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Vernachlässigt, verprügelt, verhungert

Mit dem Bundeskinderschutzgesetz soll verhindert werden, dass Kinder Opfer von Vernachlässigung, Missbrauch oder Gewalt werden. Künftig sollen Jugendämtern, Schulen und Gesundheitsämtern besser kooperieren. Zudem enthält das Gesetz auch Regelungen für mehr Hausbesuche durch das Jugendamt.

Von Verena Herb und Axel Flemming |
    Lara Mia stirbt am 11. März 2009. Sanitäter finden das neun Monate alte Baby in seinem Bettchen. Dehydriert, abgemagert. Die Rippen stehen hervor, die Wangen sind eingefallen. Laras damals 18-jährige Mutter, Jessica R., und ihr ehemaliger Freund Daniel C., 21, haben das kleine Mädchen verhungern lassen.

    Den Haustieren in der Wohnung im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg – einem Hasen und einem Hund - geht es gut. Auf der fleckigen Matratze des Kinderbetts liegen schmutzige Windeln. Die Staatsanwaltschaft Hamburg erhebt Anklage.

    Die Anklageschrift dokumentiert eine Tragödie. Der Obduktionsbericht hat ergeben: Das Mädchen hat über Monate nichts zu essen bekommen, sein Knochengerüst entsprach dem eines sechs Monate alten, nicht dem eines neun Monate alten Kindes. Lara Mia wog nicht einmal fünf Kilogramm. Das Normalgewicht für ein Kind dieses Alters liegt bei sieben bis zehn Kilogramm.

    Wilhelm Möllers, Sprecher der Staatsanwaltschaft Hamburg:

    "Beide Angeklagten haben sich wegen versuchten Totschlags durch Unterlassung und gefährliche Körperverletzung durch Unterlassung zu verantworten."

    Die Mutter, Jessica R., wird in zweiter Instanz im September 2011 zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt.

    Wie viele Kinder in Deutschland misshandelt oder vernachlässigt werden und wie viele tatsächlich aufgrund von Misshandlungen sterben – es gibt keine verlässlichen Zahlen. Nach Informationen der Deutschen Kinderhilfe auf der Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik lag die Zahl der kindlichen Tötungsopfer unter 14 Jahren 2010 bei 183 Kindern. 129 Kinder waren unter sechs Jahren. Zudem wurden über 4.000 Fälle von körperlicher Misshandlung von Kindern unter 14 Jahren erfasst. Auch wenn die Zahlen erschrecken, sie sind wohl nur die Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer ist weitaus höher.

    Mit dem Bundeskinderschutzgesetz, das am 1. Januar in Kraft getreten ist, will Bundesfamilienministerin Kristina Schröder dazu beitragen, Fälle wie den von Lara Mia künftig zu verhindern. Im Fokus steht dabei die bessere Vernetzung zwischen den einzelnen Akteuren: den Jugendämtern, Schulen und Gesundheitsämtern. Aber auch Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte sowie Schwangerenberatungsstellen und die Polizei sollen künftig besser miteinander kooperieren.

    Außerdem werden die Anforderungen an Mitarbeiter der Jugendhilfe verändert. Die hauptamtlich Tätigen müssen künftig generell ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen. Das Gesetz enthält auch Regelungen für mehr Hausbesuche durch das Jugendamt.
    Bundesfamilienministerin Kristina Schröder:

    "Wir sind uns alle einig, dass der Kinderschutz in den Familien beginnt. Und die in unserem Gesetz geregelten frühen Hilfen und verlässlichen Netzwerke, die beugen darum in der Familie vor, damit Kinder gar nicht erst in Notlagen und Gefahren geraten."

    Frühe Hilfen – das ist das Stichwort. Denn häufig werden Verwahrlosung, Gewalt und soziales Elend von einer Generation an die nächste weitergegeben. Um diese Abfolge zu unterbrechen, muss vor allen Eltern in Problemfamilien frühzeitig bei der Pflege und Erziehung ihrer Kinder unter die Arme gegriffen werden.

