Ausführlich hat Stephan E. Polizisten in einer Vernehmung erzählt, wie er den Politiker Walter Lübcke im Juni 2019 erschossen haben will. Doch dieses erste Geständnis wiederrief er später, um eine ganz andere Tatversion zu berichten. Alle diese Schilderungen sind mit Kameras aufgezeichnet worden.
Auschnitte der Vernehmungen auf Youtube
Wer sich selbst einen Eindruck davon machen möchte, wie glaubwürdig der mutmaßliche Täter bei seinen Erklärungen wirkt, kann das nun auch auf Youtube tun: Das Format „Strg_F“, das zum öffentlich-rechtlichen Netzwerk Funk gehört, hat Ausschnitte aus den Vernehmungsvideos veröffentlicht – im Rahmen eines kommentierenden und einordnenden Beitrags. Die Quelle nennen die Macher nicht – das Material sei ihnen zugespielt worden.
Christian Schicha, Professor für Medienethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hält die Veröffentlichung der Videos noch während des laufenden Prozesses für falsch. Zum einen könnten Zeugen beeinflusst werden, zum anderen werde dem vermeintlichen Täter eine Bühne geboten, auf der er sich darstellen könne, sagt er im Dlf. Auch für die Angehörigen sei die Situation „hochgradig schwierig“. Sehr problematisch sei es auch, wenn sich herausstellen sollte, dass der vermeintliche Täter gar kein Täter sei und das Video weiter im Netz zirkuliere.
Natürlich sei das ein dramatischer Fall, der öffentliche Aufmerksamkeit und Aufklärung verdient habe, und es spreche nichts dagegen, darüber zu berichten, sagte Schicha. „Aber aus meiner Sicht gibt es keinen Grund, diese Ausschnitte zu zeigen, die eben auch verkürzen und insofern auch nur einen ganz kleinen Ausschnitt wiedergeben.“ Es seien zudem speziell sehr emotionale Szenen herausgegriffen worden, in denen Stephan E. beispielsweise geweint habe.
„Ich bin der Auffassung, dass man diese 25 Minuten auch ohne dieses Verhörvideo hätte gut füllen können und die notwendigen Informationen vermitteln können“, sagte Schicha. Er hielt den beiden verantwortlichen Journalisten aber zugute, dass sie sehr reflektiert an das Thema herangegangen seien. „Es spricht nichts dagegen, zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Prozess ein Ende hat, wenn ein Schuldspruch gesprochen worden ist, das dann auch entsprechend zu dokumentieren“, stellte er klar.
Macher betonen: Kein Propagandavideo
Die Macher des Beitrags argumentieren im Video selbst zum einen juristisch: Die Aufzeichnungen der Vernehmungen seien bereits in der Hauptverhandlung und somit in der Öffentlichkeit gezeigt worden – man greife dem Gericht also nicht vor. Eine moralische Überlegung sei gewesen, dass man dem mutmaßlichen Täter, einem Rechtsextremisten, mit der Veröffentlichung der Vernehmungsvideos keine Bühne bieten wolle. Stephan E. habe die Tat aber mutmaßlich im Verborgenen begangen, außerdem handele es sich nicht um ein Propagandavideo, sondern um ein Beweismittel. „Wir haben uns entschieden, euch das Video zu zeigen – auch, weil es schon jetzt ein zeitgeschichtliches Dokument ist“, heißt es in dem Beitrag.
Der Deutsche Strafverteidiger Verband sieht die Veröffentlichung dennoch kritisch. Sie unterlaufe die Rechte des Beschuldigten und könne möglicherweise Zeugen beeinflussen, sagte Bertil Jakobson, Vize-Präsident des Verband, der Deutschen Presse-Agentur.
Viel Lob auf Youtube
Auf Youtube wird das Video ebenfalls diskutiert. Vor allem geht es um die darin gezeigten Vernehmungen und Stephan F. selbst, aber auch um die Tatsache, dass „Strg_F“ die Aufnahmen öffentlich gemacht hat. „Danke, dass ihr das veröffentlicht. Tolle Arbeit“, schreibt eine Userin. „Das sind Bilder, die an die Öffentlichkeit gehören“, kommentiert ein anderer User.
„Ich sehe leider nicht, dass sie hier ‚tolle Arbeit‘ geleistet haben“, lautet wiederum ein kritischer Kommentar. „Vielmehr haben sie Stephan E. sich selbst darstellen lassen. So gewinnt man den Eindruck er sei ein Opfer von Merkels Politik und von islamistischen Anschlägen und der Mord sei für ihn quasi unausweichlich gewesen. Das hat für mich nichts mit gutem Journalismus zu tun.“