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Vermutungen und Gemeinplätze

Es ist der 21. Juli 1944. Eine Mutter überbringt ihren Kindern die Nachricht vom Tod des Vaters. Der Name der Mutter: Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg. Die Frau des Hitler-Attentäters. Ihre jüngste Tochter Konstanze, 1945 im Gefängnis geboren, hat nun ein Portrait ihrer Mutter geliefert. Ein Versuch, Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg in den Kreis jener einzufügen, die dem Krieg und dem Nazi-Terror Mitte 1944 ein Ende setzen wollten. Henry Bernhard hat das Buch gelesen.

    Claus Schenk Graf von Stauffenberg hatte seiner Frau aufgetragen, sich im Falle eines Scheiterns des Attentats auf Hitler unwissend zu stellen, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten.

    Ich sollte mich als dumme kleine Hausfrau mit Kindern und Windeln und schmutziger Wäsche darstellen.

    Stauffenbergs Witwe hat so überlebt, ebenso ihre vier Kinder. Nina von Stauffenberg blieb nach Gestapo-Verhören und Monaten der Sippenhaft noch bis zum Kriegsende unter strenger Bewachung. Das fünfte Kind, Konstanze, das nach dem Tod des Vaters im Januar 1945 zur Welt kam, hat jetzt ein Porträt ihrer Mutter verfasst.

    Nun ist es immer heikel, wenn Autoren über ihre Verwandten schreiben, noch dazu über die eigene Mutter. Man erwartet also keine kritische Biographie, sondern eher eine persönliche Annäherung, mit intimen Zugängen und Einsichten, die aus der natürlichen Nähe erwachsen.

    Eines wird beim Lesen schnell deutlich: Es geht der Autorin darum, ihre Mutter aus dem Schatten ihres Vaters, des Hitler-Attentäters Stauffenberg, zu befreien.
    Viele Historiker sehen in den Frauen der Widerstandskämpfer allenfalls ahnungslose Opfer, die meisten erwähnen sie nur am Rande, im öffentlichen Bewusstsein spielen sie kaum eine Rolle. Was meine Mutter wirklich geleistet hat, welchen Mut, welche Loyalität sie aufbrachte, um die hochgefährlichen Pläne ihres Mannes zu unterstützen, das kann man erst ermessen, wenn man dies hier liest.

    Auf gut 200 Seiten schildert Konstanze von Schulthess das Leben ihrer Mutter, einer lebenszugewandten, selbstbewussten Frau von baltischem Adel, die sich schon im Alter von 17 Jahren mit dem schneidigen Offizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg verlobt, die sehenden Auges in eine Ehe steuert, die ihr, ob des Berufs ihres Mannes, nicht viel an trauter Zweisamkeit verspricht. Aber es war wohl Liebe auf den ersten Blick. Die Autorin berichtet sehr ausführlich vom Kennenlernen der beiden, von Verhandlungen der Eltern darüber, ob die beiden heiraten dürften, aus heutiger Sicht unvorstellbare Etikette.

    Aber sie haben sich doch schon geküßt! rief Karoline von Stauffenberg aus. Nach den gängigen Moralvorstellungen jener Zeit war ein vorehelicher Kuss ein unerhörter Tabubruch - oder aber ein unauflösbares Versprechen.

    Das ist flott geschrieben, das liest sich amüsant, das gibt Einblicke in die Lebenswelt des konservativen, aber auch aufgeklärten Adels vor dem Zweiten Weltkrieg. Doch zum Verständnis der Geschichte trägt all das wenig bei. Wir erfahren Anekdoten aus der weiteren Verwandtschaft, von zusammenbrechenden Betten und kuriosen Hunden - alles, was die Familienchronik hergibt.

    Da defilieren ganze Heerscharen von Offizieren, Hofdamen und tapferen Müttern am Leser vorbei, Perlenketten funkeln und gestärkte Damastdecken duften. Doch was in einer Familiengeschichte wichtig ist, muss allein deshalb noch nicht der Veröffentlichung wert sein, zumindest dann nicht, wenn das Buch einen historisch-politischen Anspruch erhebt. Noch dazu bemüht die Autorin immer wieder Zeichen, die auf den 20. Juli 1944 hindeuten sollen, auf der Suche nach Parallelitäten in der Familiengeschichte; sie räsoniert über die Vererbung von Erfahrungen, Eindrücken und Gefühlen.