    Eine Möglichkeit sind Familienhebammen, die schon in Geburtskliniken versuchen, junge Mütter in schwierigen Lebenssituationen zu betreuen. Diese Mitarbeiterinnen - meist sozialer Träger - sind gesondert geschult: Haben zum einen medizinische, zum anderen auch Qualifikationen im sozialpädagogischen oder psychosozialen Bereich. Statt acht Wochen, wie bei einer normalen Geburtshelferin üblich, begleiten sie junge Familien weit über die Zeit des Wochenbetts hinaus – bis zu einem Jahr. In Hamburg gibt es bereits 14 Einrichtungen mit Familienhebammen, sagt Gabriele Fuhrmann, Koordinatorin für Kinderschutz im Hamburger Bezirk Wandsbek:
    "Meine Erfahrung ist, dass die Familienhebammen einen sehr guten Zugang finden zu den Familien. Dass sie sehr gut in Anspruch genommen werden. Dass ein Vertrauensverhältnis besteht. Und dass es eine wirkliche Unterstützung bedeutet."

    Familienhebammen betreuen Risikofamilien direkt nach der Geburt, unterstützen sie in ihrem Alltag: Zeigen, wie die Kinder richtig gewickelt werden, wie man Fläschchen zubereitet. Und achten darauf, dass die Termine für die Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt eingehalten werden. Was für viele Eltern selbstverständlich ist, haben diese Eltern selbst nie gelernt. Gabriele Fuhrmann:

    "Es sind oft auch Mütter, die selber, ich sage mal, sehr bedürftig groß geworden sind. Die nicht so Ressourcen in ihrem Umfeld haben, dass eine Großmutter da ist und unterstützt. Oder 'ne Tante oder wer auch immer. Sondern die sind häufig auch alleine auf sich gestellt."

    Und anders als Mitarbeiter des Jugendamtes werden Familienhebammen von den Eltern nicht als Bedrohung, als Kontrolleure empfunden. Natürlich: Die Betreuerinnen sind nicht das Allheilmittel, künftig alle Mütter und Väter zu verantwortungsvollen Eltern zu erziehen, doch sie stellen eine wichtige Maßnahme dar. Vor allem, weil Familienhebammen nach Meinung von Sozialpädagogin Fuhrmann auch eine Brücke zum örtlichen Jugendhilfesystem bilden.

    "Das heißt, dass sie auch sagen, wenn es noch mehr Probleme gibt. Sie arbeiten ja in der Regel auch zusammen mit sozialpädagogischer Familienhilfe. Das heißt, auch da findet so eine Überleitung ins Jugendhilfesystem statt. Von daher ist es eine sehr wirksame Hilfe."

    Ursprünglich hatte der Gesetzentwurf vorgesehen, dass der Bund Familienhebammen vier Jahre lang finanziert. Dafür waren 30 Millionen Euro vorgesehen. Von 2016 an hätten dann die Bundesländer für diese Sozialleistungen aufkommen müssen. Das führte dazu, dass das Gesetz im Bundesrat zunächst abgelehnt wurde. Hamburgs SPD-Sozialsenator Detlef Scheele:

    "Die Länder hatten die Sorge, dass wenn es als Projektfinanzierung aufgelegt wird und in drei Jahren oder vier Jahren ausläuft, sie auf insgesamt 30 Millionen Euro sitzen bleiben. Und das ist eine Summe, die kein Bundesland in Deutschland gegenwärtig oder keine Kommune in Deutschland einfach verkraften kann, wenn es weiterfinanziert werden soll."

    So wurde nachverhandelt mit dem Ergebnis: Künftig will der Bund Familienhebammen also dauerhaft finanzieren und auch die Unterstützung von Netzwerken früher Hilfen weiter ausbauen: In den kommenden Jahren steigt der Zuschuss des Bundes sukzessive von 30 auf 51 Millionen Euro jährlich ab 2014. So scheint die Finanzierung der Maßnahmen gesichert. Detlef Scheele, Hamburger Sozialsenator:

    "Das ist ein großer Fortschritt für die Länder. Und der wird dazu führen, dass wir die frühen Hilfen einfach verstetigen können und eine bessere Verzahnung mit der Jugendhilfe hinbekommen."

    Nun geht es also um die Umsetzung des Bundesgesetzes in der Fläche. Scheele hat bereits angekündigt, das Angebot an Familienhebammen in Hamburg weiter auszubauen. Eine Maßnahme, die der Kinderarzt und Vorsitzende des Landesverbandes Hamburger Kinder- und Jugendärzte, Stefan Renz, durchaus begrüßt. Doch zeigt er sich auch recht kritisch, ob das allein reicht:
    "Die endgültige Planung, so wie wir sie vorgesehen hatten, dass in den einzelnen Bezirken dann Ansprechpartner sind, die die Strukturen vor Ort perfekt kennen, an die man sich wenden kann, um dann ganz kurzfristig und unkompliziert Hilfe zu bekommen, dieses wurde leider nicht implementiert. Auch weil dann Neuwahlen anstanden und auch weil das Geld nicht da war. Das heißt, es muss dort investiert werden, auch wenn die Kassen leer sind. Wenn man wirklich was bewegen möchte. Ich bezweifle, dass die Familienhebammen wirklich diese Lücke stopfen können."

