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Veröffentlichung des Grundrechte-Reports
Verschacherung von Grundrechten auf dem Marktplatz der Realpolitik

Es stelle sich die Frage, ob eine Aushöhlung von Grundrechten im Zeichen der Terror-Angst überhaupt effizient sei, sagte der Schriftsteller Ilija Trojanow im DLF zur Vorstellung des Grundrechte-Reports 2016. Er sieht die Gefahr, dass sie auf dem "Marktplatz der Realpolitik" verschachert würden.

Ilija Trojanow im Gespräch mit Dina Netz | 15.06.2016
    Exemplare des Grundrechte-Reports 2016 der Humanistischen Union liegen in Karlsruhe auf einem Tisch. Der Report beschäftigt sich mit dem Umgang mit Bürger- und Menschenrechten in Deutschland im Jahr 2015.
    Vorstellung des Grundrechte-Reports 2016 (picture alliance / dpa / Ralf Stockhoff)
    Dina Netz: Zwei Tote in Paris. 49 Tote in Orlando. Die jüngsten Terroranschläge in Frankreich und in den USA machen betroffen. Auch Politiker, natürlich. Die meinen aber oft, auf solche Gewalttaten irgendwie reagieren zu müssen, so auch diesmal. Innenminister Thomas de Maizière zum Beispiel hat die Deutschen zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen: Die Bevölkerung soll Hinweise geben, wenn sich Familienangehörige, Nachbarn oder Freunde radikalisieren. Das ist zumindest eine zwiespältige Aufforderung – das Bedürfnis nach mehr Informationen ist nachvollziehbar, trifft aber auf das Risiko des Denunziantentums.
    Die Autoren Annette Pehnt "Briefe an Charley" und Ilija Trojanow "Macht und Widerstand" zusammen mit Moderator Joachim Scholl auf unserer Deutschlandradiobühne bei der Frankfurter Buchmesse 2015. 
    Ilija Trojanow bei einer Veranstaltung des Deutschlandradios auf der Frankfurter Buchmesse. (Deutschlandradio / Selma Nayin)
    Dazu passt, dass heute der 20. Grundrechte-Report veröffentlicht worden ist. Das ist so eine Art alternativer Verfassungsschutzbericht, herausgegeben von acht Bürgerrechtsorganisationen. Und er zieht eine kritische Bilanz des Umgangs mit Bürger- und Menschenrechten in Deutschland 2015.
    - An dem Bericht beteiligt ist der Schriftsteller Ilija Trojanow, und ich habe ihn gefragt: Was genau kritisiert denn der Grundrechte-Report dieses Jahr?
    Ilija Trojanow: Es ist leider so, dass wir seit einiger Zeit Wesentliches aufgeben, nämlich Rechte, Grundrechte, Menschenrechte, um Überflüssiges zu erlangen, nämlich eine Illusion von Sicherheit und, wahrscheinlich noch viel gefährlicher, eine zunehmende Konzentration von Macht. Der Grundrechte-Report untersucht diese grundsätzliche Entwicklung anhand der verschiedenen Artikel des Grundgesetzes und zeigt auf, dass eigentlich viele dieser Rechte, die auf dem Papier stehen, in der Realität kaum noch wirklich existieren.
    Netz: Sagen Sie mal ein Beispiel. Zum Beispiel sieht der Bericht ja offenbar den Umgang mit Flüchtlingen sehr kritisch. Ich dachte, wir Deutschen wären da einigermaßen vorbildlich.
