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Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“
Verloren für das Künftige

Mit „Die Nacht unterm Schnee“ schließt Ralf Rothmann seine persönlich inspirierte Trilogie über den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit ab. Im Zentrum steht die schwierige Beziehung der Eltern.

Von Meike Feßmann |
Ralf Rothmann hat mit „Die Nacht unterm Schnee" einen neuen Roman vorgelegt.
Ralf Rothmann ergründet mit „Die Nacht unterm Schnee" poetisch, fesselnd und exemplarisch die Verletzungen hinter dem Schweigen der Eltern. (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
„Ich hab nicht all die Wörter, die mir sagen, was ich fühle“
lässt Ralf Rothmann seine Mutter klagen, schon fast am Ende dieses Romans, der ein gewagtes Unterfangen der Einfühlung ist. „Die Nacht unterm Schnee“ heißt der dritte Band einer Trilogie über die letzte Phase des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit oder genauer: über das, was diese Zeit aus den Menschen gemacht hat, die 1953 Ralf Rothmanns Eltern wurden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Schriftsteller nach ihrer Sturm-und-Drang-Zeit den Eltern widmen. Oft dann, wenn sich die eigene Lebensphase dem Alter nähert und plötzlich Verständnis oder gar Neugier aufkommt. Nicht nur aus Gründen der Diskretion werden diese Romane erst nach dem Tod der Eltern begonnen, etwa wenn Fotos, Briefe, Tagebücher, Dokumente auftauchen und sich plötzlich ein Stoff darbietet, der in der Jugend eher Fluchtreflexe auslöst.
Sich das Leben der Eltern zurechtzulegen, das nolens volens auf die eigene Existenz zuläuft, bedeutet auch das Versprechen einer symbolischen Neugeburt. Es ist eine Form der Selbstvergewisserung, in der die Phantasie eine mindestens ebenso große Rolle spielt wie biografische Eckdaten. Geformt wird gewissermaßen die eigene Vorgeschichte, eine rückwärtsgewandte Projektion subjektiver Teleologie.

Bewundernswerter Vater, hartherzige Mutter

Der 1953 in Schleswig geborene und im Ruhrgebiet aufgewachsene Ralf Rothmann, der seit 1976 in Berlin lebt, hat schon öfter erzählt, wie sehr er seinen Vater liebte. Im ersten, um dessen Kriegserfahrung kreisenden Band, „Im Frühling sterben“, schildert er:
„Alle Nachbarn mochten ihn, den immer Hilfsbereiten, das Wort hochanständig fiel oft, wenn von ihm die Rede war; seine Kumpel in der Zeche nannten ihn anerkennend Wühler, und kaum einer stritt je mit ihm. (...) Obwohl seine Körperhaltung durch die schwere Tätigkeit als Melker und später als Bergmann gelitten hatte, war er, was es kaum je gibt: ein eleganter Arbeiter.“
Zunächst war er Melker in Norddeutschland, dann fast dreißig Jahre Bergmann unter Tage. „Du bist der Schriftsteller“, soll er gesagt haben, als der Sohn mehr über sein Leben erfahren wollte. Da war er schon an Krebs erkrankt. Gerade sechzig geworden, erhielt er 1987 die Diagnose. Er wollte sich nicht behandeln lassen. „Hoffentlich ist der Scheiß hier bald vorbei“, zitiert ihn der Sohn in seinem 2015 erschienenen Roman.
Während der Vater offenbar eine Person war, die man bewundern konnte, schildert er seine Mutter als schwierige, „harte“, zu Gewaltausbrüchen neigende Frau, die ihre Kinder mit dem Rührlöffel verprügelte und sich später nicht mehr daran erinnern wollte. Höchstens ein „Klaps“ sei das gewesen, also etwas, das den bundesrepublikanischen Erziehungsidealen der 1950er und frühen 60er Jahre keineswegs entgegenstand. Selbst in bildungsbürgerlichen Haushalten wirkte die NS-Ideologie lange nach.