    Mehr netzwerken also, einen Überblick schaffen, wer wo hilfebedürftig ist und wer welche Hilfe leisten kann.

    "Die Leute müssen miteinander reden. Das klappt mehr oder weniger gut. Doch da gibt es noch viel Verbesserungspotenzial."

    In Hamburg arbeite man bereits seit einigen Jahren daran, die Kommunikation und Zusammenarbeit im Jugendschutz zu verstärken, erläutert Wolfgang Hammer, Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendhilfe bei der Hamburger Sozialbehörde:

    "Wir haben ja sieben Bezirke. Und in jedem Bezirk eine Kinderschutzkoordinatorin. Oder einen Kinderschutzkoordinator, die dann auch jetzt schon kleine Netzwerke des Kinderschutzes gebildet haben, Kooperationen mit Schulen und dem Gesundheitswesen aufgebaut haben. Und die werden entsprechend verstärkt und auch im Leistungsumfang ausgeweitet werden."

    Eines dieser Bezirksnetzwerke leitet Gabriele Fuhrmann, die Kinderschutzkoordinatorin in Hamburg-Wandsbek:

    "Es fehlt uns im Moment allerdings noch der Gesundheitsbereich. Wir hätten gerne Ärzte dabei, Kinderärzte. Wir hätten gerne Hebammen dabei. Kinder und Jugendpsychiatrie. Und das ist bisher sehr schwierig."

    Denn hier stellt sich die Frage: Wer soll das bezahlen? Ärzte haben keine Möglichkeit, ihre Tätigkeiten im Rahmen der Netzwerkarbeit abzurechnen. Die Bundesländer sowie fast alle Experten hatten gefordert, dass sich auch die gesetzlichen Krankenversicherungen finanziell an dem Netzwerk-System beteiligen. Doch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr, FDP, lehnte das konsequent ab, stoppte sämtliche Initiativen. So sind Krankenversicherungen nach wie vor nicht zu Leistungen verpflichtet.

    An dieser Stelle ist auch mit dem neuen Kinderschutzgesetz kein Fortschritt erreicht worden. An anderer Stelle hat es bereits vorher Fortschritte gegeben, nicht nur in Hamburg. In Brandenburg etwa. In der Vergangenheit machte das Land mit ein paar schockierenden Fällen von Kindesmisshandlung auf sich aufmerksam.

    Dennis in Cottbus wurde über sechs Jahre lang vernachlässigt, gequält und nach seinem Tod 1991 jahrelang in einer Tiefkühltruhe versteckt.

    Pascal im Landkreis Märkisch-Oderland, noch nicht zwei Jahre alt, wurde 2003 vom Freund seiner Mutter ein Jahr lang so schwer misshandelt, dass er sein Leben lang nicht mehr sitzen und sprechen können wird.

    Der heftigste Fall: Eine Mutter in Brieskow-Finkenheerd bei Frankfurt Oder hatte zwischen 1988 und 2004 neun ihrer 13 Kinder nach der Geburt liegen gelassen, bis sie starben. Die Säuglingsleichen vergrub sie in Blumenkästen und im Garten.

    Die Aufmerksamkeit schärfen, Schwachstellen finden, lautete die Devise in Brandenburg. Bildungsministerin Martina Münch, selbst Mutter von sieben Kindern:

    "Wir können das nicht ausschließen, dass es immer wieder zu solchen schrecklichen Einzelfällen kommt. Aber wir sind sehr viel aufmerksamer geworden, sowohl was die Gesellschaft betrifft. Die Bereitschaft, das Jugendamt einzuschalten, ist sehr viel höher geworden. Und wir schauen sehr viel sensibler auch hin, wo tatsächlich ein Problem sein könnte."