    Trojanow: Im Umgang mit Flüchtlingen - zum Beispiel man weiß nicht, ob das Lebensalter, was angegeben wird, auch immer stimmt. Also benutzt man ein medizinisch umstrittenes Verfahren, zu dem man die jungen Männer zwingt, nämlich den Penis zu vermessen, um angeblich herauszufinden, wie alt sie sind. Das führt natürlich zu sehr vielen Entwürdigungen und ist hoch umstritten. Grundsätzlich muss man sagen, dass natürlich das Asylrecht vor gar nicht mal so langer Zeit wirklich ein zentrales Grundrecht war. Das ist über verschiedene Phasen ausgehöhlt worden und jetzt streiten wir uns eigentlich nur noch über sichere Drittstaaten. Was völlig verschwunden ist, ist eigentlich das Recht auf die Intimsphäre, auf die Privatsphäre. Da ist der Grundrechtereport zurecht extrem kritisch. Die digitale Würde des Menschen wird täglich nicht nur angetastet, sondern abgetastet und durchgetastet. Und was jetzt vor allem 2015 evident geworden ist, ist, dass die Geheimdienste in keiner Weise demokratisch kontrolliert oder legitimiert werden. Da gibt es mehrere ausführliche Artikel. Die Spielregeln zwischen Geheimdiensten, wie die Regierung es sagt, wiegen offensichtlich schwerer als die Grundrechte. Und was der BND sich alles erlaubt hat als Mithelfer der NSA, dort kann man eigentlich nur fassungslos sein. Wäre der BND eine natürliche Person, wir hätten ihn schon längst wegen Spionage vor Gericht gestellt.
    Netz: Woher rührt denn jetzt dieses nicht verhältnismäßige staatliche Durchgreifen? Sie haben vorhin schon angedeutet, dass die Angst vor Terror da offensichtlich ein Katalysator ist. Oder fehlt es an Kontrollinstanzen?
    Trojanow: Macht ist eigentlich per se gierig
    Trojanow: Es gibt bei manchen Bereichen, zum Beispiel Geheimdienste, so gut wie gar keine Kontrollinstanzen. Man kann ja immer sagen, das ist Staatsschutz, deswegen höchste Geheimhaltungsstufe. Selbst jetzt bei den Klagen vor Karlsruhe müssen irgendwie alle, die mit verschiedenen, eh schon geschwärzten Berichten zu tun haben, noch eine persönliche Kontrolle über sich ergehen lassen. Das ist ja seit jeher der Fall.
    Was jetzt noch hinzukommt ist: Wir wissen ja seit Montesquieu, dass die Macht die Angewohnheit hat, ihre Kompetenzen immer erweitern zu wollen. Macht ist eigentlich per se gierig. Und wir haben jetzt aufgrund natürlich der Terrorangst es den Politikern und auch verschiedenen Institutionen der Exekutive leicht gemacht, diese Macht immer mehr auszudehnen. Wir erleben aber dieser Tage wie auch schon zuvor, dass es keineswegs so ist, dass diese Aufgabe von Rechten dazu führt, dass wir tatsächlich sicherer werden, sondern im Gegenteil. Die Frage, ist das überhaupt effizient, wird nicht gestellt. Aber das Leitmotiv dieses unglaublich wichtigen Berichtes ist ja, dass Menschenrecht und Grundrecht ja etwas ist, was unveräußerlich ist. Das heißt, es ist nicht irgendein Pfand, den wir jetzt auf dem Marktplatz der Realpolitik verschachern können, sondern es muss gewisse Positionen geben, die immer und grundsätzlich gelten.
    Netz: Wenn ich mir andere EU-Staaten ansehe, die im Moment im großen Stil Zäune bauen, um Flüchtlinge abzuhalten, zu ihnen zu kommen, auch sonst nicht besonders freundlich gegenüber Migranten sind, dann erscheint mir aber doch, dass man sagen kann, Deutschland steht noch ziemlich gut da, was den Umgang mit Grundrechten angeht, oder?
    Trojanow: Ja. Aber das ist ja genau der Grund, wieso dieser Grundrechte-Report so wichtig ist. Wir müssen unbedingt ankämpfen gegen diese Vorstellung, dass Menschenrechte so etwas wie ein Luxus sind. Und wenn der raue Wind wieder weht, dann müssen wir das einschränken.
    Netz: Das sagt der Schriftsteller Ilija Trojanow im Gespräch über den heute veröffentlichten Grundrechtereport.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.