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Verpfuschte Expedition zum Südpol

Der Engländer Robert Falcon Scott betrat vor 100 Jahren den Südpol – als Zweiter. Der Norweger Roald Amundsen war bereits vor einem Monat angekommen. Scotts Rückkehr endete tragisch und war geprägt von Fehlentscheidungen.

Von Mathias Schulenburg |
    Die ersten Spuren des norwegischen Konkurrenten Roald Amundsen, die der Engländer Robert Scott und seine vier Gefährten dicht am Südpol mit stockendem Atem erblickten, waren: eine schwarze, an einer Schlittenkufe befestigte Fahne, im Schnee die Abdrücke von Schuhen und Pfoten, und Hundehaufen.

    Am Tag darauf, am 17. Januar 1912, schleppten sich die Engländer weiter Richtung Südpol und fanden ein Zelt, darin ein Brief von Amundsen an König Haakon VII. und ein Schreiben für Robert Scott persönlich:

    "Lieber Kapitän Scott,
    Da Sie wohl der erste sind, der diese Gegend nach uns erreicht, bitte ich Sie freundlich, diesen Brief an König Haakon VII. weiterzuleiten. Wenn Sie irgendeinen Gegenstand in diesem Zelt verwenden können, zögern Sie nicht, das zu tun. Ich wünsche Ihnen eine sichere Heimkehr.
    Mit freundlichen Grüßen
    Roald Amundsen"


    Welche Schmach. An dem Punkt, den ihre Instrumente als eigentlichen Südpol auswiesen, rammten die Engländer noch ihre Fahne, den Union Jack, in den Schnee und machten ein trauriges Foto. Dann traten sie in größter Niedergeschlagenheit den Heimweg an, erschöpft, teils von Skorbut gezeichnet. Die Temperatur lag unter minus 30 Grad, der arktische Sommer war zu Ende und die Zeit wurde verzweifelt knapp. Gleichwohl: Am vergleichsweise milden Nachmittag des 7. Februar lud Scott noch 30 Kilogramm geologische Proben auf den Schlitten – Steine, die sich später als wertlos herausstellten. Die Mühe sollte wohl der Nachwelt zeigen, wie sehr er sich bis zuletzt der Wissenschaft verpflichtet gefühlt hatte. Der Unteroffizier Edgar Evans kam als erster zu Tode:

    "Er hat jeden Mut verloren und verhält sich wie ein altes Weib oder schlimmer. Er ist völlig entkräftet, und wie er die nächsten 400 Meilen durchstehen will – ich weiß es nicht",

    schrieb der Kamerad Edward Oates, dessen Füße bald darauf so schlimm erfroren, dass sie schwarz wurden. Am Morgen des 17. März kroch Oates aus dem Zelt in die Kälte, zum Sterben, und ward nicht mehr gesehen.

    Dann erfror ein Fuß Scotts, der danach kaum noch laufen konnte. Die Lage wurde aussichtslos. Vor einem neuen Sturm des arktischen Winters richteten Scott, Wilson und Bowers noch einmal ein Zelt auf, nur 18 Kilometer von der nächsten Basisstation entfernt. Die hätten Wilson und Bowers wohl erreichen können, aber – mutmaßt der in Sachen Scott wohl belesenste Autor, Roland Huntford:

    "Wilson und Bowers wurden überredet, sich mit ihm hinzulegen und auf das Ende zu warten [...] Wenn sie draußen umgekommen wären, wären sie und ihre Aufzeichnungen verloren gewesen. Im Zelt bestand die Chance, dass man sie findet und ihre Geschichte so vor dem Vergessen bewahrt würde."

    Tatsächlich wurden die Aufzeichnungen später geborgen. Scott hatte unter anderem geschrieben:

    "Wir zeigen, dass Engländer noch immer kühlen Blutes sterben und die Sache ausfechten können."

    Das war nicht allein imperialer Hochmut. Halb Europa dachte damals ähnlich. Der angesehene Schriftsteller Stefan Zweig etwa pries Scotts Tod so:

    "Nichts [...] erhebt dermaßen herrlich das Herz als der Untergang eines Menschen im Kampf gegen die unbesiegbare Übermacht des Geschickes ..."

    Erst Ende der 1970er-Jahre wurde Scott als Idol entzaubert. In seinem Buch "Scott & Amundsen" schilderte Roland Huntford Scott als katastrophalen Organisator. Allein der Transport: Schlittenhunde konnte Scott nicht leiden, Motorschlitten sollten es sein. Die versagten. Dann Ponys als Zugtiere. Die litten entsetzlich unter der Kälte und mussten Tier um Tier erschossen werden. Dann doch Hunde. Die wurden schließlich zurückgelassen und die Männer zogen die Schlitten selber. Es gab eine endlose Kette von Fehlentscheidungen.

    Selbst zur Entlastung Scotts geneigte Autoren kommen heute zu dem Schluss: Scott hatte die Expedition traumtänzerisch verpfuscht. Dafür aber beherrschte er die Schlagzeilen. Das überdehnte Empire brauchte einen Nationalhelden, und da war Scott, der Leidensmann, gerade recht.