    Hans Leitner, Diplompädagoge und Erzieher, hat für das Jugend- und Bildungsministerium alle verdächtigen Todesfälle von Kindern in Brandenburg über den Zeitraum von sechs Jahren untersucht und kommt auch zu einem selbstkritischen Schluss:

    "Was wir schon festgestellt haben, ist zum Teil das Unvermögen von Eltern oder Sorgeberechtigten mit Konflikten umzugehen, weil sie selbst keine entsprechenden Erfahrungen in der Kindheit gesammelt haben; ist zum Teil mangelnde Aufmerksamkeit und Umsicht von Nachbarn, Wohnungsbaugesellschaften, Handwerkern. Aber es passiert hier und da eben auch im professionellen Bereich, dass man Dinge übersieht, nicht rechtzeitig erkennt oder sie nicht richtig bewertet."

    Leitner ist jetzt Leiter der Fachstelle Kinderschutz, eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung, finanziert über Zuwendungen des Landes Brandenburg.
    Sie wurde 2006 als Konsequenz aus den Fällen gegründet, bei denen auch Ämter und Behörden versagt haben. Für Leitner ist Kinderschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

    "Tote Kinder, misshandelte Kinder, vernachlässigte Kinder haben wir bundesweit, haben wir weltweit. Also, ich glaube, das ist ein Phänomen auch zivilgesellschaftlichen Miteinanders."

    "Familien helfen – Kinder schützen", mit diesem Ziel hat die Landesregierung ein Programm zur Qualifizierung beschlossen.

    Die Fachstelle Kinderschutz macht dazu Angebote an die Träger der Kinder- und Jugendhilfe. Mitarbeiter in Jugendämtern, Kitas, Beratungsstellen, Horten oder Jugendclubs sollen für das Thema "Kinderschutz" sensibilisiert und zusätzlich qualifiziert werden.

    "Wir werden ja gerufen. Also, insofern ist das schon eine hohe Freiwilligkeit auf der Basis der Zusammenarbeit. Die Brandenburger Jugendämter haben Beratungskontingente, die sie nutzen können, und wir werden relativ regelmäßig und kontinuierlich auch angesprochen in vielerlei Problematiken. Es gibt Jugendämter, gerade wenn so strukturelle Entwicklungen auf der Tagesordnung stehen, da werden wir etwas dichter gerufen, wenn ein schwieriger Fall auftaucht, da werden wir gerufen, um zu vermitteln, um fachzuberaten ..."

    ... und die Fachstelle Kinderschutz hilft auch, die Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendhilfe mit anderen Bereichen wie Schule, Gesundheit und Polizei zu verbessern.

    "Schwieriger ist es eher für den Staat, sprich auch für das Jugendamt Kenntnis zu Informationen zu bekommen, die in Familien vorherrschen. Wie kommt die Information ins Jugendamt. Die Untersuchung der Todesfälle hat eigentlich gezeigt, dass in allen Fällen, die wir untersucht haben: in 27 Fällen irgendjemand hat gewusst, dass es dem Kind nicht gut geht, ist mit dieser Information aber nicht offensiv umgegangen. Also, die Frage der Sensibilisierung der Öffentlichkeit ist so ein Thema. Und da spielen die Medien natürlich, glaube ich, eine ganz pointierte Rolle."

    Unter der Internetadresse www.fachstelle-kinderschutz.de finden Fachkräfte eine virtuelle Brandenburgkarte. Diese gibt ihnen, aber auch interessierten Eltern, Kindern und Jugendlichen einen Überblick über wohnortnahe Hilfs- und Beratungsangebote.

    "Die Arbeitsteilung an sich, was den Kinderschutz angeht, haben wir ja im Artikel 6 Grundgesetz, mit der staatlichen Gemeinschaft. Das heißt also Kinderschutz ist Aufgabe aller, die im staatlichen Auftrag unterwegs sind. Also, die Kindertagesstätte, der Sportverein, die Schule, der Mediziner und so weiter."

    In Brandenburg bieten inzwischen 18 Netzwerke an 30 Standorten Schwangeren wie Müttern und Vätern umfangreiche Unterstützung an.
    Nach Angaben des Sozialministeriums begleiten neben den über 1.000 ehrenamtlichen Patinnen und Paten auch Kinderärzte, Gynäkologen, Hebammen und andere Partner mehr als 4.000 Familien.

    Durch das neue Kinderschutzgesetz erhält Brandenburgs 'Netzwerk Gesunde Kinder' eine dauerhafte finanzielle Unterstützung aus dem bundesweiten System der "Frühen Hilfen".
    Künftig können jetzt auch ehrenamtliche Strukturen mit niedrigschwelligen Angeboten, die für Brandenburgs Netzwerke typisch sind, einbezogen werden.