Traumata und Ausfluchten der Kriegsgeneration

Und dennoch glückt ihm nun mit „Die Nacht unterm Schnee“ ein Roman, der „Nachgetragene Liebe“ heißen könnte, wie Peter Härtlings Vaterbuch aus dem Jahr 1980. Oder vielleicht sollte man besser von nachgetragenem Respekt sprechen; vom Versuch, zu verstehen, wie es zum Verhalten der Mutter kam, die gleichermaßen grausam wie lebenshungrig sein konnte, immer auf dem Sprung zu irgendeiner Tanzveranstaltung, getrieben von der Sehnsucht nach einem Leben, von dem sie das Gefühl hatte, es werde ihr vorenthalten. Zu Beginn des Romans schreibt Wolf, das Alter Ego des Autors:
„Ihr war kaum zu helfen, fürchte ich, und vielleicht können Menschen mit einer besonders schmerzhaften Vergangenheit ja nicht anders: Sie betäuben sich in jedem Augenblick neu, und sei es mit Arbeit, denn sie wissen, dass sie mehr oder weniger verloren sind für das Künftige, das ungeachtet aller bösen Erfahrungen unser Zutrauen braucht, um zu gelingen. Immer ängstlich, mit unruhigen Augen und fliegendem Puls bemühte sie sich zwar, es jedem recht zu machen, sich ‚anständig’ zu kleiden und ‚ordentlich’ zu frisieren; aber kaum wurde der Mond voller, stürzte sie sich mit allen Sinnen in das nächste Desaster, das ein Tanzabend sein konnte oder ein betrunkenes Gefummel hinter dem Kirmeswagen. Und es war ja wohl auch ein herber Triumph: Sich unter glühenden Girlanden der Enttäuschung, dem Verlust, dem Ende von allem hinzugeben, verlieh ihr eine nahezu spöttische Macht über die Flüchtigkeit jeder Freude.“
Das Schweigen der Eltern über Schuld, Leid und Verantwortung, das so viele Nachkriegskindheiten prägte, ist das poröse Material der Trilogie. Walter, der Vater, der im Februar 1945 als junger Melker von der Waffen-SS zwangsrekrutiert worden war, wusste, dass er Glück hatte: nicht nur das Gemetzel der letzten Kriegstage überhaupt überlebt zu haben, sondern in amerikanische, nicht in russische Kriegsgefangenschaft gekommen zu sein. Äußerlich unversehrt kehrte er auf den Gutshof zurück, wo er noch während des Krieges Elisabeth Isbahner kennengelernt hatte. Sie war mit ihrer Mutter und den Geschwistern aus einem Ort nahe Danzig nach Norddeutschland geflüchtet. Offenbar wurde sie wie viele Frauen auf der Flucht vergewaltigt und wollte nicht darüber reden.
Ralf Rothmann findet eine trotz aller Beklemmung betörende Mischung zwischen Konkretion und Imagination. Die Welt, von der er erzählt, ist handgreiflich und dinglich. Zugleich entwickelt er aus dem Grundkonflikt der Eltern, die völlig unterschiedliche Vorstellungen vom Leben hatten, eine Art verbalen Baldachin, etwas Schwebendes, das sie verbindet, einen hohen Bogen aus Wörtern, die mal in die Sumpfgebiete des Alltags führen, mal in die Gefilde der Sehnsucht. So traurig und brutal „Die Nacht unterm Schnee“ immer wieder anmutet, so voller Gewalt und Erdenschwere, ist es doch kein hoffnungsloses Buch.