    Ein Leben lang blieben "Die drei Musketiere" ihr Lieblingsbuch. Es ist sicherlich mehr als Spekulation, wenn man aus dieser frühen Vorliebe für starke Helden auf ein Weltbild schließt, in dem alles um Ehrgefühl, Edelmut und Aufopferung kreist. Ob sie spürte, dass mein Vater mit sehr ähnlich Vorstellungen groß geworden war? Und dass er für diese Überzeugungen später buchstäblich zu sterben bereit war?

    Hier liegt das grundlegende Problem des Buches: Die wichtigste Quelle der Stauffenberg-Tochter ist die Familienchronik, die ihre Mutter für den privaten Gebrauch verfasst hat. Doch über die wichtige Frage, wie Stauffenbergs Frau zu den Anschlagsplänen stand, was sie genau gewusst und gedeckt hat, was sie nach dem gescheiterten Anschlag empfunden hat - darüber bleiben auch ihrer Tochter nur Vermutungen, Gemeinplätze und unbeantwortete rhetorische Fragen.

    100 Gedanken gingen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Ich stelle mir diese Phase als ausgesprochen schwierig und belastend vor. Ob meine Mutter sich Vorwürfe machte, als sie vom Tod meiner Großmutter erfuhr? Ob sie in diesem Moment infrage stellte, dass die Verschwörung gegen Hitler einen so hohen Preis wirklich wert gewesen war? Es ist schwer zu sagen, welche inneren Konflikte sie wirklich durchlebte. Gesprochen hat sie darüber nie.

    Und dieses Schweigen belastet auch die Tochter, die ihre Mutter als verpanzerte und einsame Witwe eines Helden der Weltgeschichte beschreibt.

    Der 20. Juli war eine Zäsur gewesen, die sie stark gemacht hatte, stärker als viele andere Frauen. Doch im Nachhinein ahne ich, mit wie viel Härte gegen sich selbst diese Stärke erkauft war. Nein, sie war nicht "noch einmal davongekommen", sie war geprägt und gezeichnet durch den 20. Juli 1944. Eine Einzelkämpferin gestattet sich keine schwachen Momente, eine Einzelkämpferin behauptet, dass es gar nicht wehtut.

    Die Auswertung weiterer Quellen und die Befragung der Geschwister hätte sicher manche Frage beantworten können, die das Buch zwar aufwirft, aber nicht beantwortet. Zumal Nina von Stauffenberg in einem Interview vor einigen Jahren ihre historische Rolle eher als belanglos einstufte.

    "Politik hat mich eigentlich nicht interessiert. Man hat die Zeitung gelesen, über dies und jenes gesprochen, aber tangiert hat es mich nicht. Ich hatte eine wachsende Kinderschar. Die Dinge passierten, aber es hat mich nicht in erster Linie beschäftigt."
    Sehr eindringlich jedoch gelingt Konstanze von Schulthess die Schilderung der letzten Kriegstage, der Auflösung der Wehrmacht, des Endes jeder Ordnung. Wir lesen von humanen Gefängniswärtern und Menschen, die die Witwe des Hitler-Attentäters unterstützen. Wir erfahren, wie sie ihre Kinder wiederfindet und erleben den beklemmenden Moment, in dem die Kinder des Hitler-Attentäters Stauffenberg erstmals gesagt bekommen, dass sie stolz sein könnten auf ihren Vater.

    In der Zeit nach 1945 baute die Stauffenberg-Witwe ihr Elternhaus wieder auf und engagierte sich für die Erhaltung der Bamberger Altstadt. Vor zwei Jahren ist sie gestorben. Das Buch erzählt lebendig von ihrem äußeren Leben, von ihrem Inneren erfahren wir leider nur sehr wenig. Wenn eine Tochter über ihre Mutter schreibt, dann sollte man jedoch mehr erwarten können.

    Konstanze von Schulthess: Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg. Ein Portrait. Ein Buch aus dem Pendo Verlag, es hat 240 Seiten und kostet 19 Euro 90.