    Hans Leitner von der Fachstelle Kinderschutz:

    "Die Grundidee des Gesetzes ist, über frühe Hilfen möglichst rechtzeitig und professionell an schwierige Familiensituationen heranzukommen, um es gar nicht zum klassischen Kinderschutzfall kommen zu lassen, sondern eben im präventiven Bereich Familien unter die Arme zu greifen. Weil ich denke, das ist der beste Kinderschutz, Eltern zu helfen."

    Allerdings ist das genau die Schwierigkeit, wenn Eltern aus Verzweiflung, Überforderung oder möglicherweise sogar aus Boshaftigkeit nicht mit den Behörden zusammenarbeiten, sondern alles daran setzen, dass sie keine Akte beim Amt bekommen, dass vor allem ihre Kinder nicht als Fall auf den Schreibtischen der Sozialverwaltung landen.
    Sozialminister Günter Baaske:

    "Nach den jetzigen Kinderschutzregelungen dürfte es nicht passieren, dass ein Kind irgendwo durch die Lappen geht. Es gibt ja inzwischen Meldepflichten, wenn das Kind nicht in der Schule aufschlägt, es gibt Meldepflichten, wenn das Kind in der Schule keine Leistung zeigt, es gibt natürlich auch die moralische Verpflichtung von Eltern, aber auch von Lehrern und Erziehern wirksam zu werden, wenn sie sehen, dass das Kind Benachteiligung erfährt. Also, wenn Kinder die Leistungen nicht in Anspruch nehmen können, hat es in der Regel nicht die Ursache, dass jetzt eine Behörde versagt hat."

    Bildungsministerin Martina Münch sieht das anders, ihr reichen die bisherigen Maßnahmen nicht aus:

    "Wir erreichen derzeit etwa 50 Prozent der Kinder, die eben die Berechtigung haben, Zuschuss zum Mittagessen, Zuschuss zu Schulausflügen, zu Sportvereinen, zu Musikveranstaltungen zu bekommen. Und da müssen wir noch besser werden."

    Das Bundeskinderschutzgesetz bietet hier in Zukunft augenscheinlich eine weitere Möglichkeit. Es regelt, wie sogenannte Berufsgeheimnisträger einfacher von ihrer Schweigepflicht entbunden werden können, wenn sie einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung melden wollen.

    Bisher war die Rechtslage in den 16 Bundesländern unterschiedlich – jetzt dürfen beispielsweise Kinderärzte ein Jugendamt informieren, wenn sie - Zitat – "gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes erkennen." Im Wesentlichen formuliere der Gesetzgeber da allerdings die bestehende Rechtslage, bemängelt der Vorsitzende des Landesverbandes Hamburger Kinder- und Jugendärzte, Stefan Renz. Denn auch bislang durften Geheimnisträger laut § 34 Strafgesetzbuch das Jugendamt oder Strafverfolgungsbehörden informieren.

    "Für uns Kinderärzte kommen nicht viele neue Verbesserungen dazu. Das heißt, wir bewegen uns nach wie vor in einem Bereich der Rechtsunsicherheit. Vor allem was das Melden von Kindswohlgefährdung und Kindsmisshandlungen angeht."

    Zwar hat nun jeder, der beruflich mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt ist, einen Beratungsanspruch: Kann sich also, wenn er einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung hat, an eine "Kinderschutzfachkraft" wenden: Doch wer das konkret ist, und wie sie dem Arzt beispielsweise im Einzelfall weiterhelfen kann – das ist nicht geklärt.

    Die logische Konsequenz: Ärzte melden nach wie vor nur gesicherte Fälle. Außerdem fehlt ihnen in der Praxis der geregelte Austausch zwischen den ansässigen Kinderärzten. Der wäre jedoch wichtig, betont Renz. Denn nicht selten sei das "Ärztehopping" eine gezielte Strategie von misshandelnden Eltern.

    "Es ist nach unserer Einschätzung nicht klar genug geregelt, wann wir mit Kollegen sprechen dürfen und wann wir dann das Jugendamt einschalten dürfen. Es ist uns zugesichert, dass wir im Verdachtsfall anonymisiert – oder pseudonymisiert – die Daten an das Jugendamt übermitteln dürfen, um dann dort beraten zu werden. Aber wie das im Einzelnen funktionieren soll, steht für mich in den Sternen."