Panoptikum menschlicher Verhaltensformen

Die Zartheit des Pinselstrichs, die Genauigkeit, mit der sich der Sohn ausmalt, was die Mutter gefühlt haben mag, ist eines der Stilelemente, die diesen Roman zu einem literarischen Ereignis machen. Die tragende Idee ist seine Komposition, fein austarierte Stimmen und Stimmungen lassen ein Gesamtgebäude entstehen, einen Aufenthaltsort für Leserinnen und Leser, in dem die – hochgradig fiktionalisierte – Geschichte der Mutter geborgen ist, ein Panoptikum, das nicht nur die Ereignisse jener Jahre zeigt, sondern auch menschliche Verhaltensformen in ihrer ganzen Bandbreite.
„Elisabeth war ein Landarbeiterkind, das nichts mehr hasste als den Dreck und die stupide Arbeit auf den Kartoffeläckern, das Gebrüll der Tiere und den Geruch von Diesel, Mist und Blut. Seit ihrer Jugend in dem Straßendorf bei Danzig, seit der ersten Lektüre der Romane aus der fahrbaren Leihbücherei sehnte sie sich nach einem Leben in der Stadt, nach so etwas wie Komfort und Klasse oder was sie dafür hielt, und darin lag schon der Kern der Enttäuschung, ja des Dramas, auf das die beiden hinlebten. Denn Walter, obwohl ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, wollte nirgendwo anders sein als auf einem abgelegenen Gehöft auf dem Land. Trotz der miserablen Bezahlung liebte er die Arbeit im Stall und auf den Weiden, zu der natürlich Schwielen und Dreck gehörten, aber auch das Leben in einem natürlichen Rhythmus und das Aufatmen unter freiem Himmel.“
Als Walter aus dem Krieg zurückkehrt, arbeitet Elisabeth im Casino der Marine-Kaserne in Kiel. Luisa Norff, die Tochter der Wirtin, um die der zweite Band der Trilogie zentriert war, hat auch im Erzählgefüge des neuen Romans die tragende Rolle einer Mittlerin. Der Roman ist größtenteils aus ihrer Perspektive erzählt. Sie ist vier, fünf Jahre jünger als Walter und Elisabeth. Als Zwölfjährige himmelte sie Walter an, der mitten in Kriegszeiten zum „Gott jenes Sommers“ am Himmel einer Pubertierenden wurde, die ihren ersten Liebesgefühlen nachgab. Für Elisabeth, die Kellnerin in der Kneipe ihrer Eltern, war sie eine Art jüngere Schwester und naive Vertraute. Inzwischen ist sie eine seit Jahren pensionierte Bibliothekarin, mit der Wolf, das Alter Ego des Schriftstellers, seit seinem ersten Buch in Kontakt geblieben ist.
Die Figur geht offenbar auf die Begegnung mit einer Leserin zurück, die nach einer Lesung in Kiel bekundete, seinen Vater gekannt zu haben. So hat es der Autor in einem Interview erzählt. Im neuen Roman ist sie mehr als die naive Schwärmerin des zweiten Bandes. Sie ist eine Art Sonde, mit der Rothmann weibliche Empfindungen erkunden kann, eine Mittlerin, die den Horizont öffnet und ein Leben illuminiert, das in der Vielfältigkeit von Wahrnehmungen und Gefühlen den Spielraum entwickelt, der Elisabeth fehlte. Luisas Innenwelt ist mit den Lektüren ausstaffiert, die der Autor schätzt, von Hermann Hesse, über Tolstoi, bis Gustave Flaubert und Virginia Woolf. Und wenn er Luisa aus ihrem Liebesleben erzählen lässt, dann ist das wie die Korrektur einer eingeengten Lebensperspektive, die nicht den Umständen allein zugeschrieben werden kann.

