufteilt in diese literarische Schule und in die Schule, die sich von den literarischen Texten entfernt hat.

    Güntner: Die nennt man mittlerweile postdramatisch. Die einen sagen, das ist eine Schimäre, das hat es ja immer gegeben, aber es ist ein Ausdruck, den vor allen Dingen der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann mit einem Buch auch gleichen Titels geprägt hat.

    Schäfer-Noske: Ist es denn da jetzt zum Dialog gekommen oder haben sich die Fronten weiter verhärtet?

    Güntner: Es war ja erst mal auf Konfrontation angelegt. Die erste Diskussion war eben zwischen Andrea Breth vom Wiener Burgtheater, als Vertreterin textgetreuer Rezeption. Die hat eine Abrechnung ihrer Kollegen vorgenommen, hat gesagt, ihr habt euch alle umschulen lassen auf Animateure. Wir müssen zurück zum moralischen Theater, also zum Theater als moralische Anstalt, wobei sie sagt, dass es nicht leicht zu haben ist. Die Zumutung des Denkens muss heute sein, man darf die Zuschauer nicht unterfordern, man muss sie geistig überfordern. Die Antipode sollte dann sein Frank Castorf von der Berliner Volksbühne, der aber nicht kommen konnte und stattdessen seinen Chefdramaturgen Herrn Hegemann geschickt hat, der auch ein bisschen als der Chefideologe gilt. Herr Hegemann hat einen Trick. Er hat etwas trickreich ein Papier aus der Tasche gezogen und gesagt, eigentlich sind wir ja alle einer Meinung. Darum, um die Konfrontation zu einer Konfrontation werden zu lassen, lese ich euch ein Papier vor, dass schon zehn Jahre alt ist. Das war ein Pamphlet, ein Manifest seiner Zeit 1994, in welchem gefordert wurde, das Theater zur Bühne der Realität zu machen mit einem ungeheurem theoretischen Überbau, die Welt besteht nur noch aus Simulation, und darum muss wahre Realität auf dem Theater stattfinden. Er erzählte dann so Anekdoten, dass Castorf oft seinen Leuten sagt, wenn Du hier auf Kartoffelsalat ausrutscht auf der Bühne, dann musst du aber auch wirklich ausrutschen. Wenn du das Gefühl hast, du fällst nicht, dann musst du stehen bleiben. Das sind so Inszenierungen, die jeden Abend anders ablaufen können, um bei dieser Pointe zu bleiben, je nach dem, ob der wirklich rutscht und auf die Nase fällt oder auch nicht. Das wurde in Opposition gesetzt zu einem Theater, wie es der Traditionalist Peter Stein macht, wo dann ja jede Inszenierung aussehen soll, wie die vorangegangene. Und die sagen alle, wir machen hier Realität in Echtzeit und das muss jeden Tag anders aussehen.


    Schäfer-Noske: Joachim Güntner war das, von der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.