Fast die Illustration von Resilienz

Manchmal wirkt es, als habe der Autor in der Grube der elterlichen Enge seine Flügel gespreizt, um den Raum imaginär zu erweitern. Der Roman steckt voller Erzählungen, die andere Lebensmöglichkeiten schildern, fast könnte man sagen, er illustriert Resilienz. Auch Luisa Norff, die Ich-Erzählerin, hat einen Missbrauch erlebt, durch ihren Schwager, einen SS-Mann, der sie an einem Geburtstagsfest mit NS-Funktionären in den Luftschutzbunker seiner Villa lockte. In „Der Gott jenes Sommers“ wird er ausführlich geschildert. In „Die Nacht unterm Schnee“ erfahren wir nur, dass sie niemandem davon erzählte. Trotz dieser Missbrauchserfahrung lässt Ralf Rothmann sie voller Neugier, Lust und Hingabe die Liebe entdecken. Und er webt diese Entdeckung in das heilende Geflecht einer symbolischen Operation ein. Bevor sie regelmäßig mit Lorenzo, einem deutsch-italienischen Arzt, auf seinem Hausboot schläft, hat er im Krankenhaus eine durch einen Rosendorn ausgelöste entzündete Wunde versorgt. Den Dorn verwahrt sie danach in Rilkes Gedichtband „Die Sonette an Orpheus“.
„Ich schätzte ihn auf vierzig Jahre, es gab vereinzelte silberne Haare an seinen Schläfen, das Rasierwasser roch entfernt nach sommerwarmen Kiefern oder Pinien, und während er redete und seine Arbeit machte, musste ich die Augen schließen, ich konnte nicht anders. Seine raue Stimme bildete einen seltsamen Kontrast zu seinen behutsamen Händen; noch nie war ich so sanft berührt worden von einem Mann. Die leichte Gaze des Verbands legte sich wie etwas Unstoffliches auf meine Haut, mehr Atem als Faser, und wenn sich eine Seele röntgen ließe, wenn man meine in dem Augenblick durchleuchtet hätte, wäre die Farbe von flirrenden Flügeln zu sehen gewesen, Libellenflügeln in der Sonne.“
Ralf Rothmann, der als Lyriker begonnen hat, scheut sich nicht vor poetischen Formulierungen und symbolischen Überhöhungen. Dass Worte heilen können und Verklärung manchmal hilft, scheint für diesen Autor keine Frage zu sein. Der Wunsch nach Schönheit ist nichts, wofür sich seine Figuren schämen müssen. Er zeichnet seine Charaktere nicht nach den Schablonen politischer Anständigkeit. Die meisten Figuren haben Dreck am Stecken, auch Lorenzo, der ebenfalls in der Waffen-SS war, ob freiwillig oder zwangsrekrutiert bleibt offen.
Dass Ralf Rothmann überhaupt auf diese Weise erzählen kann, ist eine Folge des veränderten Diskurses der letzten beiden Jahrzehnte. Seit W.G. Sebalds literaturhistorischer Studie „Luftkrieg und Literatur“ hat sich das Narrativ geöffnet, mittlerweile können auch Opfer auf der deutschen Seite zur Sprache kommen, ohne dass man den Willen zur Relativierung der deutschen Schuld unterstellen muss.

Ein Leben in Grauen und Dreck

Die Ambivalenz, die Rothmann seinen Figuren geben kann, ohne den Vorwurf der Verharmlosung befürchten zu müssen, ist ein Vorzug seines Romans, aber nicht sein Verdienst. Und doch tut sich in dieser Frage ein feiner Haarriss auf, wenn man die Rolle von Männern und Frauen betrachtet. Was hat es zu bedeuten, dass die Sympathie mit Walter, dem schuldlos schuldig Gewordenen, der immerhin, wenn auch zwangsrekrutiert, in der SS war und in der Geschichte des Romans an der Tötung seines besten Freundes beteiligt ist, vergleichsweise leichtfällt, während die Zuneigung zu Elisabeth mühsam errungen werden muss? Ihr Leben als Melkerin beschreibt sie so:
„Niemand sagt dir mal was Nettes, es gibt kein Vergnügen, nur Sorgen, und in all dem Dreck hast du das Gefühl, langsam selbst zu Dreck zu werden. Sogar an meinem Hochzeitstag musste ich in schmierigen Klamotten auf die Weide, kannst du dir das vorstellen?“
Es ist vielleicht das größte Faszinosum des Romans: wie Ralf Rothmann Schicht für Schicht die Spuren kindlicher Verletzung herauslöst, um seine Mutter als eine Figur entstehen zu lassen, der so großes Leid angetan wurde, dass sie das Weiterleben noch vor seiner Geburt ausschlägt. Nicht in der Form eines Selbsttötungsversuchs, wie er tatsächlich auch geschildert wird, sondern in einer Art Höhlengleichnis von großer symbolischer Kraft. Das alltägliche Leben Elisabeths, das Leben als Flüchtling auf dem Hof und als Kellnerin in der Kneipe, das anstrengende Leben als Melkerin, das Leben schließlich als eine Frau, die endlich aus dem bäuerlichen Dreck herauskam, als ihr Mann eine Stelle als Bergarbeiter annahm, aber gleich in den nächsten Dreck geriet, den Industriedreck des Ruhrgebiets, dieses alltägliche Leben von Verzicht, Verdruss und Vergnügungssucht schildert Luisa, die Ich-Erzählerin, die immer mal wieder bei Wolfs Eltern aushalf, etwa nach der zweiten Geburt, als die Familie noch in Schleswig-Holstein lebte:
„Sicher war es mir anfangs wie ein Glück vorgekommen, doch bei der Arbeit hatte ich mehr und mehr zu kämpfen gehabt mit einer erst leisen, dann immer deutlicheren Abneigung und zunehmend auch mit Ekel. Mittlerweile konnte ich Elisabeth verstehen: Bei Licht betrachtet war schließlich alles, diese scheinbare Idylle in Ruhe und gesunder Luft, nur Unfreiheit und Gewalt, Schmerz und Dreck. Jeder Tropfen Milch, den man den eingepferchten, nach ihren Müttern brüllenden Kälbern vorenthielt, jedes der kotigen Eier, die man den Hühnern und ihrer Hoffnung auf Küken raubte, und sowieso jedes Stück Fleisch aus den stinkenden Schweineställen – alles war mit einem Leid erkauft, das umso mehr zum Himmel schrie, als weder die Landwirte noch ihre Kunden es überhaupt wahrnahmen. Das Normale, das war das Grauen, und ich machte einen Hüpfschritt bei dem Gedanken, ihm schon morgen entkommen zu können.“

Auslöschung und symbolische Neugeburt

Das andere Leben, das böse Geheimnis, über das Elisabeth schwieg, schildert der Autor in auktorialer Perspektive. Kurze Einschübe führen zurück in das Drama von Flucht und Vergewaltigung, es wird zu einem atemlosen Setting des radikalen Ausgesetztseins. Als ihre Mutter vergewaltigt wird, kann Elisabeth zunächst fliehen, um schließlich doch von mehreren russischen Soldaten vergewaltigt zu werden. Ein russischer Deserteur flickt sie wieder zusammen. Verborgen in einer höhlenartigen Hütte unterm Schnee – darauf bezieht sich der Titel -, sieht Elisabeth ihr Leben an sich vorbeiziehen, nicht nur das vergangene, sondern auch ihre mögliche Zukunft.
„Eindringlicher horchend erkannte sie dann aber das Geräusch von Schritten im Schnee, es schienen mehrere Menschen zu sein, und während sie schon wieder schläfrig wurde, hatte sie die Vorstellung, dass dort oben ihr Leben geschah und ohne sie vorüberging, dass alle, die sie kannte und mochte, die Oma in Danzig, die Mutter, die Brüder, ihr künftiger Mann und die ungeborenen Kinder, längst aufgegeben hatten, nach ihr zu suchen, und sich über die hartgefrorene Erde entfernten, ohne zu ahnen, dass sie darunter lag. Und einen traumverlorenen Moment lang dachte sie, dass es gut so war, dass sie nie mehr hinaufwollte zu ihnen, zu allem, und für immer mit Dimitrij in dieser Nacht leben wollte, in diesem warmen Frieden unter dem Schnee.“
Selbstauslöschung und symbolische Neugeburt in einem, ist diese Szene das Herzstück des Romans, vielleicht sogar der Trilogie. In seiner Erzählung „Bildnis der Mutter als junge Frau“ porträtierte Friedrich Christian Delius seine mit dem zukünftigen Autor schwangere Mutter im Januar 1943 in Rom, während der Vater an die Front versetzt wurde. Peter Schneider schilderte in „Die Lieben meiner Mutter“ eine erst durch den Nachlass offenbarte Dreiecksbeziehung der Eltern. Natascha Wodin setzte sich in ihrem Memoir „Sie kam aus Mariupol“ der schwierigen Rekonstruktion des Lebens ihrer Mutter aus, die 1943 als Zwangsarbeiterin aus der Ukraine nach Deutschland verschleppt worden war.

Ralf Rothmanns Ästhetik des Widerstands

Ralf Rothmann ist ein weiteres Mutter-Buch mit starker Epochensignatur und gehörigem Eigensinn gelungen. Seine zentralen Metaphern sind der Himmel und die Höhle, der Atem, die Luft, der Schrei. Sie sind in dieser Geschichte immer doppelt konnotiert: kreatürlich und poetisch. „Die Nacht unterm Schnee“ ist Ralf Rothmanns Meisterstück, selten ging seine Poetologie so eindrucksvoll auf wie hier. Es ist seine „Ästhetik des Widerstands“, keine proletarische Wunschbiografie wie bei Peter Weiss, sondern ein Schutzwall aus Worten gegen das elterliche Schweigen und die Wiederholung transgenerationaler Traumata.
Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“
Suhrkamp Verlag, Berlin
304 Seiten, 24 Euro.